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„Die Bilder verhüllter Frauen in den Universitäten erschüttern mich“

16.09.2021 - Interview

Staatsministerin Michelle Müntefering im Interview mit SpiegelOnline

Frau Müntefering, Afghanistan ist das beherrschende außenpolitische Thema in diesen Wochen. Mit dem Abzug ausländischer Soldaten wurde für die ganze Welt sichtbar, dass der Terrorismus dort nie besiegt wurde. Waren auch alle kultur- und bildungspolitischen Bemühungen der Deutschen im Land umsonst?

Gerade konzentrieren wir uns darauf, jenen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen, vor allem denen, die zuvor uns unterstützt haben. Und natürlich überlegen wir auch: Was bedeutet das alles für die Zukunft? Die Niederlage des politischen Westens ist auch eine Katastrophe für die Frauenrechte. Das treibt mich am meisten um.

Bei der Eröffnung des Goethe-Institutes in Kabul war 2003 betont worden, man wolle einen Beitrag zur Demokratisierung leisten. Schon 2017 wurde die Dependance geschlossen. Symbolisierte Afghanistan nicht schon vor Ihrem Amtsantritt das Scheitern der Kulturdiplomatie?

Zu meinen, dass man die ganz große Veränderung von jetzt auf gleich und durch Kulturpolitik bewirken kann, wäre naiv. Diesen schnellen Automatismus hin zur Demokratie gibt es nicht. Das ist ein Teil der Wahrheit. Aber zu glauben, man könne Veränderung mit Panzern bringen, das wäre fatal. Und glauben Sie mir, Kultur und Bildung sind eine Kraft und sie haben Kraft.

Wo sehen Sie die?

Eine ganze Generation von Frauen durfte Bildung erfahren, und viele dieser Frauen stehen jetzt auf und sagen, wir lassen nicht mehr andere über uns bestimmen und wir wollen auch die Zukunft unseres Landes mitbestimmen. Demokratie ist eben nicht nur eine Staatsform, sondern auch Lebensform – die Selbstbestimmung des Menschen, das bleibt richtig.

Wer in Afghanistan solche Ideen teilt, ist in Gefahr, viele wollen nur flüchten. Wurden Sie ganz direkt um Hilfe gebeten?

Ja, allein mein Team erhielt in wenigen Tagen Hunderte Bitten. Von Menschen, die in Afghanistan unterrichtet haben oder journalistisch tätig waren. Außerdem haben sich Frauenorganisationen gemeldet, die wirklich viel bewirkt haben in den vergangenen Jahren. Unser Netzwerk ist auch hier in Deutschland eng geknüpft. Ich habe den Wahlkampf für ein paar Tage beiseite geschoben und mich darauf konzentriert, dem Krisenstab zuzuarbeiten, mich mit meinem Team abzustimmen, Namen, Fälle weiterzugeben, dranzubleiben.

Was ist jetzt noch möglich?

Wir konnten als Auswärtiges Amt eine Liste von über 2000 besonders gefährdete Personen zusammenstellen, für die das Bundesministerium des Inneren Aufnahmezusagen gegeben hat. Wir versuchen Wege zu finden, den zivilen Flughafen zu nutzen. Aber natürlich geht es nicht nur um die, die raus wollen, sondern auch um die, die bleiben. Vor Ort droht eine Hungersnot. Schon jetzt stellt sich außerdem die Frage, was geschieht mit den Frauen, dann sind wir schnell wieder bei der Bildung, dürfen Mädchen weiterhin zur Schule gehen?

Haben Sie denn die Hoffnung, irgendetwas ausrichten zu können?

Das liegt ja nicht alleine an uns. Das wissen wir auch. In den Bildungseinrichtungen wurde durch die Taliban gerade der gemeinsame Unterricht verboten. Die Bilder der verhüllten Frauen in den Universitäten erschüttern mich.

Welche Rolle spielen, angesichts der Gefahr für die Menschen, die Fragen die nach den Kulturschätzen im Land?

Die Menschen stehen an erster Stelle, aber natürlich kommen in diesen Zeiten auch die Bilder der ersten Machtübernahme der Taliban wieder hoch. Da wurden Kulturgüter zerstört und zwar mit brachialster Gewalt. Es gibt Berichte, dass auch jetzt Kunstschätze geplündert wurden. Das macht mir große Sorgen. Wir werden sehr genau beobachten, wie mit dem Kulturerbe umgegangen wird. Im Nationalmuseum in Kabul liegt das Baktrische Gold, einer der größten Schätze der Menschheit. Der Direktor des Museums hat ihn vor Jahren vor den Taliban gerettet, nun gehört er zu denen, die flüchten konnten.

Die Deutschen investieren viel Geld in die Pflege kultureller Beziehungen, mehr als eine Milliarde im Jahr, sobald es politische Spannungen gibt, merkt man meistens, dass die Kultur keine Annäherung bringt. Das gilt ja auch für viele andere Länder.

Ich muss dennoch widersprechen, unsere Bemühungen waren noch nie so wichtig wie heute. Ohne Kulturpolitik wäre die Anzahl der politischen Krisenherde doch viel größer.

Der Petersburger Dialog wurde beispielsweise von deutscher Seite ausgesetzt, weil Russland Partnerorganisationen vor Ort als unerwünscht einstuft.

Der Umgang mit Krisen hat uns in den vergangenen Jahren herausgefordert. Das hatte ich, als ich anfing, in dem Ausmaß nicht erwartet. Wir haben dann die Wissenschaftsdiplomatie gestärkt, Schutzprogramme ausgebaut, für Wissenschaftler, Kulturschaffende, Menschenrechtlerinnen und Studierende. Und wir haben zum Schutz von Kulturgut gearbeitet. Die Krise ist zur neuen Normalität geworden. Darauf eine Antwort zu finden, ist jetzt eine grundsätzliche Aufgabe für die internationale Kulturpolitik.

Auch das ist nur bedingt möglich.

Ein Beispiel: Wir können in Syrien zurzeit den Wiederaufbau zerstörter Stätten nicht unterstützen, weil wir keine Partnerschaft mit dem aktuellen Regime eingehen wollen. Aber das heißt nicht, dass wir gar nichts tun können. Wir fördern stattdessen ein Projekt zweier deutscher Einrichtungen, die ein digitales Register der syrischen Stätten und Denkmäler erstellen. In der Zukunft können solche Daten für syrische Wissenschaftler hilfreich sein. Zu den politischen Krisen kommen die Naturkatastrophen, Brände, Hochwasser, da haben wir mit dem Deutschen Archäologischen Institut wiederum Programme zur sofortigen Rettung von Kulturgut entwickelt. Aber wenn wir schon über Krisen sprechen, möchte ich auch sagen, dass es auf der langen Linie zugleich eine andere, geradezu gegenläufige Tendenz gibt, die wir auch nicht vergessen sollten.

Welche?

Heute gibt es mehr Demokratie auf der Welt als vor 150 Jahren, mehr Alphabetisierung, weniger Kindersterblichkeit. Und: Niemand kann heute noch sagen, das ist irgendwo weit weg, das geht uns nichts an. Im 21. Jahrhundert fühlen wir uns einander näher – und das ist auch etwas Gutes, eine Chance.

Zeugt aber der Anspruch, wir müssten unser Bildungs- und Kulturverständnis exportieren, nicht auch von Überheblichkeit?

Nein! Überheblich wäre ein kulturelles Sendungsbewusstsein, das den Dialog erstickt. Wir wollen Verständnis füreinander entwickeln. Dass wir die Verantwortung sehen, die wir auf dieser Welt füreinander haben, ist nichts Verwerfliches. Ich bin wirklich überzeugt davon, dass wir das nur zusammen auf diesem Planeten hinkriegen.

Warum fangen wir aber nicht vor der Haustür an, diese Verantwortung zu übernehmen? Im wiederaufgebauten Stadtschloss, nur ein paar Schritte vom Außenministerium entfernt, eröffnen kommende Woche die ethnologischen Abteilungen – die auch koloniales Raubgut enthalten. Artefakte, die andere Staaten gerne zurück hätten.

Dass in vielen deutschen Museen noch solches Raubgut liegt, ist Teil unserer Geschichte, mit der wir uns alle mehr auseinandersetzen müssen. Deshalb haben wir ja die Aufarbeitung im Koalitionsvertrag ausdrücklich gefordert, und seither ist auch eine Menge geschehen. Da sind wir in der Außenpolitik schon weiter, als man das hier manchmal sieht.

Im Mittelpunkt der Debatte stehen die legendären Benin-Bronzen, von denen allein Berlin mehr als 500 besitzt, insgesamt befinden sich Tausende in deutschen Sammlungen.

Und die ersten Rückgaben an Nigeria sollen im kommenden Jahr erfolgen. Dennoch sind wir erst am Anfang. Ich bin auch hier für ein Miteinander. Deswegen haben wir mit der Beauftragten für Kultur und Medien, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, zehn Museen sowie einem internationalen Beraternetzwerk ein Programm zur Ausbildung künftiger Museumsmanager in Deutschland und Afrika gestartet.

Ausbilden sollen auch die Deutschen, deren Vorfahren die Kulturgüter einst geraubt haben?

Sie können doch den heutigen Museumsmitarbeitern nicht pauschal unterstellen, dass sie eine kolonialistische Haltung haben. In unseren Modulen gibt es eine europäische wie eine afrikanische Perspektive, denn es geht uns ja um gemeinsames Lernen und um Veränderungen – auch im europäischen Denken und Handeln!

Neuerdings wird tatsächlich immerhin eingeräumt, dass einiges zurückgegeben werden muss. Wäre die komplette Rückgabe nicht die einfachste, ehrlichste und effektivste Form der auswärtigen Kulturpolitik?

Was die Benin-Bronzen angeht, ja: Rückgaben sind richtig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Restitutionen nicht immer die alleinige Lösung sind, denn es geht auch hier um den notwendigen Lernprozess, auch deshalb ist es wichtig, einige solcher Kulturgüter – mit der entsprechenden Kontextualisierung – hier zu zeigen. Darüber sind wir uns auch mit der nigerianischen Seite einig. Wie: Darüber werden wir uns in den nächsten Wochen und Monaten verständigen.

Afrikanische Länder sind ohne Anschauungsmaterial ihrer Geschichte, weil das meiste in europäischen Museen liegt.

Ja und wir machen uns oftmals nicht bewusst, was das für die nachwachsenden Generationen in Afrika bedeutet, hinsichtlich ihrer Traditionen und Identität. Wir dürfen den Staaten jetzt nicht vorhalten, sie besäßen gar keine Museen, sondern müssen ihnen helfen, die Räume zu schaffen, in denen die Objekte ausgestellt werden können. Deswegen gründen wir zum Beispiel eine Museumsagentur.

Im Auswärtigen Amt sind Sie die erste, die die Kultur als Staatsministerin anführt. Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger hatten diesen hohen Rang nicht. Und doch scheint sich ihr Job eher im Hintergrund abzuspielen – Politikerinnen und Politiker zieht es aber doch meist in den Vordergrund.

Ich habe das schönste Amt, noch vor Papst!

Sie stehen als Staatsministerin auf einer Stufe mit Monika Grütters, die für die inländische Kultur zuständig ist – die Filmpreise verleiht und über rote Teppiche schreitet, die Fördergelder vergibt und von den Feuilletons viel stärker wahrgenommen wird.

Da hält sich mein Ego in Grenzen. Es geht nicht um Show, sondern um die Frage, wie wir in der Welt mehr Verständnis füreinander schaffen können. Deswegen habe ich ja nicht nur die Zuständigkeit für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, sondern auch für die Afrika-Politik und engagiere mich international für Frauenrechte. Aber abgesehen davon: Die Internationale Kulturpolitik zu stärken war eine gute, eine richtige Entscheidung. Davon wird viel bleiben. Unabhängig davon, wohin mich mein Weg führt.

Wie haben Sie als junge Politikerin wiederum das Amt geprägt?

Klar macht es immer noch einen Unterschied, ob bei diplomatischen Gesprächen etwa eine Frau oder ein Mann das Land vertritt. In der Außenpolitik gibt es nach wie vor zu wenig Frauen. Wenn eine Generaldebatte der Vereinten Nationen stattfindet, dauert es schon mal zwei Tage, bis eine Frau spricht. Erst sind die Staatschefs an der Reihe, fast ausnahmslos Männer. Friedensverträge sind aber stabiler und nachhaltiger, wenn Frauen mitbestimmen. Das müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

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Interview: Felix Bohr und Ulrike Knöfel
spiegel.de

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