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Rede von Staatsministerin Michelle Müntefering zum 6. Jahrestag des Beginns der Genozid Kampagne gegen die Jesidinnen und Jesiden in Irak

03.08.2020 - Rede

„Das soziale Gefüge einer ganzen Gesellschaft ist zerstört worden.“ Liebe Nadia, dies waren Deine Worte, als Du im April 2019 während des deutschen Vorsitzes den Sicherheitsrat unterrichtet hast. Du hast einen Bericht über die furchtbaren Verbrechen gegen die Jesiden in Irak gegeben, der das Blut in den Adern gefrieren lässt. Deine Worte haben sich tief in unser Gedächtnis eingegraben.

Liebe Nadia, wir hatten im Oktober letzten Jahres Gelegenheit, uns in New York persönlich zu treffen, wo wir über Gewalt gegen Frauen in Konflikten sprachen. Seit damals hat sich die Welt tiefgreifend verändert.

Aber während die internationale Aufmerksamkeit der Welt sich auf die COVID-19-Pandemie konzentriert, gehen die Konflikte unverändert weiter. Und sexuelle Gewalt – besser gesagt: sexueller Terror – werden noch immer als Mittel eingesetzt, um Gesellschaften massiv zu beschädigen. Wir sehen uns gerade heute mit düsteren Realitäten konfrontiert: Sechs Jahre nach der Massenverfolgung durch Da’esh leiden die Jesiden immer noch unter den Folgen.

Die Bedrohung durch Da’esh lauert noch immer im Hintergrund. Sie ist noch nicht überwunden.

Und die jesidische Gemeinschaft sieht sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Es liegt an uns, sie nicht zu enttäuschen, sondern ihr dabei zu helfen, sich eine bessere Zukunft aufzubauen. Ich bin daher sehr dankbar für die heutige virtuelle Veranstaltung, da sie ein Schlaglicht auf eine Situation wirft, die die Welt nicht vergessen darf!

Tausende Jesiden wurden ermordet oder vertrieben. Frauen, Mädchen und Jungen wurden versklavt und sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt in großem Maßstab ausgesetzt. Einmal mehr sind es Frauen und Kinder, die am stärksten gefährdet waren und sind. Fast 3.000 Menschen werden immer noch vermisst – vermisst von ihren Familien, ihren Eltern, ihren Großeltern, ihren Kindern und ihren Geschwistern, die nicht einmal wissen, was aus ihren Lieben geworden ist.

Sechs Jahre später sind wir heute hier, um Bilanz zu ziehen, was die Völkergemeinschaft getan hat und was noch zu tun bleibt, um das Leiden der Jesiden zu beenden und den Überlebenden Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Und ich möchte ganz klar sagen, dass die wichtigste Voraussetzung dafür darin besteht, die Täter und das von Da’esh installierte Terrorregime ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Straflosigkeit stellt ein grausames Unrecht dar. Dem müssen wir ein Ende setzen. Wir müssen erreichen, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

Gerechtigkeit und Rechenschaftspflichtigkeit sollten keine abstrakten Konzepte sein, die verwirklicht werden oder auch nicht, je nach politischer Konjunktur. Die Überlebenden haben ein Recht auf Gerechtigkeit und darauf, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Heute geht es um Resultate.

Deshalb fordern wir Ermittlungen, faire Gerichtsverfahren, zeitnahe Urteile und deren vollständige Umsetzung.

Die Ermittlungsgruppe UNITAD sammelt überall in Irak Beweise, um die Grundlage dafür zu schaffen, dass die für die unsäglichen Verbrechen gegen die Jesiden Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden – Verbrechen, die möglicherweise sogar als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord einzuordnen sind.

Deutschland unterstützt uneingeschränkt die bemerkenswerte Arbeit von UNITAD.

Das deutsche Recht anerkennt das Weltrechtsprinzip für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord als geltendes Völkerrecht.

Seit 2014 untersuchen deutsche Strafverfolgungsbehörden auf dieser Grundlage von Da’esh in Irak und Syrien begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Ermittlungen haben bereits zu einigen Strafverfahren geführt. Ihr Schwerpunkt liegt auf den gegen jesidische Frauen und Mädchen begangenen Verbrechen.

Derartige Strafverfahren beweisen, dass Überlebende auch aus einer Entfernung von Tausenden von Kilometern von dem Ort, wo die Verbrechen begangen wurden, Gerechtigkeit erlangen können.

Diese Bemühungen sind zwar kein Ersatz für eine Strategie zur Herstellung von umfassender Gerechtigkeit für die Opfer von Da’esh, wir werden aber dennoch den Kampf gegen Straflosigkeit auf diese Weise unterstützen, und ich fordere alle Staaten auf, alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel zu nutzen, um dem Zustand der Straflosigkeit ein Ende zu setzen.

Mein Land bekennt sich nach wie vor uneingeschränkt zu seiner Verantwortung für die Jesiden in Irak und Syrien. Viele jesidische Familien haben in Deutschland Asyl erhalten und eine neue Heimat gefunden.

Sinjar, wo über 76 Massengräber entdeckt wurden, ist eine Schwerpunktregion für deutsche Stabilisierungs- und Wiederaufbauprojekte in Irak. Wir wissen, dass wir das Leiden nicht ungeschehen machen können, ich glaube jedoch, dass die internationale Gemeinschaft das Trauma lindern kann, an dem die jesidische Gemeinschaft noch immer leidet.

Wir können ihnen durch die Stärkung und Einbeziehung ihrer Gemeinden eine Zukunftsperspektive erschließen. Wir brauchen einen Ansatz, der sich auf die Überlebenden konzentriert. Dies, liebe Nadia, ist der Kern Deiner Initiative.

Wir müssen vor Ort handeln, um die freiwillige Rückkehr der Vertriebenen in Sicherheit und Würde zu ermöglichen.

Deshalb arbeiten wir eng mit UN-Behörden zusammen, indem wir Sprengfallen beseitigen, Schulen wiederaufbauen und beispielsweise Kleinstunternehmer unterstützen und die Polizeiarbeit in den Gemeinden stärken. Darüber hinaus ist die Förderung der Frauenrechte eine der wichtigsten deutschen Prioritäten. Und dies, liebe Nadia, ist auch der Fokus Deiner Initiative. Ich bin froh, dass wir einen wesentlichen Beitrag zur Behandlung traumageschädigter Überlebender leisten können. Insbesondere bilden wir Frauen und Mädchen in Lagern für Binnenvertriebene als Traumaberaterinnen aus.

Meine Damen und Herren,

dies schulden wir den Opfern. Wir werden sie nicht vergessen. Nadia Murad hat ihnen eine Stimme und ein Gesicht gegeben. Was wir brauchen, ist Aussöhnung, damit die Wunden heilen können, sowie Gerechtigkeit für die Überlebenden.

Liebe Nadia, es ist mir eine Ehre, dass Du heute wieder zu uns sprichst. Es ist wunderbar, dass Du Deine Arbeit fortsetzt und dass Du ein Netzwerk für Frieden und Stärkung der Gemeinden aufgebaut hast.

Wir leben in Zeiten, in denen die Zivilgesellschaft handeln muss. Sie ist der Lebensnerv der Demokratie. Bundesminister Heiko Maas sendet seine besten Wünsche, und ich hoffe, auch von Ihnen allen bald wieder zu hören.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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