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Rede von Staatsministerin Müntefering zur Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Völkermords von Srebrenica

09.07.2020 - Rede

Es gibt sie. Die Namen, die uns zusammenzucken lassen, weil sie Unfassbares zu einem einzigen Wort gerinnen lassen. Namen, die tausendfaches Leid in wenigen Buchstaben in sich bergen. Namen, die Erinnerung und Mahnung sind. Srebrenica ist so ein Name.

Er hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Er steht für den tausendfachen Mord an muslimischen Jungen und Männern.

Und auch für die systematische Vergewaltigung unzähliger Opfer, die meisten von ihnen Frauen und Mädchen.

Was vor 25 Jahren in und um Srebrenica geschah, macht uns noch heute betroffen und fassungslos.

Die Verbrechen, die damals begangen wurden, waren ein Menschheitsverbrechen. Srebrenica steht für ethnische Säuberung, für Plünderungen, Vertreibungen, Folter, Mord und Massenvergewaltigungen, für eine entsetzliche Spirale der Gewalt und Gegengewalt.

Verehrte Damen und Herren,
Wer hätte geahnt, dass 50 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei erneut ein Völkermord die Erde Europas mit Blut tränken würde? Gerade hier, wo es doch die meisten gemischten Ehen zwischen den verschiedenen Volksgruppen im gesamten ehemaligen Jugoslawien gab?

Es ist verstörend zu sehen, wie wenige Jahre genügten, um aus einem friedlichen Zusammenleben einen Bürgerkrieg entstehen zu lassen; wie der Nationalismus langsam in die Sprache und das Denken einsickerte, sich dort immer mehr anreicherte, und sich schließlich der Hass gewaltsam Bahn brach.

Srebrenica erinnert uns daran: Frieden ist nicht selbstverständlich. Wenngleich es uns manchmal, in Friedenszeiten, doch so erscheinen mag. Es ist nicht so.

Willy Brandt sagte 1992, kurz vor seinem Tod und drei Jahre vor Srebrenica: „Unsere Zeit steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten – zum Guten und zum Bösen. Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer“.

Diese Worte sind vielleicht die wichtigste Überlieferung seines Lebens, das von den Erfahrungen von Krieg und Flucht geprägt war. Ich bin überzeugt, er hatte recht. Wir dürfen Frieden und Zusammenhalt nicht als gegeben oder selbstverständlich ansehen.

Wir dürfen nicht passiv dabei zuschauen, wie sich Nationalismus ausbreitet.

Wir müssen vielmehr aktiv für den Frieden eintreten. Dazu dürfen wir nicht die Illusion haben, es wird schon nicht so schlimm.

Auf dem Balkan, aber auch an vielen anderen Orten auf der Welt haben wir gesehen, was passiert, wenn Nationalismus langsam, aber eben sehr stetig das Miteinander vergiftet. Am Anfang merkt man es kaum.

Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es kippt, an dem Ressentiments in Hass umschlagen und Hass zu Gewalt wird.

So weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Sondern es ist unsere Verantwortung, Gutes zu bewirken.

Meine Damen und Herren,
Frieden und Zusammenhalt können nur dort gedeihen, wo die dunklen Taten der Vergangenheit aufgearbeitet und von Versöhnung begleitet werden.

Die Anerkennung von Verbrechen und Verantwortlichkeit ist der erste Schritt hin zur Versöhnung.

25 Jahre nach Srebrenica gibt es noch immer Streit über die Einordnung der Verbrechen. Obwohl es klare internationale Rechtsprechung gibt, werden die Gewalttaten immer noch nicht allgemein als Völkermord anerkannt. Selbst in Bosnien und Herzegowina wird der Völkermord von einigen geleugnet.

Und es gibt immer noch Menschen, die mit einer spalterischen Rhetorik das vermeintlich Trennende künstlich in den Vordergrund rücken, um daraus politisches Kapital zu schlagen; obwohl doch im täglichen Leben der Menschen die Gemeinsamkeiten, die Sorgen und Nöte des Alltags, der Wunsch nach einer besseren Zukunft so viel größer sind.

Versöhnung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und zu unserem Glück gibt es diejenigen, die Gutes bewirken, die den Frieden nicht für selbstverständlich nehmen, die für Verständigung arbeiten.

Ich habe großen Respekt vor all den Menschen in Bosnien und Herzegowina und auf dem gesamten westlichen Balkan, die sich dieser Aufgabe angenommen haben; die vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die an das Leid der Opfer erinnern und gleichzeitig für Versöhnung eintreten. Sie verdienen Unterstützung.

Denselben Mut wünsche ich den politischen Akteuren. Es braucht Mut, sich dem geschichtlichen Erbe zu stellen und gemeinsam die gesellschaftliche Aufarbeitung zu unterstützen.

Und ich hoffe, dass auch die juristische Aufarbeitung der Verbrechen weitergeht und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Denn auch nach so vielen Jahren mussten sich noch immer nicht alle Täter für ihre Vergehen vor Gericht verantworten.

Es muss uns beschämen, dass vielen Opfern und ihren Familien dieses Recht auf Urteil und Verurteilung noch immer nicht gewährt wurde.

Die juristische Aufarbeitung ist essentiell; ebenso wie die gesellschaftliche Versöhnung eine wichtige Voraussetzung ist - für eine friedliche und stabile Entwicklung von Bosnien und Herzegowina und der gesamten Region auf dem Weg in die Europäische Union.

Verehrte Damen und Herren,
die Geschichte der EU ist eine Geschichte der Versöhnung nach Jahrhunderten erbitterter Kriege. Das wünschen wir uns auch für den Westlichen Balkan.

Die weitere Heranführung Bosnien und Herzegowinas an die EU wollen wir daher auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unterstützen.

Für mich besteht kein Zweifel, dass die Zukunft Bosnien und Herzegowinas und der anderen Westbalkanstaaten in der Europäischen Union liegt. Zum Friedensprojekt Europa gehört auch der Westliche Balkan.

Meine Damen und Herren,
Nach der Barbarei der Nazizeit hatte sich Europa das Versprechen gegeben: „nie wieder“.

Dennoch ist Srebrenica geschehen. Für uns alle heißt das, wachsam zu sein, Frieden nicht für selbstverständlich zu nehmen; Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen.

Denn weltweit und auch in Europa zeigt sich erneut das hässliche Gesicht des Nationalismus. Immer mehr Staaten schotten sich nach außen ab und schränken nach innen Freiräume ein. Populisten versuchen, Ängste zu schüren und daraus politisches Kapital zu schlagen.

Dem müssen wir uns als Demokraten entgegenstellen.

Wir müssen dem Populismus die Kraft der Vernunft entgegensetzen. Wir müssen Freiräume offenhalten. Wir müssen Multilateralismus und internationale Zusammenarbeit verteidigen.

Und: Wir müssen Solidarität in Europa leben. Gerade jetzt.

Für mich heißt „Nie wieder“: gegen Hassreden und die Herabwürdigung anderer Menschen einzutreten, in welcher Gestalt auch immer sie auftritt – als Nationalismus, Rassismus, Sexismus, als Antisemitismus, Islamophobie oder Homophobie.

„Nie wieder“ heißt: eine Zukunft des friedlichen Miteinanders aktiv zu gestalten.

„Nie wieder“ heißt: als globale Gemeinschaft gemeinsam an den großen Herausforderungen unserer Zeit zu arbeiten.

„Nie wieder“ heißt, das Versprechen, auf dem Europa ruht, immer wieder neu mit Leben zu füllen.

Das ist unser aller Auftrag und unsere Verantwortung.

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