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Grußwort von Staatsministerin Müntefering zur Eröffnung der Ausstellung „Wendejahre“ von Daniel Biskup in Augsburg

13.04.2019 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Als Sie vor gut einem halben Jahr im Bundestag zum ersten Mal Ihre Fotos vor mir ausgerollt haben, war ich überwältigt.

Denn auch wenn sich, wie Susan Sonntag sagte, „die Erinnerung nicht vom Schauplatz des erinnerten Geschehens lösen lässt“ (man die Wirkung von Bildern also nicht überschätzen darf), so gleicht Ihre Arbeit doch der einer Zeitmaschine.

Diese kleine Zeitmaschine, die Sie so selten aus den Händen legen, fährt aber nicht mit Atomenergie, wie es der Junge „Marty“ im Film „Zurück in die Zukunft“ vermutet.

Ihr neuestes Modell funktioniert mittlerweile mit Lithium-Ionen-Akkus - und doch waren Sie wahrscheinlich einer der letzten Fotografen, die auf digitale Fotografie umgestellt haben. Das allerdings war erst viel später.

Heute haben Sie Ihre Zeitmaschine eingestellt auf „Deutschland 1990-1995“. Was für eine spannende Phase in der Geschichte unseres Landes.

Sie nehmen uns mit in die Zeit vor 30 Jahren. Sie fotografieren den Alltag der Menschen und damit scheinbar Alltägliches.

Sie tun das mit dem Handwerk eines Reporters, der sich den Blick und die Neugier auf das Leben bewahrt hat und sich nicht zufrieden gibt, mit dem bloßen Bebildern einer Geschichte, sondern sie festhält. So sind Sie heute ein Chronist deutscher Nachkriegsgeschichte. Sie haben mit Ihrer Arbeit wahrlich Gutes geleistet. Danke dafür.

1990 war ich gerade einmal zehn Jahre alt und wuchs im Ruhrgebiet auf. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubte. Und doch kann ich mich gut erinnern. Ich hatte damals noch einen Teddy - und wie alle kleinen Mädchen habe ich gerne frisiert.

Dem Teddy habe ich dabei das Fell kurz geschnitten, danach hatte er einen Fleck auf der Stirn. Ich nannte ihn: Gorbatschow! Deswegen weiß ich heute - der Mauerfall war mein erstes politisches Erlebnis. Was danach geschah, das zeigen Sie uns, Herr Biskup, mit dieser Ausstellung.

Unter den Motiven: Berlin Mitte, wo ich heute teilweise lebe, damals in maroder Bausubstanz mit grauen Fassaden, in die in Gestalt greller Werbeanzeigen langsam der Kapitalismus einsickert.

Leere Friseur-Salons, Demonstranten für und gegen die Wiedervereinigung, einen Künstler, der ein Werk seines Lehrers an die East-Side Gallery malt - das Werk, das von Johannes Meissel, das in der DDR zensiert wurde.

Sie zeigen nicht Berlin allein, sondern auch die Welt darum herum, doch bleibt Berlin eines Ihrer wichtigen Motive - die deutsche Hauptstadt, die noch keine war und nun wieder werden sollte. Oder doch nicht?

Die Diskussionen um Berlin als Hauptstadt begannen unter neuen Vorzeichen - vor allem in der Bonner Republik. Man hatte sich dort ganz gut eingerichtet, im heimeligen Bonn. Politiker ebenso wie Journalisten. Man traf sich in der Eckkneipe und schrieb sich Briefe. Wenn es mal ganz schnell gehen musste, durfte es auch ein Fax sein.

Doch: Es war nicht nur die Bequemlichkeit der idyllischen Hauptstadt in Nordrhein-Westfalen, die aus den Diskussionen der Abgeordneten sprach, sondern es wurden durchaus auch außenpolitische Überlegungen angestellt. Man fragte sich, wie die baltischen Staaten auf die rasche Entwicklung in Deutschland reagieren würden. Zudem wurden Bedenken laut, ob eine Hauptstadt Berlin nicht einer Vereinnahmung des Ostens Deutschlands gleichkäme.

Für meine Generation klang das eher abwegig. Doch wir waren noch zu jung und brauchten noch einige Jahre, bevor wir politisch erwachten.

Die Generation, die als junge Wilde auf den Bildern zu sehen ist, verkörperte den Geist der Zeit.

Sie waren im Osten des Landes in einem abgeschlossenen Land aufgewachsen, und hatten den Mauerbau selbst schon nicht mehr miterlebt.

Im Westen wie Osten hörte man die Ärzte oder die Toten Hosen. Es war die Zeit des vereinten Anti-Establishments. Ob Punks, Skin-Heads, oder Gothik-Szene - man war dagegen. Und wohnte billig. Am Kollwitz-Platz für 90 Mark. Stocher-Ofen inklusive. Die illegalen Partys in Berliner Clubs wurden legendär. Und leider: Ich war immer noch zu jung, um dabei zu sein.

Ihre Bilder, Herr Biskup verklären aber die Vergangenheit nicht, in der für viele so plötzlich alles da war und in der doch eine Ordnung zerbrach.

Es gibt da ganz am Anfang eine Doppelseite in Ihrem Buch: Die Nacht des 3. Oktobers 1990. Die Menschen stehen vor dem Reichstag.

Hunderttausende Berliner feiern den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Ein alter Mann steht dort, wirkt fast erleichtert - als wäre ein langer Sieg errungen, all dies in Mitten eines Meeres aus Fahnen und Lachen. Ein Meer der Hoffnung. Endlich in Freiheit vereint.

Aber auch große Unsicherheit ist zu sehen, Unsicherheit darüber, was die Zukunft bringen mag, was sich nun verändern würde, bis ins Privateste, Wohnen, Arbeit, Leben hinein. Welche Rolle würde ein wiedervereintes Deutschland zukünftig in Europa einnehmen? Das fragten sich nicht nur Deutsche.

Auf der anderen Seite: Gegenüber im Reichstag besiegeln Rita Süssmuth und Lothar De Maiziere die Wiedervereinigung in der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Volkskammer. Daneben steht Helmut Kohl. Vor 30 Jahren war jener Bundeskanzler, von Ihnen so oft so wunderbar porträtiert, Teil einer Generation, die Krieg, Vernichtung und Verderben noch erlebt hatte und erleiden musste, wohin der Nationalismus in Europa führt.

Sehr geehrter Herr Biskup, verehrte Damen und Herren,
wie man nach einer Reise irgendwann wieder Nachhause kommt, kommt man nach einer Zeitreise zurück ins Heute.

30 Jahre später, ist das geeinte Deutschland wieder in der Mitte Europas angekommen. Berlin mit seiner Weltoffenheit, seiner Geschichte und (ich hoffe, das darf ich hier in Augsburg sagen) seiner ihm eigenen preußischen Kreativität, ist heute der beste Botschafter dieses Landes.

Doch wir stehen einmal mehr vor - oder besser gesagt inmitten - eines großen Wandels. Wieder gibt es Unsicherheit, auch Unzufriedenheit.

Obgleich Deutschland eines der sichersten und wirtschaftsstärksten Länder ist, ist die Einheit noch nicht vollendet. Und das ist, neben den ganz praktischen Problemen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, auch eine kulturelle Frage.

Ich meine: Auch ein zuweilen mangelndes Bewusstsein der Westdeutschen gegenüber der Lebensleistungen und Qualitäten in Ostdeutschland hat dazu einen Teil beigetragen. Sicher aber auch die Veränderungen der staatlichen Ordnung mit abhängiger Beschäftigung und großen - auch konkreten Rechtsunsicherheiten - für viele Menschen in der Nachwendezeit.

Als Teenager, etwa 1995, dem Jahr in dem diese Bilder enden, habe ich mich oft gefragt, warum es keine neue Strophe, keinen Text der Einheit für die deutsche Nationalhymne gegeben hatte. Ein solches Symbol, die Melodie für den Aufbau Ost, fehlte mir. Bis heute.

Die Steine sind abgetragen, und doch gibt es noch zu oft Mauern in den Köpfen. Sie zu überwinden ist, auch angesichts eines aufkommenden Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa, die Herausforderung meiner Generation, die nun Verantwortung übernimmt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Nachkommen, die jungen Erwachsenen heute, kennen kein anderes Deutschland und kein anderes Europa als dieses.

Umso mehr ist es ein Auftrag für die Zukunft, wenn wir heute zurück blicken.

Die Bilder eines Deutschlands in 30 Jahren können wir mitbestimmen: Indem wir heute etwas tun.

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