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Ohne Erinnerung keine Zukunft

15.11.2019 - Namensbeitrag

Staatsministerin Michelle Müntefering zum 135. Jahrestag der „Kongo-Konferenz“.

Vor 135 Jahren, am 15. November 1884, begann die „Kongo-Konferenz“ in Berlin, bei der die kolonialen Großmächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten. Einflusssphären wurden festgelegt und gemeinsame Regeln zur „Besitzergreifung“ vereinbart. Die tiefgreifenden Folgen sind bis heute allgegenwärtig. Doch die koloniale Vergangenheit war seitdem ein blinder Fleck in unserem Gedächtnis. Viel zu lange haben wir diesen Teil der Geschichte verdrängt. Dabei sind wir umgeben von Relikten jener Zeit, nicht nur in den ehemaligen Kolonien, sondern auch hier in Deutschland.

Die Spuren des Kolonialismus begegnen uns in den Vitrinen und Depots unserer Museen als vermeintlich exotische Objekte aus fernen Ländern, in Denkmälern und Straßennamen in unseren Städten, die den Kolonialisten gewidmet sind. Auch in unserer Sprache findet sich das Erbe der Kolonialzeit unreflektiert wieder - wie etwa dem sprichwörtlichen „Platz an der Sonne“.

Was manche Kinder der 80er Jahre, meine Generation in Deutschland, für eine Erfindung der Fernsehlotterie hielten, stammt in Wirklichkeit vom damaligen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und späteren Reichskanzler des Deutschen Reiches. Mit dem Ruf nach dem Platz an der Sonne formulierte Bernhard von Bülow in einer Reichstagsdebatte 1897 im Zusammenhang mit der deutschen Kolonialpolitik auch das deutsche Weltmachtstreben.

Denn in den Schulbüchern wurde zwar die Karikatur Bismarcks, der mit dem Messer den „Kuchen“ Afrika teile, gezeigt, viel tiefer jedoch ging die Auseinandersetzung im Geschichtsunterricht hingegen nicht. Auch in den deutschen Museumsarchiven wurde sie zu lange vernachlässigt.

Zur Aufarbeitung gehört deswegen gerade auch eine Entkolonialisierung unseres Alltagsdenkens. Immer noch sind die Begriffe „Afrika“ und „Afrikaner“ verbunden mit tiefsitzenden Vorurteilen und vereinfachenden Kategorisierungen, die kolonialen Denkmustern entstammen. Dabei werden wir der Vielfältigkeit des Kontinents nicht gerecht - und erst Recht nicht seinen Potenzialen.

Zwischen Kapstadt und Tunis leben heute bereits mehr als eine Milliarde Menschen in 54 Staaten mit einer einzigartigen Vielfalt von Sprachen und Kulturen. Die Voraussage ist, dass 2050 allein in Nigeria in etwa so viele Menschen leben werden wie in ganz Europa zusammen. Schon heute liegen sechs der zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Afrika, viele afrikanische Staaten stehen vor Entwicklungssprüngen.

Auch das wird angesichts der in den Nachrichten dominierenden Themen – Armut und fortdauernde Krisen – viel zu oft übersehen.

Einen differenzierten und ebenso genauen Blick braucht es auch auf die ehemaligen deutschen Kolonien: Jede ehemalige Kolonie, jeder historische Kontext muss hinterfragt werden. Das betrifft die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika ebenso wie diejenigen in Asien und Ozeanien. Hierzu braucht es Kapazitäten - aber vor allem den klaren politischen Willen.

Das geschehene Unrecht darf nicht vergessen werden, das ist Teil unserer historischen Verantwortung. Der aktuelle Koalitionsvertrag benennt zum ersten Mal die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte als Teil des „demokratischen Grundkonsenses“.

„Ohne Erinnerung keine Zukunft“ ist darin festgeschrieben - damit haben wir uns auch insbesondere der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus verpflichtet. Deutschland erkennt seine historische Verantwortung an – dem müssen wir gerecht werden.

Es ist ein gutes Zeichen, dass sich in Deutschland und Europa ein zunehmendes Interesse an dem Thema entwickelt hat: Der wissenschaftliche Diskurs, Museumsverantwortliche und nicht zuletzt die Künstlerinnen und Künstler treiben dies mit voran. Die Diskussion hat die Gesellschaften – und eben auch die Politik erreicht. Das zeigt einmal mehr die Bedeutung der Zivilgesellschaft, der Kultur und der Wissenschaft, bei der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit.

Alleine können wir diese große Aufgabe nicht bewältigen, wenn wir tatsächlich wegkommen wollen von einer eurozentristischen Perspektive. Wir müssen vielmehr darauf schauen, wie in den Ländern der ehemaligen Kolonien die Aufarbeitung der Vergangenheit erfolgt und durch welche Akteure. Wir brauchen den Diskurs mit ihnen - mit ihren Regierungen, aber ebenso mit den Zivilgesellschaften, den Nachfahren der Opfer und den in Deutschland lebenden Gemeinschaften. Dazu gehört auch die Rückgabe von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten.

Diese Debatte will das Auswärtige Amt aktiv mitgestalten und auch mit neuen Mitteln unterlegen. Mit Unterstützung der Wissenschaft bringen wir deshalb Akteurinnen und Akteure aus Forschung, Kunst und Zivilgesellschaft aus Deutschland und den ehemaligen Kolonien zusammen, um nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kolonialen Erinnerns zu fragen. Dies zeigt: Wir reden nicht allein unter Europäern über Afrika, sondern wir haben uns auf den Weg gemacht zu einer „shared history“.

Bereits im vergangenen Jahr haben wir gemeinsam mit dem Goethe Institut und dem Museum Rothenbaum zu einem Museumsdialog in Hamburg eingeladen, eine Folgeveranstaltung soll in Tansania im Frühjahr 2020 stattfinden. Wir fördern das Goethe-Institut und die von ihm in Afrika organisierten Museumsgespräche. Darüber hinaus planen wir gemeinsam mit der Gerda Henkel Stiftung und der Bundeszentrale für Politische Bildung im Frühjahr des nächsten Jahres einen wissenschaftlichen Workshop zur Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit. Gemeinsam mit BKM und BMZ werden wir eine „Agentur zur internationalen Museumszusammenarbeit“ schaffen.

Weitere wichtige Impulse sind bereits von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden gesetzt, wie die Verabschiedung der „Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ mit Handlungsfeldern und Zielen. Ebenso die Vereinbarung zur Errichtung einer „Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland“ für Beratung und Information, die zu gleichen Teilen vom Auswärtigen Amt und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien - und zur anderen Hälfte von den Ländern getragen wird und im 1. Quartal kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen soll.

Fest steht: Für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit müssen wir alle uns auch den unbequemen Fragen stellen. Das wird Energie, Geduld und Mut kosten und uns vor politische und moralische Herausforderungen stellen. Mut wird gebraucht, um die eigenen Fehler zu erkennen, das eigene Handeln zu hinterfragen und so zu einem Verständnis über die tiefgreifenden Folgen des Kolonialismus zu gelangen.

Denn die Diskussion um unsere Vergangenheit mit Afrika ist zugleich die Diskussion um die gemeinsame Zukunft.

„Das Wohlergehen Europas ist mit dem unseres Nachbarn Afrika untrennbar verbunden“, so beschreiben es die in diesem Jahr verabschiedeten Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung.

Ich bin sicher, Europa und Afrika haben über die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit die Chance, zu neuer Verbundenheit zu finden - einem tieferen Verständnis füreinander und einer Verbindung, aus der die Stärke erwachsen kann, diese Welt miteinander zu gestalten.


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