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Grußwort von Staatsministerin Michelle Müntefering bei der Zentralen Gedenkfeier anlässlich des 90. Geburtstages von Anne Frank am Anne Frank-Tag in der Paulskirche Frankfurt

12.06.2019 - Rede

„Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird.“

Das schrieb Anne Frank am 20. Juni 1942 in ihr Tagebuch. Wie gerne würden wir heute Anne Frank an ihrem 90. Geburtstag vom Gegenteil überzeugen können.

Auf der ganzen Welt lesen Menschen in über 70 Sprachen ihr Tagebuch.

Wie gerne hätten wir mit gefeiert, als es vor 10 Jahren zum Weltdokumentenerbe der UNESCO erklärt wurde.

Wie gerne würden wir ihr sagen, dass ihr Traum, als Schriftstellerin anerkannt zu werden, in Erfüllung gegangen ist.

Doch Anne Frank erlebte noch nicht einmal ihren 16. Geburtstag.

Das Tagebuch ist ihr bekanntestes literarisches Werk geblieben.

Wie kaum ein anderes Buch bringt es Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt dazu, sich mit dem Menschheitsverbrechen des Holocaust auseinanderzusetzen.

Und zwar in einer so verständlichen Weise, die etwas erklärt und vermittelt, was eigentlich unerklärlich ist und bleibt.

Anne Frank teilt ihre Erfahrungen mit Diskriminierung, Entrechtung, Ausgrenzung, Verfolgung. Sie beschreibt die Todesangst, die sie immer wieder in ihrem Versteck erfährt.

Und gleichzeitig gewährt sie uns Einblicke in ihr Innerstes und berichtet von den alltäglichen Fragen und Sorgen, die Heranwachsende in der Pubertät umtreiben.

Damit kommt uns eine der sechs Millionen jüdischen Frauen, Männer und Kinder, die das NS-Regime grausam ermordet hat, ganz persönlich nah.

Sie gibt den Opfern ein Gesicht, eine Identität, eine Lebensgeschichte.

Wir können uns in ihre Welt hineinversetzen und sehen zugleich die Abgründe, an denen sich diese Welt bewegt.

Auch für mich war sie die erste Zeitzeugin, die erste Jüdin, der ich begegnet bin - kaum so alt wie Anne Frank selbst, als Kind im Ruhrgebiet der Bundesrepublik Deutschland, sprach sie im Religionsunterricht zu mir und meinen Mitschülern.

Ich erinnere mich gut an die Unterrichtsstunden, in denen reihum aus ihrem Tagebuch gelesen wurde, und ich mich jedes Mal wieder meldete, um den anderen vorzulesen - und selbst bloß kein Wort zu verpassen.

Anne Frank sollte nicht die einzige bleiben, die ihre Geschichte mit uns teilte - die persönlichen Erzählungen später, das Miteinander reden, das Sich-Begegnen, es wirkte noch einmal über das unvergesslich Gelesene hinaus.

Sehr verehrte Damen und Herren,
ich möchte heute all den Überlebenden danken, die uns nach der Shoah Einblicke in das dunkelste Kapitel ihres Lebens gewährt haben.

Es berührt mich immer wieder zu sehen, dass Zeitzeuginnen und Zeitzeugen oft noch in hohem Alter oft lange und beschwerliche Reisen auf sich nehmen, um den nachfolgenden Generationen von ihren leidvollen Erfahrungen zu berichten und auf heutige Alarmsignale aufmerksam machen.

Liebe Frau Heller,
Sie sind eine solche unermüdliche Mahnerin vor den Nationalisten, die den Zusammenhalt Europas bedrohen.

Danke, dass Sie heute bei uns hier in der Paulskirche Frankfurt zu uns sprechen, dem Ort, der wie kaum ein anderer in Deutschland für die Demokratie steht.

Die Lage ist ernst. Politiker gehören unseren Parlamenten an, die öffentlich die Frage stellen, ob wir uns nicht zu viel mit der NS-Zeit befassen. Rechtsextreme verbreiten ihr Gedankengut nicht nur breit im Internet sondern auch auf unseren Straßen.

Bilder von Holocaustüberlebenden werden auf übelste Art geschändet, wie vor wenigen Wochen erst in Wien.

Synagogen werden angegriffen, im vergangenen Jahr etwa in Pittsburgh.

Über ein Drittel der Jüdinnen und Juden in Europa haben laut Umfragen Angst, sich als solche zu erkennen zu geben.

Allein in Berlin wurden 2018 über 1000 antisemitische Vorfälle erfasst.

Das fängt an bei judenfeindlichen Schmierereien, geht weiter bei Beschimpfungen und Pöbeleien und macht auch nicht Halt vor gewalttägigen Übergriffen auf Jüdinnen und Juden in unserem Land.

Doch es reicht nicht zu sagen, wie abscheulich und beschämend wir diese Entwicklungen finden.

Wir müssen etwas tun.

Denn jeder antisemitische Akt ist ein Angriff auf unsere Gesellschaft und das Wertefundament unserer freiheitlichen Demokratie.

Ich freue mich ganz besonders, dass wir mit der Generaldirektorin der UNESCO heute eine Verbündete-im-Tun bei uns haben.

Denn: Wir unterstützen als Auswärtiges Amt seit mehreren Jahren ein Projekt des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE. Es trägt den Namen “Words into Action to adress antisemitism”.

In Partnerschaft mit der UNESCO wurde dabei auch ein Leitfaden zur Bildungsarbeit gegen Antisemitismus entwickelt, der nun mit Unterstützung der UNESCO international verbreitet wird. Frau Azoulay hat ihn mir gerade überreicht.

Meine Damen und Herren,
meine Schulklasse ist nur ein Beispiel. Seit Jahrzehnten arbeiten Pädagoginnen und Pädagogen weltweit mit dem Tagebuch der Anne Frank.

Es ist ein wichtiger Baustein in der Bildungsarbeit zum Holocaust und zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Vergangenheit und heute geworden.

Doch sind die Herausforderungen, jungen Menschen das Wissen um den Holocaust näher zu bringen, in den letzten Jahren größer geworden.

Es ist erschreckend, was eine CNN Umfrage erst vor wenigen Monaten ergeben hat: Im Alter zwischen 18 bis 34 gaben rund 40 Prozent der Befragten in Deutschland an, „wenig“ oder „gar nichts“ über den Holocaust zu wissen.

Ich möchte daher heute auch den Menschen danken, die sich dieser Herausforderung täglich stellen - ob an Schulen, Universitäten, Gedenkstätten oder im virtuellen Raum.

Ganz besonders danke ich den Jugendlichen, die sich als Anne - Frank-Botschafter und -Botschafterinnen für Projekte gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus engagieren.

Ihr Beispiel zeigt: wir brauchen neue Ansätze, um historische Erfahrungen für die Gegenwart zu nutzen.

Mit dem Programm „Jugend erinnert“, das wir im Januar ins Leben gerufen haben, versuchen wir das.

Wir arbeiten an vier Schwerpunkten:

  1. in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bauen wir die Förderung von außerschulischen Gedenkstättenfahrten ins Ausland aus;
  2. Wir wollen den internationalen Austausch und die Begegnung zwischen Jugendlichen zur Erinnerungskultur stärken;
  3. Über den Wettbewerb „Erinnern für die Gegenwart“ unterstützen wir eine kritische Erinnerungsarbeit an den Deutschen Auslandschulen;
  4. Wir wollen grenzübergreifend die Weiterbildung vor allem junger Lehrerinnen und Lehrer fördern, um sie in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und Antisemitismusbekämpfung zu unterstützen.

Dabei soll es auch darum gehen, wie digitale Formate Jugendlichen den Zugang zu Erinnerung erleichtern.

Hier gibt es bereits gute Beispiele.

Ich denke etwa an “Stories that Move”- hier werden Schülerinnen und Schüler im Internet ermutigt, sich mit den Themen Diversität und Diskriminierung auseinanderzusetzen.

Entwickelt hat es ein multidisziplinäres Team aus sieben Ländern: dabei waren natürlich auch Experten des Anne Frank Hauses in Amsterdam und des Anne Frank Zentrums in Berlin.

Internationale Zusammenarbeit ist zentral, um das Wissen um den Holocaust zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben.

Dieser Aufgabe widmet sich auch ganz besonders die International Holocaust Remembrance Alliance.

Sie hat sich dem Ziel verschrieben, Forschung, Bildung und Gedenken im Bereich des Holocaust weltweit zu fördern.

Dazu bringt die Organisation Regierungsvertreter und Experten aus 33 Ländern in Europa und Nordamerika, aus Israel, Argentinien und seit kurzem auch Australien zusammen.

Auch internationale Organisationen wie die EU, die OSZE, der Europarat und die UNESCO sind Partner.

Ab März 2020 wird Deutschland den jährlich rotierenden Vorsitz übernehmen.

Dabei wollen wir uns besonders dem Thema widmen, wie wir der Verfälschung des Holocaust entgegentreten können und uns grenzüberschreitend über erfolgreiche Strategien austauschen.

Meine Damen und Herren,
Anne Franks kurzes Leben, das vor 90 Jahren in Frankfurt begann, ist auch ein Stück deutsch-niederländische Geschichte.

Erstmalig ist nun mit Unterstützung des Auswärtigen Amts eine umfassende deutsch-niederländische Fotoausstellung erstellt worden, die die Geschichte der Judenverfolgung in den Niederlanden von 1940-1945 beleuchtet.

Exemplarisch steht hier das Schicksal Anne Franks und ihrer Familie.

Ich möchte Sie alle herzlich zum Besuch dieser Ausstellung einladen, ob derzeit in Amsterdam oder ab Ende Oktober in Berlin.

Sehr verehrte Damen und Herren,
der 90. Geburtstag Anne Franks ist ein Tag, der einmal mehr zutiefst berührt.

Weil er uns das Grauen der Shoah ebenso in Erinnerung ruft, wie all die mit uns Nachgeborenen geteilten Erfahrungen jener Generation, die schon bald nicht mehr unter uns sein werden.

Ihre Stimmen, die uns mahnen, kein einziges Schicksal zu vergessen, sie bleiben die wichtigsten Lehrstunden des Lebens.

Vielen Dank.

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