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Rede von Außenminister Heiko Maas zur Eröffnung des Wirtschaftstages der Botschafterkonferenz 2019

Außenminister Maas spricht zur Eröffnung des Wirtschaftstages der Botschafterkonferenz 2019

Außenminister Maas spricht zur Eröffnung des Wirtschaftstages der Botschafterkonferenz 2019, © Thomas Koehler/photothek.net

27.08.2019 - Rede

Es ist eine sonderbare Szene: der Geschäftsführer einer Autoglasfabrik im Mittleren Westen der USA steht vor seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ruft ihnen in gebrochenem Englisch zu: “Make America great again!”

Der Mann ist Chinese, und der Konzern, für den er arbeitet, ist für viele Menschen in Dayton Ohio nach dem Niedergang der Automobilindustrie zum neuen Arbeitgeber geworden. Und auch zur neuen Hoffnung.

“American Factory” heißt die vor wenigen Tagen erschienene Dokumentation, und dabei geht es – sinnigerweise – um ein chinesisches Unternehmen. Und es geht um den Clash zwischen zwei Kulturen.

Denn zwischen chinesischer High-Performance und der American Working Class ist eine Kluft, die so groß ist, breiter noch als der Pazifik. Breiter noch als die Handelsstreitigkeiten und Sanktionspolitik.

Über Jahrzehnte erkämpfte Rechte der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer werden wieder Verhandlungsmasse. Es geht um nicht weniger als um die Würde der Menschen, die dort arbeiten.

Und schon, meine sehr verehrten Damen und Herren, stehen wir mittendrin, im Maschinenraum der Globalisierung.

Globalisierung und weltweite Vernetzung haben auf der ganzen Welt Wohlstand gebracht. Und zwar messbaren Wohlstand. Allein in diesem Jahrtausend ist das reale Einkommen pro Kopf um knapp 60% gestiegen. Fast 1 Milliarde Menschen haben es aus der absoluten Armut geschafft und mehr als die Hälfte davon in China. Eine Entwicklung, von der aber auch wir in Deutschland profitieren.

Und trotzdem: Nach all diesen Jahren des Aufschwungs wirkt gerade unser Land seltsam verunsichert. Vom Exportweltmeister scheinen wir zum Bedenkenweltmeister geworden zu sein.

Und manchmal hat man den Eindruck, es fehlt der Mut zu Neuem. Und die Stimmen der Globalisierungskritiker werden auch nicht leiser, sondern sie werden lauter. – Als hätte all das Wachstum letztlich überall nur Enttäuschung verursacht.

Und dabei muss man sagen: Die Globalisierung lässt sich nicht rückgängig machen. Aber sie lässt sich ganz sicherlich besser machen. Denn es gibt sehr wohl eine Diskrepanz in der Wahrnehmung, wer vom Aufschwung tatsächlich profitiert hat – und wer eben nicht.

Es kommt also darauf an, dass wir „Multilateralismus gestalten“. Dabei geht es auch darum. Und das tun wir bereits in vielen Bereichen.

Ich denke da eben an Handelsabkommen, aber auch an unsere Bemühungen, auf der sicherheitspolitischen Bühne etwas, um die Rüstungskontrollarchitektur aufrecht zu erhalten oder auch um Vereinbarungen zum Klimaschutz zu erhalten und auch neue auf den Weg zu bringen. Das tun wir in der EU, wir tun es im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, bei der WTO und auch in vielen anderen Foren.

Und insofern gehört gerade jetzt in diesen Zeiten „Multilateralismus gestalten“ – das Motto unserer Botschafterkonferenz - praktisch zur Jobbeschreibung eines jeden Diplomaten.

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, – es geht manchmal etwas unter – doch die ersten zarten Pflänzchen dessen, was wir da tun, die ersten internationalen Organisationen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen, waren

  • Flusskommissionen,
  • Telegraphenunion,
  • Weltpostverein oder
  • der deutsche Zollverein.

Wichtig ist aber einmal festzustellen: Es waren nicht Regierungen, die das entwickelt haben und die Entwicklung vorangetrieben haben. Es war die Wirtschaft.

Dabei ging es stets nur um eines: möglichst viele Vorteile zu erlangen, aber und zwar für alle! Ansonsten hätte es diese Zusammenschlüsse nicht gegeben. Bürokratie abbauen – schon damals, verlässliche Standards schaffen, Kosten senken. Alles Dinge aus Ihrem Alltagsleben.

Ein weiterer Schritt war übrigens die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation vor 100 Jahren. Mit dem Ziel, gemeinsame Standards bei Arbeitnehmerrechten zu setzen. Für mehr soziale Gerechtigkeit.

Man sieht auch hier: Multilateralismus schafft verlässliche und klare Regeln; Multilateralismus senkt Kosten; Multilateralismus kommt letzten Endes allen zugute – und dennoch ist dieser Grundgedanke heute zunehmend unter Druck und zwar mehr als das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. An immer mehr Orten der Welt sehen wir Abschottung, sehen wir den Versuch, anderen Regeln aufzuzwingen, sich die Rosinen herauszupicken, nur das zu befolgen, was gerade für einen selber passt.

Dass das mit großen Risiken verbunden ist, das wissen wir alle. Ja, wir spüren bereits erste Anzeichen einer sich abschwächenden Konjunktur hier bei uns. Ein zehnjähriger Aufschwung droht sich dem Ende zuzuneigen. Unser BIP ist im zweiten Quartal leicht gesunken. Damit würde eine technische Rezession sogar wahrscheinlich werden. Bei vielen von Ihnen aus der deutschen Wirtschaft hat sich das bei der Vorstellung der eigenen Quartalszahlen bereits gezeigt.

Sie wissen und wir wissen, dass es für diese Entwicklung viele Ursachen gibt, gerade in Deutschland, einer exportorientierten Wirtschaft: der neue Protektionismus, das Abrücken von einer regelbasierten internationalen Ordnung, die gefährliche Drohung mit einem “no-deal” Brexit, die Rezession in der Türkei, neue extraterritoriale Sanktionen, aber eben vor allem der Handelskrieg zwischen China und den USA.

Um das einmal zu verdeutlichen: Ein Prozentpunkt geringeres Wachstum in China in den nächsten zehn Jahren bedeutet zwei Billionen Euro Einbußen für den Rest der Welt.

Und darüber können auch kurzfristige, vermeintliche Jubel-Meldungen nicht hinwegtäuschen. Die Abwertung des Yuan vor zwei Wochen hat ja die eine oder andere Meldung hervorgerufen. Ich konnte irgendwo lesen: „Deutschland könnte vom Yuan-Schock profitieren“.

Meine Damen und Herren,
das ist, wie ich finde, die Logik der Protektionisten! Das ist “My country first” at its best. Wer so denkt, hat wirklich nichts verstanden. Kurzfristige Erfolge können eben nicht darüber wegtäuschen: Bei einem Handelskrieg, insbesondere bei dem zwischen den USA und China, aber auch bei allen anderen Handelskriegen gibt es am Ende keine Gewinner!

Wir sind überzeugt: nicht pure Konkurrenz, sondern Kooperation auf Augenhöhe ist die Voraussetzung dafür, dass ein System für alle auf Dauer lebensfähig bleibt.

Um jedoch Augenhöhe herzustellen brauchen wir vor allen Dingen eines, nämlich die EU. Als geeinte EU bringen wir schon heute in vielen Bereichen das nötige Gewicht auf die Waage, beileibe nicht in allen, wo wir könnten. Aber es ist auch nicht so, dass es nirgendwo so wäre. Und dort, wo das der Fall ist, können wir uns für unsere Interessen und für unsere Werte kraftvoll einsetzen.

Aber wir können unser Gewicht noch erhöhen. Mein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian und ich haben zusammen dargelegt, welche Fortschritte wir für ein starkes und souveränes Europa machen müssen.

Dazu gehört neben der WTO-Reform und den Verhandlungen mit den USA über ein Industriezollabkommen auch eine neue europäische Konnektivitätsagenda.

Aber dazu gehören auch strategische Entscheidungen, um unsere technologische Souveränität und Innovationsfähigkeit zu sichern. Die neue strategische Agenda der Europäischen Union und die politischen Leitlinien der neuen Kommission zielen genau darauf ab. Und deshalb sind sie so wichtig.

Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass wir KMUs unterstützen, die Wirtschafts- und Währungsunion vertiefen und, ja auch, die Bankenunion vollenden.

Multilateralismus wirkt – das wird besonders in der erfolgreichen EU-Handelspolitik deutlich, die die beste Antwort auf den steigenden Protektionismus gegeben hat: CETA mit Kanada, Vietnam, Singapur, Mexiko, fortgeschrittene Verhandlungen mit Australien, Neuseeland oder Chile.

Mit dem kürzlich abgeschlossenen EU-Japan-Freihandelsabkommen haben wir die größte Freihandelszone der Welt geschaffen.

Mit Freihandelsabkommen schaffen wir mehr als nur neue Absatzmärkte für eine wettbewerbsfähige europäische Wirtschaft. Wir setzen als Europäer weltweit die höchsten Standards für Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz.

Vieles in den Bereichen wird besser. Man kann diese Diskussion auch nach dem Motto führen: Es hätte noch mehr sein können. Aber man kann doch nicht außer Acht lassen, dass es in all den Bereichen step by step immer weitere Fortschritte gibt – für die wir im Übrigen teilweise jahrzehntelang gekämpft haben. Und wir zeigen, dass Handel eben beides sein kann: frei und gerecht.

Nach zwanzig Jahren Verhandlungen haben wir ein Abkommen zwischen EU und Mercosur erzielt. Ein Wirtschaftsraum mit 260 Millionen Menschen. Neben dem Abbau von Zöllen spielt natürlich auch die Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle.

Bei meinem Besuch in Brasilien habe ich sehr deutlich gemacht, dass die Umwelt- und Klimapolitik von zentraler Bedeutung bei der Bewertung dieses Abkommens ist. Und wer genau hinschaut, wird es auch in diesem Abkommen finden. Vielleicht sollte man es gerade in diesen Tagen nicht verschweigen.

Und Brasilien hat sich dabei verpflichtet, die Entwaldung zu bekämpfen. Mit solchen Abkommen besteht überhaupt erst die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen auf eine Entwicklung in einem Land, die weltweite Auswirkungen hat.

Und die Brände zeigen auf dramatische Weise, wie dringend notwendig das ist.

Ich habe gestern Abend ein langes Telefonat mit meinem brasilianischen Kollegen geführt, in dem ich ihm auch noch einmal deutsche Unterstützung angeboten habe, finanzielle wie technische.

Wir können nicht tatenlos zuschauen, wie verheerende Brände die grüne Lunge der Welt zerstören!

Der Schutz des Amazonas ist eine Aufgabe für die ganze Welt – das geht uns alle an. Und deshalb ist es auch richtig, dass man sich auf dem G7-Treffen damit beschäftigt hat. Und deshalb ist es auch richtig, dass wir unsere Hilfe angeboten haben, diese Brände zu bekämpfen.

Und, meine Damen und Herren,
Lateinamerika ist uns nicht nur wirtschaftlich verbunden, sondern diese Länder sind auch wichtige Partner beim Einsatz zum Erhalt der internationalen Ordnung, des Multilateralismus, für Demokratie und Menschenrechte.

Und deshalb war es auch eine gute Idee, bei einer Lateinamerika-Konferenz vor einigen Monaten hier im Weltsaal zusammen mit deutschen Unternehmen sich auszutauschen. Mit allen lateinamerikanischen Staaten.

Multilateralismus wirkt – und das zeigt das Beispiel Lateinamerika, nämlich dass sich der Einsatz für eine regelbasierte, globale Ordnung, für Zusammenarbeit und eine Stärkung internationaler Organisationen in der EU bezahlt macht.

Und das sehen wir übrigens auch bei der WTO Reform. Wegen der Fundamentalopposition, anders kann man das wirklich nicht mehr bezeichnen, der USA gestaltet diese sich leider außerordentlich schwierig. Ohne eine baldige Lösung wäre die WTO ab Dezember in einer ihrer Kernfunktionen, nämlich der Schiedsgerichtsbarkeit, nicht mehr handlungsfähig. Das kann doch in niemandes Interesse sein.

Die Europäische Union hat Übergangslösungen entwickelt, um die Arbeitsfähigkeit der WTO zu erhalten, bis das Berufungsgremium wieder mit Richtern besetzt ist. So schwer kann das ja nicht sein.

Multilateralismus wirkt – Protektionismus hingegen schadet allen. Aber am meisten schadet er denen, die von Armut betroffen sind. Vielleicht sollte man auch das in der öffentlichen Debatte mal etwas deutlicher herausarbeiten.

Würden wir morgen sämtlichen internationalen Handel stoppen, verlören die reichsten Haushalte 25 Prozent ihrer Kaufkraft. Die ärmsten aber würden 60 Prozent ihrer Kaufkraft einbüßen.

Meine Damen und Herren,
Dayton Ohio liegt mitten im Rust Belt. In der einst größten Industrieregion der USA leben fast 35% der Menschen in Armut. Für die Mitarbeiter der chinesischen Fabrik klangen die Worte “Make America great again!” nach jahrelanger Arbeits- und Perspektivlosigkeit endlich wieder wie ein süßes Zukunftsversprechen. Und als der Geschäftsführer sie ihnen entgegenrief, war die Gründung einer Gewerkschaft am Widerstand der Unternehmensspitze, der chinesischen, gerade gescheitert.

Die Fabrikarbeiter hatten wieder Jobs, aber sie verloren den Kampf, ihre Arbeitnehmerrechte auch organisiert geltend zu machen.

Gestern stand ich hier mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Voßkuhle. In diesem Jahr feiern wir 70 Jahre Grundgesetz. Dieses, unser Grundgesetz legt die Grundlage für die soziale Marktwirtschaft. Und dieser fühlen wir uns verpflichtet.

Soziale Marktwirtschaft ist aber nur zukunftsfähig, wenn wirtschaftliches Denken und Handeln auch in seinem Nutzen für das Gemeinwohl erkennbar sind. Wenn die Menschen merken, dass es nicht nur um Profit geht, sondern um den Zusammenhalt auch in einer Gesellschaft. Der von vielen Faktoren abhängig ist.

Denn die Gleichung „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Menschen gut“, die geht so nicht mehr auf.

Wir müssen vielmehr zeigen: soziale Marktwirtschaft ist kein Auslaufmodell. Sondern das Gegenteil: Sie muss ein Exportschlager sein.

Und wir müssen bei den Bürgerinnen und Bürgern für Akzeptanz werben für das politische, aber auch das wirtschaftliche Engagement. Auch weltweit, international.

Denn es gibt eine Währung, und wenn wir diese abwerten, dann werden wir alle verlieren. Und diese Währung heißt Vertrauen.

Und darum muss es selbstverständlich sein, dass auch hohe Umwelt- und Sozialstandards das Gütezeichen für Produkte und Dienstleistungen aus Deutschland sind!

Viele Unternehmen machen das vor, machen vor, wie es geht.

Und einige von Ihnen haben den Fragebogen zum Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte erhalten – eine Agenda, die, glaube ich, sehr wichtig sein wird, auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit.

Und ich merke immer wieder, wie stark Wirtschaft und Innovation “Made in Germany” unser Bild im Ausland prägen. Sie sind ein Grundstein unseres Gewichts. Die Wirtschaft ist Basis unseres Wohlstands. Sie tragen zum Gemeinwohl bei und Sie engagieren sich auch über Ihre wirtschaftlichen Interessen weit hinaus. Und dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!

Meine Damen und Herren,
im Kern ist das, was Multilateralismus bedeutet, was wir in unserer Außenpolitik täglich tun: den Blick öffnen für unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt. Auf neue, auch nicht-staatliche Partner und Netzwerke zuzugehen. Wir brauchen Unternehmen, Verbände und alle Ebenen der Gesellschaft, um gemeinsam für unsere Interessen und unsere Werte einzustehen.

Stefan Zweig hat einmal gesagt: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“

Ohne jetzt irgendjemand verzwergen zu wollen, die Botschaft ist klar: wir sitzen alle im selben Boot. Das wird kaum irgendwo so deutlich, gerade in diesen Tagen, wie beim Klimawandel. Wir werden uns alle bewegen müssen. Wir müssen von einem Multilateralismus zwischen Staaten eigentlich zu einem Multilateralismus zwischen Gesellschaften kommen.

Wenn wir nicht vernetzt und global die schwierigen Aufgaben und Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte angehen, werden wir am Schluss alle verlieren.

Und das ist einer der Gründe, warum wir uns so engagieren mit der Allianz für den Multilateralismus. Sie ist eine Allianz, die uns alle angeht. Es ist kein theoretisches, politisches Projekt. Es ist ein Projekt

  • für Arbeitnehmer und Verbraucher, die von freiem und gerechtem Handel profitieren,
  • ein Projekt für die Menschenrechtsaktivisten, die von denselben Werten und Ideen geleitet werden wie wir,
  • für die jungen Menschen, die uns alle dazu drängen, den Klimawandel mit aller Kraft zu bekämpfen.

Und für die Wirtschaft und den freien Handel. Wir sind die freie Welt und deshalb stehen wir auch für den freien Handel.

Meine Damen und Herren,
wir brauchen Sie alle in dieser Allianz, wir brauchen dafür Ihre Stimme. Und dazu kann ich Sie wirklich nur ganz herzlich, aber auch eindringlich einladen, ein Teil davon zu sein. Es geht dabei nicht nur um Politik.

Dear Margrethe,
thank you for joining us today. Now, we are looking forward to hearing your thoughts on shaping multilateralism. The floor is yours!

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