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„Europas Ängste nicht mit Schulmeisterei befördern“
Außenminister Heiko Maas im Interview mit der Welt über die europäische Politik angesichts der Corona-Pandemie, das transatlantische Verhältnis und die Perspektiven für Reisemöglichkeiten in der Sommerzeit.
Herr Maas, wie gut finden Sie den Milliarden-Deal von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für die EU?
Das ist ein echter Durchbruch, dass Deutschland und Frankreich in Europa in dieser Frage zusammen Verantwortung übernehmen. Wir wollen die Länder stützen, die von der Krise besonders betroffen sind. Es wird den Menschen in Deutschland nutzen, wenn alle in der EU gut durch die Krise kommen. Das ist für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie unsere doch eigentlich eine Binsenweisheit.
Hat die Kanzlerin das mit Ihnen abgestimmt – und was war Ihnen bei diesem Deal wichtig?
Natürlich haben wir das in der Koalition abgestimmt. Nicht nur der Außenminister, auch der Finanzminister, der diese Initiative angestoßen hat, ist bekanntlich SPD-Mitglied. Es sind ja eher die Beharrungskräfte in Teilen der Union, die da jetzt zu überwinden sind.
Vizekanzler Olaf Scholz und ich haben frühzeitig klargestellt, dass wir zu Investitionen bereit sind, um die wirtschaftliche und soziale Erholung in Europa auf den Weg zu bringen. Wichtig ist, dass wir dieses Geld jetzt nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft investieren, also in den notwendigen ökologischen und digitalen Umbau unserer Gesellschaft.
[...]
Wie gut werden das die deutschen Steuerzahler finden, die das wohl bezahlen müssen?
Die deutschen Steuerzahler werden einen viel höheren Preis dafür bezahlen müssen, wenn andere Volkswirtschaften in Europa in der aktuellen Krise durch eine rigide Sparpolitik stranguliert werden. Das hilft uns jetzt überhaupt nicht weiter. Wir brauchen Investitionen, damit wir aus der Wirtschaftskrise gemeinsam schnell wieder rauskommen.
Die Situation ist auch mit der Finanz- und Euro-Krise in keiner Weise vergleichbar: Covid-19 ist ein externer Schock, der alle EU-Länder wirtschaftlich in ähnlicher Weise und unverschuldet getroffen hat.
Aber …
… und wichtig ist auch: Das Geld soll ja nicht blind mit der Gießkanne verteilt werden. Die Vergabe soll mit dem „Europäischem Semester“ verknüpft werden, also dem Rahmenwerk für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU. Die Staaten müssen konkrete Pläne ausarbeiten, wie sie das Geld zur Bewältigung der Krise einsetzen und ihre Wirtschaft widerstandsfähiger machen wollen. Und: Wir wollen Mittel auch an rechtsstaatliche Kriterien knüpfen.
Spaltet diese Lösung die EU in Nord (Zahler) und Süd (Empfänger)?
Diese Kategorien greifen viel zu kurz. Die nordeuropäischen Länder sind nicht nur Nettozahler für den EU-Haushalt, sondern eben auch die größten Nettoprofiteure des Binnenmarktes. Und: Wir haben uns ja bereits zwischen Nord und Süd auf Wirtschafts- und Finanzhilfen von 540 Milliarden Euro geeinigt – in Rekordtempo. Auch da waren ganz maßgeblich Deutschland und Frankreich das Zentrum der Verständigung in der Euro-Gruppe.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das wiederholen können und dass sich auch jetzt wieder viele in Europa in unserem Vorschlag wiederfinden. Klar ist, dass wir natürlich eine gesamteuropäische Einigung brauchen.
„Politico“ berichtet, dass der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz die Nordländer gemeinsam in Stellung bringen will gegen die deutsch-französische Lösung. Was können Sie da als Außenminister tun?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine gemeinsame europäische Antwort auf die Corona-Krise brauchen. Wir haben unseren Vorschlag natürlich mit dem Ziel vorgelegt, damit eine breite Zustimmung zu ermöglichen. Dafür werde ich eintreten. Denn davon werden wir am Ende alle profitieren. Deswegen bin ich auch sehr optimistisch, dass wir eine Einigung erzielen werden.
Die antideutschen Ressentiments wachsen an den linken und rechten Rändern in Italien und Frankreich – wie gefährlich ist das für uns?
Es ist brandgefährlich für Europa – und damit für Deutschland. Wenn es in einem großen EU-Mitgliedstaat wie Italien eine antieuropäische Mehrheit gibt, dann wird die Luft sehr dünn in der EU. Wir können uns von solchen Ressentiments auch nicht freikaufen. Viel wichtiger ist der Ton, mit dem wir auftreten. Deutschland wird gerade in Südeuropa oft als übermächtig wahrgenommen. Wenn wir solche Ängste mit Breitbeinigkeit oder Schulmeisterei noch befördern, dann ist das natürlich Wasser auf die Mühlen von Populisten. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun.
Diese Populisten gibt es ja auch bei uns: Stichwort linke und rechte Ränder, die den Protest gegen die Lockdown-Strategie zur Destabilisierung des Landes nutzen oder zu nutzen versuchen.
Ja. Demokraten sollten immer respektvoll miteinander diskutieren und jeden sachlichen Protest ernst nehmen. Die Freiheiten des Grundgesetzes, auf die sich die Demonstranten berufen, finden allerdings ihre Grenze in der Freiheit unserer Mitmenschen. Wenn radikale Extremisten und Antisemiten Demonstrationen benutzen, um zu hetzen und zu spalten, dann sollte jeder deutlich mehr als nur 1,5 Meter Abstand halten.
Denn: Von Rechtsradikalen sollte sich niemand instrumentalisieren lassen. Wer ohne Maske, ohne Mindestabstand und ohne jede Rücksicht auf andere Verschwörungstheorien in die Welt schreit, der verwechselt Mut mit blinder Wut und Freiheit mit blankem Egoismus.
Sind wir auf dem Weg in eine europäische Schuldenroutine? Wie soll das alles finanziert werden?
Die Kreditzinsen sind historisch niedrig, und Deutschland hat in den letzten Jahren gut gewirtschaftet – wir haben eine sehr hohe Schuldentragfähigkeit. Auch insgesamt ist übrigens die Schuldenquote in der EU und der Euro-Zone in den letzten Jahren gesunken. Von einer „Schuldenroutine“ kann also keine Rede ein. Aber in dieser besonderen Situation sind Investitionen der einzig mögliche Weg. Wir können uns aus dieser Krise nicht „heraussparen“. Wir müssen gemeinsam „herauswachsen“ – mit klugen Investitionen.
Wie können wir Europa zu einer zukunftsfähigen Wettbewerbs- und Innovationslandschaft machen – gegen China und die USA?
Europa muss auf seine eigenen Fähigkeiten und Stärken setzen. Dazu zählt in erster Linie auch, dass wir uns bei kritischer Infrastruktur und Zukunftstechnologien nicht von anderen abhängig machen. Wir brauchen ein souveränes Europa. Dazu müssen wir in Europa konsequent in Forschung und Entwicklung investieren. Nicht mit der Gießkanne, sondern immer mit dem scharfen Blick auf die wichtigen Zukunftsthemen wie Klima und Digitalisierung. Entscheidend wird sein, welche Antworten Europa hier anbieten kann.
Wir haben in der Vergangenheit bereits gezeigt, dass das europäische Modell attraktiv ist. Wir können neben den USA und einem immer selbstbewusster agierenden China bestehen. Dazu müssen wir uns in Europa noch enger abstimmen und gemeinsam handeln. Ich bin davon überzeugt, dass wir gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen, wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen. Und zwar mit einem europäischen Haushalt, der die richtigen Schwerpunkte setzt.
Wie glücklich sind Sie über die etwas – wie einige Beobachter meinen – naivliche Diskussion um die Bündnistreue der SPD in der Fraktion Ihrer Partei? War das mit Ihnen abgestimmt?
Ich bin zunächst einmal froh über jeden, der sich Gedanken macht, wie wir beim Thema nukleare Abrüstung Fortschritte erzielen können. Wir haben im Koalitionsvertrag sehr vernünftig Stellung bezogen, und unsere Verlässlichkeit als Nato-Partner steht nicht zur Debatte. Wir sind uns über das Ziel – übrigens auch in der Nato – vollkommen einig: eine Welt ohne Atomwaffen. Wenn wir hier weiterkommen wollen, werden uns unilaterale Schritte nicht helfen. Und wir tun alles dafür, das Thema Abrüstung immer wieder auf die internationale Agenda zu setzen.
[...]
Die Deutschen tauschen gerade ihre Loyalitäten – weg von den USA, hin zu China. Bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorgen?
Die Deutschen wissen aus historischer Erfahrung, dass wir den USA viel von unserem heutigen Wohlstand verdanken. Im transatlantischen Verhältnis eint uns sehr viel mehr als uns trennt. Freunde können intensiv diskutieren und sich aufeinander verlassen. Dass das möglich ist, haben 70 Jahre im transatlantischen Verhältnis bewiesen. Insofern bin ich überzeugt, dass Ihre Annahme langfristig nicht zutrifft. Die Langzeitaufnahme jedenfalls zeichnet ein anderes Bild.
Schrille Töne sind eine Momentaufnahme, möglicherweise auch ein Ausdruck der Verunsicherung. Unsere Freundschaft zu den USA ist größer als das Oval Office. Aber klar: Was Europa im heraufziehenden Sturm zweier Supermächte noch besser lernen muss, ist, den Blick auf den eigenen Kompass zu richten und dann unbeirrt den Weg westlicher Werte weiterzugehen.
Wie ist Ihr Verhältnis zu den Außenministern der beiden Länder? Wo gibt es mehr Vertrauen und Nähe? Und was können Sie auf dieser Ebene tun?
Ich schätze Mike Pompeo, und persönlich habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Wir werden gemeinsam daran arbeiten, dass unsere transatlantische Freundschaft auch während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs keinen Schaden nimmt. Auch mit meinem chinesischen Kollegen Wang Yi bin ich in einem sehr guten Dialog. Zurzeit bereiten wir etwa intensiv den EU-China-Gipfel während unserer deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor.
Wann können die Deutschen wieder nach Mallorca, Paris oder Kreta?
Wir arbeiten daran. Wir sind in sehr guten Gesprächen mit den beliebtesten europäischen Reisezielländern und mit unseren neun Nachbarländern. Soweit das Infektionsgeschehen dies zulässt, hoffen wir, dass wir die weltweite Reisewarnung zumindest für die EU nach dem 14. Juni wieder aufheben und durch abgestufte Reisehinweise ersetzen können.
Aber es sollte jetzt bei aller berechtigten Vorfreude auf den Sommerurlaub nicht vergessen werden, dass wir erst vor wenigen Wochen fast eine Viertelmillion gestrandete Reisende aus dem Ausland zurückgeholt haben. Das können und wollen wir im Sommer nicht wiederholen. Gleichzeitig ist klar: Dieser Sommerurlaub wird nicht wie jeder andere – ganz egal, ob man ihn auf dem Dauercampingplatz in der Nähe oder auf einer griechischen Insel verbringt. Abstands- und Hygienegebote werden überall gelten.
Interview: Ulf Poschardt