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Was Europa aus der Corona-Krise lernen kann

12.04.2020 - Namensbeitrag

Namensartikel von Außenminister Heiko Maas, erschienen in der Welt am Sonntag

„Man kann sagen, dass (…) die Pest uns alle betraf“ heißt es in dem Klassiker von Albert Camus. Er erlebt zurzeit eine Renaissance, weil wir spüren: auch das Corona-Virus betrifft uns alle, weltweit. Noch gibt es keinen Impfstoff, kein Heilmittel, für niemanden. Das Virus unterscheidet nicht nach arm, reich, Hautfarbe oder Staatsangehörigkeit. Es kann jeden treffen, es macht an keiner Grenze halt.

Weltweit haben Länder deshalb Maßnahmen ergriffen, die vor wenigen Wochen völlig undenkbar schienen: Zwischenmenschliche Kontakte wurden massiv eingeschränkt, Grenzen geschlossen, Unternehmen und Flugverkehr weitgehend stillgelegt.

Das alles war und ist richtig, denn es gibt nichts Wichtigeres, als Menschenleben zu retten. Wie jedes Land haben wir zuallererst die Pflicht, die Krise bei uns zu Hause unter Kontrolle zu bringen. Nur dann können wir anderen beistehen, so wie wir das zum Beispiel durch die Behandlung schwerstkranker Patienten aus Italien und Frankreich in deutschen Krankenhäusern tun.

Dauerhaft werden wir das Virus aber nur besiegen, wenn wir es auch in Europa und weltweit in den Griff bekommen. Wenn es sich dort unkontrolliert verbreitet, dann wird es früher oder später auch uns wieder treffen wie ein Bumerang. Wenn ganze Länder und Weltregionen in wirtschaftliche oder humanitäre Abgründe stürzen, dann werden auch wir uns nicht nachhaltig erholen.

Gerade die Exportnation Deutschland braucht ein gesundes Europa und eine funktionierende Weltwirtschaft. Deshalb ist es nicht nur ein Akt europäischer Solidarität, sondern pure wirtschaftliche Vernunft, wenn die Europäische Union mit über 500 Milliarden Euro das größte Hilfspaket ihrer Geschichte auflegt.

Unser Ziel ist, dass Europa stärker, solidarischer und souveräner aus dieser Krise herauskommt, als es hineingegangen ist. Dafür muss der EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre zu einem echten Wiederbelebungsprogramm für Europa werden. Also denken wir ihn neu und investieren jetzt massiv in die Zukunft - in Forschung, Klimaschutz, technologische Souveränität und krisenfeste Gesundheits- und Sozialsysteme.

Die Weichen dafür müssen wir während unserer EU-Ratspräsidentschaft stellen. Diese werden wir zu einer „Corona-Präsidentschaft“ machen, um Corona und seine Folgen zu überwinden. Sobald wir über den Berg sind, wird eine der ersten Aufgaben darin bestehen, die Beschränkungen für freies Reisen und den Binnenmarkt schrittweise und koordiniert zurückzuführen. Es gilt, Lehren aus der Krise zu ziehen, zum Beispiel indem wir den EU-Katastrophenschutz und die gemeinsame Beschaffung und Produktion von lebenswichtigen Medizingütern verbessern. Und wir müssen die Fehlentwicklungen korrigieren, die diese Krise schonungslos offengelegt hat. Ich denke vor allem an die Einschränkungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter dem Deckmantel der Corona-Bekämpfung, die nicht hinnehmbar sind in Europa. Wer das Wertefundament der Europäischen Union untergräbt, sollte nicht damit rechnen, von den finanziellen Vorteilen der Union uneingeschränkt zu profitieren.

Auch international zeigt sich immer klarer: Egoismus, ob im Wettstreit um Schutzmasken oder bei der Lieferung von Medikamenten, verschärft die Krise für alle. Im G7-Rahmen haben wir deshalb vereinbart, bei der Entwicklung und Verteilung medizinischer Güter enger zusammenzuarbeiten und Lieferketten offen zu halten.

Die Rahmenbedingungen dafür sind alles andere als einfach. Denn nicht nur im Privaten, auch in der „Corona-Diplomatie“ gilt: Abstand halten! Reisen und direkte Kontakte sind unmöglich. Meine Kolleginnen und Kollegen höre und sehe ich umso öfter per Telefon oder Videoschalte – egal, ob es um die Rückholung hunderttausender deutscher Touristen geht oder um die Aufhebung von Exportbeschränkungen für lebenswichtige Medikamente.

Auch der UN-Sicherheitsrat tagt derzeit virtuell, denn gerade jetzt wird er besonders gebraucht. Kriege und Konflikte sind der ideale Nährboden für das Virus. Wir treten an der Seite von UN-Generalsekretär Guterres für einen globalen Waffenstillstand ein und haben die Krise auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats gesetzt. Wenn wir nicht schnell gegensteuern, wird das Virus Frieden und Stabilität weltweit erschüttern. Wir wollen den Blick der Weltgemeinschaft daher dorthin richten, wo die Gesundheitskrise jetzt schon Sicherheitskrisen zu verschärfen droht. Das werden wir zu einem Schwerpunkt unserer Präsidentschaft des Sicherheitsrats im Juli machen.

Eine der besten Investitionen im Kampf gegen die Pandemie ist es, die Vereinten Nationen, allen voran die unterfinanzierte Weltgesundheitsorganisation, zu stärken, zum Beispiel bei der Entwicklung und Verteilung von Tests und Impfstoffen. Über das „Wie“ werden wir diese Woche beraten, wenn die von uns gebildete „Allianz für den Multilateralismus“ sich auch mit dieser Frage beschäftigt.

Auch die Ursachen der Krise gehören aufgearbeitet. Doch gegenseitige Schuldzuweisungen helfen niemandem. Es geht nicht darum, welches „System“ überlegen ist, sondern darum, gemeinsam den Kampf gegen das Virus zu gewinnen.

Demokratien weltweit haben schnell und entschlossen gehandelt. Innerhalb einer Woche hat der Bundestag ein nie dagewesenes Hilfspaket geschnürt. Unser Sozialstaat und unser Gesundheitssystem zeigen sich von ihrer stärksten Seite. Noch wichtiger aber ist: Millionen Menschen haben gezeigt, dass sie bereit sind, für eine gewisse Zeit auf bestimmte Freiheiten zu verzichten, weil Leben und Gesundheit ihrer Mitmenschen in Gefahr sind. Diese Solidarität brauchen wir, um das Virus zu besiegen – in Deutschland, in Europa und weltweit.

Wenn ich auf die Welle der Hilfsbereitschaft blicke, die wir zurzeit in Deutschland und vielen anderen Ländern erleben, dann scheinen die allermeisten das verstanden zu haben. Das macht Hoffnung.

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