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„Nur als Europe United werden wir unsere Werte in dieser Welt bewahren!“
Außenminister Heiko Maas spricht beim WDR Europaforum, © Florian Gaertner/photothek.net
Außenminister Heiko Maas fordert in seiner Rede beim WDR-Europaforum die Menschen zur Wahl auf. Es gehe um den Zusammenhalt des Kontinents.
Der WDR hat wirklich Sinn fürs Timing. Noch 70 Stunden bleiben bis zur Europawahl. In den Niederlanden und in Großbritannien wird sogar schon heute gewählt. Viel näher dran am politischen Puls - sozusagen an der Ziellinie des Wahlkampfendspurts - könnte das Europaforum dieses Jahr also kaum stattfinden.
Ein Startschuss dafür ist bereits vor einigen Wochen gefallen – bei den Kollegen vom französischen Fernsehen. Anfang April nämlich hatte France 2 zur großen Wahldebatte geladen. Um Schwung in die Diskussion zu bringen, waren die zwölf Spitzenkandidatinnen und -kandidaten vorab gebeten worden, jeweils einen Gegenstand mitzubringen, der für sie für Europa steht.
Das Ergebnis war ein ziemliches Sammelsurium - ein Küchensieb, Handschellen, ein Mini-Airbus. Und gleich zwei Kandidaten hatten ein Stück Berliner Mauer dabei.
Das Ganze hat dann eine ziemlich lebendige Debatte ausgelöst – das ist jetzt sehr diplomatisch ausgedrückt. Und, meine Damen und Herren, weil ich mir das vom heutigen Europaforum auch wünsche - eine offene und eine lebhafte Debatte - habe ich auch einen Gegenstand mitgebracht. Etwas, das für mich Europa symbolisiert.
Europa hat für mich viel von diesem Diamanten. Und um Fehlinterpretationen vorzubeugen: Den habe ich nicht von zu Hause mitgebracht, sondern wir haben uns den ausgeliehen. Worum es mir dabei aber geht, ist nicht in erster Linie der Wert eines solchen Edelsteins. Ich will auf etwas anderes hinaus.
Ein Diamant ist letztlich nichts anderes als eine Kohlenstoffverbindung. Und Kohlenstoff - das wissen wir noch aus dem Chemieunterricht - ist ausgesprochen vielseitig. Er bildet einen der weichsten Stoffe überhaupt: nämlich Graphit. Oder eben Diamanten, die härtesten Kristalle der Erde.
Grund dafür ist, dass die Kohlenstoffatome unterschiedlich enge Bindungen miteinander eingehen. Ganz lockere oder auch besonders enge.
Druck von außen spielt dabei eine große Rolle. Und Druck von außen spüren wir auch in Europa derzeit mehr als genug. Denn die Welt hat sich dramatisch verändert in den letzten Jahren.
- China ist nicht nur eine wirtschaftliche Weltmacht geworden. Es nutzt seinen Einfluss auch, um die EU zu spalten.
- Russland versucht, mit militärischer Gewalt politische Fakten zu schaffen – ob in Syrien oder in der Ukraine.
- Und die Regierung von Präsident Trump wendet sich ab von internationalen Vereinbarungen wie dem Pariser Klimaabkommen, dem Atomabkommen mit Iran oder, ganz aktuell, dem Vertrag über den Waffenhandel.
Nicht die Stärke des Rechts hat Konjunktur, sondern das Recht des Stärkeren. Großmächte mögen sich in einer solchen Welt noch irgendwie behaupten. Aber in Europa ist kein Land groß und einflussreich genug, um das auch zu können. Globale Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung oder die Migration löst sowieso keiner von uns allein national.
Für uns gilt, was auch für den Diamanten gilt: Die Bindung macht den Unterschied. Je enger wir uns zusammenschließen, desto widerstandsfähiger, desto stärker sind wir auch bei all diesen Herausforderungen.
Gemeinsam gestalten oder allein zerrieben werden - das sind die Alternativen, vor der alle Länder Europas heute stehen. Und vor dieser Zukunftsfrage stehen jetzt auch 400 Millionen Europäerinnen und Europäer, die in den kommenden Tagen zur Wahl aufgerufen sind.
Für mich ist die Antwort darauf einfach und klar: Gerade jetzt brauchen wir mehr und nicht weniger Europa. Denn nur gemeinsam, als “Europe United”, werden wir die europäischen Werte wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt in dieser Welt bewahren.
Für viele von uns mögen diese Errungenschaften inzwischen selbstverständlich sein. Viele Vertreter meiner Generation haben gar nichts anderes kennengelernt.
Aber nichts ist selbstverständlich! Und nichts ist unumkehrbar. Das zeigt der Blick in eine Welt voller Krisen. Das zeigt aber auch der Blick in unsere europäische Nachbarschaft.
Der Weg der Nationalisten und Populisten führt unweigerlich ins Chaos.
- In ihrer Mischung aus Größenwahn, Werteverfall und Demokratieverachtung ist die Selbstdemontage der österreichischen Rechtspopulisten nur ein besonders krasses Beispiel dafür.
- Das schier unendliche Brexit-Gezerre, das wir derzeit erleben, ist ein weiteres Beispiel dafür. Es soll ja jetzt noch einmal abgestimmt werden im Unterhaus. Und man kann den Kollegen in London nur empfehlen, dass sie sich vielleicht besser an den englischen Fußballclubs orientieren. Denn die sind in Europa im Moment so erfolgreich, nicht weil sie Tore verhindern, sondern weil sie welche schießen.
Und, meine Damen und Herren, Weckrufe, die gab es bereits mehr als genug. Weckrufe, die deutlich machen: Am Sonntag geht es um mehr, als um die Wahl des Kommissionspräsidenten.
Es geht darum, ob wir Europa den Chaoten, den Spaltern und den Angstmachern überlassen. Denjenigen, die Europa letztlich kaputt machen wollen.
Oder ob diejenigen in der Mehrheit sind, die für Zusammenhalt, Ausgleich und Zuversicht stehen.
Umfragen zeigen ein 35-Jahres-Hoch bei der Zustimmung zu Europa. Mehr als 80 Prozent der Deutschen denken pro-europäisch.
Wenn diese Menschen an die Urnen gehen, dann wird diese Wahl ein Votum für den Zusammenhalt Europas. Ein Auftrag an die Politik, die Bindungen zwischen unseren Ländern zu stärken, um dieses Europa eben unkaputtbar zu machen.
Dafür müssen wir die Europäische Union so aufzustellen,
- dass sie ihre Spaltungen im Innern überwindet.
- Dass sie ihre Interessen und ihre Werte in der Welt durchsetzen kann.
- Und dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern ein gerechtes Leben garantiert.
Kurz gesagt: Wir brauchen ein starkes, souveränes, aber vor allen Dingen auch ein soziales Europa.
Auf diesen Dreiklang - stark, souverän und sozial - sollten wir all das ausrichten, was wir nach der Europawahl gemeinsam mit einer neuen Kommission, einem neuen Parlament und einem neuen Ratspräsidenten, wer auch immer das sein mag, in Angriff nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
stark ist Europa, wenn wir die Gräben schließen, die die Finanzkrise und die Migrationsdebatte gerissen haben. Dazu braucht es Kompromissbereitschaft auf allen Seiten, auch hier in Deutschland.
Was bringt es zum Beispiel, auf einen festen Verteilschlüssel für Geflüchtete und Migranten zu pochen, wenn wir sehen, dass dies Europa nichts anderes als zerreißt?
Europäische Solidarität kann auch anders aussehen. Natürlich darf ein Land die Aufnahme von Flüchtlingen nicht völlig verweigern. Aber was spricht gegen ein flexibles System, bei dem manche mehr tun beim Grenzschutz, andere bei der Aufnahme von Flüchtlingen und andere wiederum bei der Versorgung in Herkunfts- und Transitländern?
Stärke setzt außerdem voraus, dass wir unsere gemeinsamen Werte achten und leben. Da darf es keine faulen Kompromisse geben!
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – das ist das, was die EU im Kern zusammenhält. Damit steht und fällt auch unsere Glaubwürdigkeit in der Welt, wenn wir diese Werte auch bei anderen einfordern.
Alle, die von der Europäischen Union profitieren, müssen wissen: Es gibt nicht nur Rechte, sondern es gibt auch Pflichten. Es ist deshalb richtig, dass Brüssel Regierungen wie die von Viktor Orbán in Ungarn auch sehr deutlich darauf hinweist.
Auch in den Verhandlungen über den nächsten Finanzrahmen der EU müssen wir über Rechtsstaatlichkeit reden. Und wir haben bereits einen Mechanismus auf den Weg gebracht, bei dem wir als Mitgliedstaaten untereinander den Zustand unseres Rechtsstaats auf den Prüfstand stellen wollen. Dass sich alle Länder daran beteiligen, zeigt eines: Rechtsstaatlichkeit darf und soll kein Spaltpilz in der EU sein. Sie hält uns als Rechtsgemeinschaft vielmehr zusammen.
Der zweite Punkt betrifft die Souveränität. Wirklich souverän ist Europa nur, wenn es seine Werte und Interessen auch in Zeiten von “America first”, “Russia first” oder “China first” wirklich auch durchsetzen kann.
Wie schwierig das ist, das zeigt die aktuelle Auseinandersetzung um das Atomabkommen mit dem Iran.
Die amerikanische Strategie des maximalen Drucks macht es uns und den anderen Parteien dieses Abkommens ausgesprochen schwer, die wirtschaftlichen Vorteile zu sichern, die der Iran sich davon versprochen hat. Und dennoch ist es richtig, gemeinsam mit unseren Partnern weiter daran zu arbeiten – trotz aller Widrigkeiten. Denn letztlich ist dieses Abkommen der sicherste Weg, um dem Iran den Weg zu Atomwaffen abzuschneiden. Und einen Flächenbrand in der Region zu vermeiden, der brandgefährlich wäre, weit über diese Region hinaus, nämlich bis nach Europa.
Das Beispiel Iran zeigt auch: Ein souveränes Europa muss sein Gewicht als Wirtschafts- und Handelsmacht noch stärker in geopolitischen Einfluss ummünzen.
Beim Datenschutz, trotz aller Diskussion, ist uns das gelungen. Dank klarer europäischer Regeln haben wir weltweit Pflöcke eingeschlagen für den Schutz persönlicher Daten im Internet. Ein großes Thema auch für die Zukunft, auch für die Demokratie.
Und auch im Handelsbereich können wir Europäer hohe Standards etwa beim Umweltschutz oder bei den Arbeitnehmerrechten durchsetzen, wenn wir gemeinsam handeln, aber auch nur dann. Unsere Freihandelsabkommen mit Japan und Kanada sind außerordentlich gute Beispiele dafür.
Die Kunst liegt eben darin, mit einer Stimme zu sprechen. Das gilt ganz besonders für die Außenpolitik.
Allzu oft führt der Zwang zur Einstimmigkeit, den wir im Außenrat haben, dazu, dass der Langsamste die Geschwindigkeit bestimmt. Ich finde, damit muss Schluss sein – wenn die EU außenpolitikfähig werden will. Wenn wir auf Augenhöhe mit den USA oder China verhandeln und vorankommen wollen in der Klimapolitik, in Fragen der Abrüstung oder bei den Menschenrechten.
Und wenn ich gerade von der Klimapolitik spreche: Wenn Frankreich, unser engster Partner in Europa, ambitioniertere Vorschläge macht, dann darf Deutschland nicht auf der Bremse stehen.
Im Gegenteil: Wir Europäer müssen gemeinsam aufs Tempo drücken – gerade wenn andere sich aus ihren Verpflichtungen verabschieden. Das sind wir auch den kommenden Generationen schuldig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Der dritte und letzte Punkt betrifft das soziale, das solidarische Europa. Der Aufstieg der Populisten und Nationalisten hat auch etwas damit zu tun, dass wir in den letzten Jahren zu viel über grenzenlose Warenströme, Bankenrettung und Großkonzerne gesprochen haben. Und zu wenig über grenzenlose Arbeitnehmerrechte, Mitbestimmung, Gleichberechtigung, Arbeits- und Ausbildungschancen.
Wenn wir neue Emotionen für Europa wecken wollen, müssen Europas Bürgerinnen und Bürger spüren: Der Mensch und nicht der Markt steht im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Handelns.
- Wir müssen deshalb endlich dafür sorgen, dass internationale Großunternehmen ihre Gewinne auch hier versteuern, anstatt sie in Steuerparadiese zu verschieben.
- Wir brauchen eine Annäherung der Mindestlöhne durch einen gemeinsamen europäischen Rahmen, um Sozialdumping, das es auch in Europa gibt, zu stoppen.
- Und wir brauchen nicht nur eine Union für Banken und den Kapitalmarkt, sondern auch eine echte europäische Sozialunion, in der soziale Sicherheit und Mitbestimmung Hand in Hand gehen mit Wirtschaftswachstum.
Denn letztlich: Sozialer Zusammenhalt ist das wirksamste Mittel, um Europa vor Nationalisten und Populisten zu schützen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
noch wirksamer ist nur eines: Nämlich am Sonntag wählen zu gehen und dafür zu sorgen, dass Europa eine Stimme erhält - im wahrsten Sinne des Wortes!
Wiederholen wir bitte nicht den Fehler, den zu viele Briten gemacht haben, als sie bei der Brexit-Abstimmung zu Hause geblieben sind.
Letztlich liegt es an uns. Ich finde, wir sind nicht zu wenige, sondern wir sind manchmal nur zu still.
Und deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir den kommenden Sonntag zu einer großen Abstimmung
- für ein starkes Europa, das nicht zurückfällt in die Kleinstaaterei.
- Für ein souveränes Europa, das seine Stimme erhebt für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in der Welt.
- Und auch für ein soziales Europa, das eben nicht spaltet, sondern die Menschen zusammenführt in all den Sorgen und Nöten, die sie im Moment umtreiben.
Ein solches Europa ist in jeder Hinsicht eines, nämlich ein Diamant!
Vielen Dank!