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“An agenda for peace and security? Priorities for a social democratic foreign policy for the European Union and the United Nations”. Rede von Außenminister Heiko Maas bei der Tiergarten-Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung

28.11.2019 - Rede
Außenminister Heiko Maas bei der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung
Außenminister Heiko Maas bei der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung© Ute Grabowsky/photothek.net

Wenn Sie Fußballfans nach einem x-beliebigen Spiel ihrer Mannschaft fragen, dann nennen sie Ihnen mit ziemlicher Sicherheit kein Durchschnittsspiel. Sondern das, was sie als das größte Spiel ihrer Mannschaft in Erinnerung haben, den Titelgewinn oder irgendein besonderes Ergebnis. Lieber Kurt, wir, die wir aus Südwestdeutschland stammen, müssen dann schon weit zurückdenken. An Zeiten, in denen das Fritz-Walter-Stadion noch Betzenbergstadion hieß.

„Memory bias“ nennen das die Psychologen. Besonders emotionale Momente bleiben haften. Andere gehen verloren.

Und solch selektive Erinnerung gibt es eben nicht nur im Fußball. Wenn in Deutschland von „der Wende“ die Rede ist, dann denken wir an den Glücksmoment unserer Geschichte: An die friedliche Revolution, an den Mauerfall, an das Ende des Eisernen Vorhangs.

Vielleicht hat es also mit „memory bias“ zu tun, dass wir eine andere Wende, und zwar eine, die wir im Moment gerade sehr intensiv spüren, lange übersehen haben.

Und das, obwohl es durchaus Anzeichen für eine solche Trendwende gab.

Schon 2013 titelte die Washington Post: „Isolationismus in Amerika auf 50-Jahres Hoch“. Damals begann gerade die zweite Amtszeit von Präsident Obamas.

Und eine Studie hatte herausgefunden, dass zum ersten Mal seit Einführung dieser Frage im Jahr 1964 eine Mehrheit der Amerikaner der Ansicht war, dass die USA sich besser aus dem Weltgeschehen heraushalten sollten.

Auf die 90’er- und Nuller-Jahre, die gekennzeichnet waren vom weltweiten Engagement Amerikas und seiner Verbündeten - auf dem Balkan, im Nahen Osten oder in Afghanistan - folgte die von Präsident Obama verordnete Zurückhaltung. Manche sprachen von größerem außenpolitischen Realismus.

Und unter Präsident Trump gilt inzwischen für die ganze Welt spürbar: „America First“ – und zwar auch und vor allen Dingen in den Außenbeziehungen. Sanktionen und Zölle sind zu den bevorzugten Instrumenten amerikanischer Außenpolitik geworden. Und bei allem Streit, den es in der US-Innenpolitik gibt –der Konsens dazu ist oft parteiübergreifend in Washington.

Bildlich gesprochen: Der Weltpolizist zieht sich in sein Hauptquartier zurück. Und von dort aus zielt er nun mit Sanktionen und Zöllen auf die Gegner und Konkurrenten in der Welt.

Und das trifft uns in Europa gleich doppelt:

  • Erstens, weil wir selbst zum Ziel oder zum Kollateralschaden werden. Denken wir an die Zölle gegen europäische Produkte. Oder an die Auswirkungen amerikanischer Sanktionen auf das Nuklearabkommen mit Iran.
  • Und zweitens, weil die USA oft gerade dort auf dem Rückzug sind, wo europäische Sicherheit und Interessen ganz besonders berührt sind. Und zwar nicht nur geographisch - in Syrien etwa oder in Afghanistan. Sondern auch aus Institutionen der multilateralen Weltordnung oder aus Verträgen wie dem Pariser Klimaabkommen.

Andere Akteure nutzen das entstehende Vakuum:

  • Politisch und ökonomisch vor allen Dingen China.
  • Und militärisch allzu oft Russland. Aber auch andere Akteure, wie man ja gerade in Syrien sieht.

Und wir Europäer?

Es reicht jedenfalls nicht, auf die Rückkehr alter Zeiten zu hoffen, denn sie werden nicht mehr wiederkommen.

Und so wie das Umdenken in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik schon vor Präsident Trump begonnen hat, so bleibt es uns auch in Zukunft erhalten – und, davon bin ich fest überzeugt, unabhängig davon wie die Wahl in den USA im nächsten Jahr ausgehen wird.

Und deshalb müssen wir uns fragen: Wo setzen wir also an?

Der Ausgangspunkt bei allem, der heißt, der kann nur heißen: Europa.

Wir Sozialdemokraten haben nicht ohne Grund darauf bestanden, dass im Koalitionsvertrag gleich ganz am Anfang ein „neuer Aufbruch für Europa“ steht. Und zwar auch mit Blick auf diese Entwicklung.

Wir wollen ein starkes, ein souveränes, ein solidarisches Europa! Ein Europa, das seine Werte und Interessen in der Welt auch durchsetzen kann.

Und die Zeit, dieses Europa zu schaffen, ist nicht morgen oder übermorgen, sondern diese Zeit ist jetzt. Denn allzu viel Zeit bleibt uns nicht mehr.

  • Bei der Europawahl haben die europafreundlichen Kräfte entgegen aller Beschreibungen und entgegen allem Alarmismus eine breite Mehrheit errungen.
  • Beim Brexit, so bedauerlich er auch ist, zeichnet sich endlich eine Lösung ab und zwar eine produktive.
  • Die neue Kommission wird endlich in wenigen Tagen mit ihrer Arbeit beginnen können.
  • Und im kommenden Jahr ist es an uns, als EU-Ratspräsidentschaft und als Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats die Weichen Richtung Zukunft zu stellen.

Die Auseinandersetzungen um den Euro, die Bankenrettung, den Umgang mit Flüchtlingen und um die Rechtsstaatlichkeit haben in den letzten Jahren in Europa tiefe Gräben gerissen. Deshalb ging es in den vergangenen Monaten erst einmal darum, neues Vertrauen zu schaffen in Europa. Denn die Fliehkräfte, die es gibt, die wirken nicht nur von außen auf Europa, sondern es gibt sie vor allen Dingen von innen, innerhalb der EU.

Deshalb haben wir unsere Beziehungen zu den Ländern in Mittel- und Osteuropa intensiviert, und zwar ganz besonders zu Polen.

Für mich ist das übrigens auch ein zutiefst sozialdemokratischer Auftrag, Stichwort Ostpolitik, Brücken zwischen Ost und West in Europa zu bauen. Und viele unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn haben auch die ganz klare Erwartung an Deutschland, dass wir dieser Brückenbauer sein sollen. Es geht nicht darum, disruptiv Wege, die es gibt, kaputt zu machen, sondern es geht darum, Brücken, die es gibt, instand zu halten und dort, wo es notwendig ist, auch noch einige zu bauen zwischen dem Osten und dem Westen in Europa.

Und unsere östlichen Nachbarn erwarten von uns auch, dass es Beziehungen auf Augenhöhe sind.

Ich glaube, eine der wichtigsten strategischen Fragen, über die wir in Europa reden müssen, ist: Wie ist der “way forward”? Und da gibt es unterschiedliche Modelle, die auf dem Tisch liegen. Wird es in Zukunft ein Europa erster Klasse geben und ein Europa zweiter Klasse? Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten oder der wieviel Geschwindigkeiten auch immer oder wird es ein Europa bleiben?

Viele in Mittel- und Osteuropa haben die Sorge, dass sie in Zukunft lediglich noch zu einem Europa zweiter Klasse gehören. Dass sich die Staaten, die willens und fähig sind, enger zusammenschließen, ihre Integration vertiefen und ein Kerneuropa bilden, das vorangeht, dem sich andere gegebenenfalls anschließen können oder müssen. Ich halte das nicht für den richtigen Weg. Wenn wir über das große Thema der strategischen Souveränität Europas reden, wenn wir darüber reden, dass Europa seine Interessen und Werte durchsetzen kann und will, dann geht das nur mit einem Europa. Und ich bin fest davon überzeugt, dass jeder andere Weg nicht nur die Handlungsfähigkeit der EU nach innen, sondern auch die Durchsetzungsfähigkeit unserer Werte und Interessen nach außenbeschädigt.

Meine Damen und Herren,

deshalb ist es wichtig, sich mit den ost- und mitteleuropäischen Partnern bei allen Schwierigkeiten außerordentlich eng abzustimmen. Und wenn dann immer darauf hingewiesen wird: Was ist denn mit den Rechtsstaatlichkeitsproblemen in Ungarn, in Polen und Rumänien? Ja, die gibt es und dazu gibt es auch ganz klare, entschlossene Verfahren innerhalb der EU. Wir reden beim Mehrjährigen Finanzrahmen zurzeit darüber, dass die Auszahlung von Mitteln aus EU Fonds in Zukunft auch an die Erfüllung rechtsstaatlicher Kriterien gebunden wird. Und es gibt auch keine Alternative zu der Auseinandersetzung mit diesen Themen. Aber zu glauben, in einem Europa erster, zweiter und dritter Klasse noch auf diejenigen einwirken zu können, bei denen nach unserer Auffassung Veränderungsbedarf besteht in ihren rechtsstaatlichen Strukturen, ich glaube, das kann man sich sehr schnell abschminken. Das wird auch in Rechtsstaatlichkeitsfragen und in Grundwertefragen die Spaltung der EU vertiefen und das kann nicht in unserem Interesse sein.

Aber nicht nur mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn haben wir uns in den letzten anderthalb Jahren committed und das Vertrauen weiter entwickelt.

Auch mit Ländern wie etwa Portugal und Slowenien haben wir uns eng abgestimmt. Mit ihnen bilden wir ein „Trio“, es sind die Länder, die vor und nach uns die Ratspräsidentschaft innehaben. Weil wir wissen: Wenn wir in Europa Dinge verändern wollen, müssen wir sie langfristig auf den Tisch legen.

Und mit Jean-Yves Le Drian, meinem französischen Kollegen, habe ich vor kurzem konkrete Schritte zur Stärkung Europas vereinbart. Zum Beispiel überlegen wir gerade aktuell, wie ein Europäischer Sicherheitsrat aussehen kann, den wir beide für notwendig halten, in dem wir unsere außen- und sicherheitspolitische Arbeit bündeln, und zwar mehr, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Und auch dazu wird es einen Vorschlag geben.

Wir sind uns mit Frankreich einig: Außenpolitisch muss Europa geschlossener, strategischer, selbständiger handeln.

Daraus folgt, wie ich finde, nahezu logisch, dass gerade in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen im Rat deshalb kein Tabu mehr sein dürfen.

In den kommenden Monaten wollen wir weiterkommen bei der Umsetzung einer echten europäischen Politik mit Blick auf Länder wie China und Russland. Länder, die wir als Partner brauchen. Die aber gleichzeitig auch Konkurrenten oder Wettbewerber für uns sind gegenüber dem europäischen Modell. Wir werden während unserer EU-Ratspräsidentschaft einen EU-China-Gipfel veranstalten im September 2020, um dort auch noch einmal eine kohärentere europäische Politik mit Blick auf China auf den Weg bringen zu können.

Meine Damen und Herren,

messen lassen müssen wir in Europa uns auch daran, ob es uns gelingt, Krisen in unserer Nachbarschaft zu entschärfen. Krisen, die sich auf uns auswirken, politisch, sicherheitspolitisch, ökonomisch, migrationspolitisch.

  • Während unserer Präsidentschaft wollen wir hier in Berlin ein Kompetenzzentrum für ziviles Krisenmanagement gründen und zwar für die gesamte EU, mit Beteiligung anderer Mitgliedstaaten . Wir haben das gerade in den aktuell laufenden Haushaltsberatungen im Deutschen Bundestag in den Haushalt eingebracht. Wir sind der Auffassung, dass wir uns im Umgang mit Krisen nicht immer erst zusammensetzen dürfen, wenn schon geschossen wird, sondern vorher, präventiv, und dass wir damit auch Europas Rolle als Friedensmacht stärken können.
  • Und wir wollen vorankommen bei der Einrichtung eines gemeinsamen Hauptquartiers für alle Einsätze im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Das ist lange überfällig.

Und beim Stichwort Nachbarschaft: Auch der Westbalkan braucht eine glaubwürdige europäische Perspektive.

Dabei geht es auch nicht nur darum, dass die EU ihr Wort halten muss gegenüber Ländern wie Nordmazedonien und Albanien.

Es liegt vielmehr in unserem eigenen, strategischen Interesse, dass die Region stabil und sicher bleibt. Und das gelingt auf Dauer nur in der Europäischen Union!

Meine Damen und Herren,

wir werden Europa aber auch abhärten müssen gegenüber denjenigen, mit denen wir im Wettbewerb stehen auf vielen Ebenen – und manchmal werden auch aus Partnern Wettbewerber. Dazu gehört, dass wir lernen, dass wir uns auch gegen extraterritoriale Sanktionen schützen müssen. Mit Blick auf das Nuklearabkommen mit dem Iran: INSTEX, der Finanzierungskanal, der extra geschaffen wurde mit Frankreich und Großbritannien, ist ein Beispiel und auch ein Anfang.

Ich denke auch an Europas digitale Souveränität, auch darüber wird ja zurzeit viel gesprochen. Die ist im digitalen Zeitalter gar nicht mehr zu trennen ist von der außen- und sicherheitspolitischen Souveränität. Und wenn wir uns anschauen, wie die Welt sich entwickelt, was die Digitalisierung uns alles bringen wird und was sie alles verändern wird – gesellschaftlich, wirtschaftlich bis hin tief in unser Privatleben – glaube ich, muss das eine der Prioritäten nicht nur der neuen Kommission werden, sondern der EU insgesamt. Wer digitale Souveränität in heutigen Zeiten will, der braucht auch so etwas wie Plattformsouveränität.

In der digitalen Welt, und das ist immer deutlicher, bilden sich zwei Pole oder zwei Zentren heraus. Das eine ist das Silicon Valley. Es folgt einem klar geordneten, nämlich einem profitmaximierenden Modell. Das andere Zentrum der digitalen Welt wird China sein. Und mit Blick auf die Digitalisierung ist das ein repressives Modell.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das die beiden Modelle sind, mit denen wir es zu tun haben: ein rein profitmaximierendes und ein repressives, glaube ich, täte Europa gut daran, über einen dritten Weg nachzudenken. Und deshalb muss auch beim Mehrjährigen Finanzrahmen, alles was damit zusammenhängt - Technologie, Wissenschaft, Digitalisierung - einer der großen Schwerpunkte und Prioritäten sein und das auch deutlich vor andere Prioritäten aus der Vergangenheit gestellt werden. Ansonsten werden wir uns irgendwann nicht darüber beklagen können, dass wir uns in der digitalen Welt abhängig gemacht haben von zwei Polen, die nach unseren europäischen Werten keine optimalen sind.

Die Diskussion, die wir zurzeit haben, über den 5G-Netzausbau zeigt ja, wo wir stehen. Im Kern geht es darum, wem wir die Sicherheit unserer Daten anvertrauen. Und mir ist wohler dabei, wenn wir dabei auf europäische Lösungen setzen können, anstatt eben auch da technologisch von anderen abhängig zu sein. Und der Haushalt der EU, der nächstes Jahr endverhandelt wird, der muss dies alles widerspiegeln, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Digitale Souveränität heißt aber auch noch mehr: Wir wollen unsere Bürgerinnen und Bürger, unsere Demokratien besser vor Desinformation und vor Hasskriminalität im Internet schützen. Auch das muss ein Schwerpunkt unserer Ratspräsidentschaft werden. Denn letztlich hat es nicht nur damit zu tun, wie Informationen vermittelt werden, sondern auch damit, wie Meinungen gebildet werden. Und Meinungsbildung ist in Demokratien die zentrale Grundlage. Deshalb ist das kein Thema, das zusätzlich irgendwie noch mitbehandelt werden kann, sondern es ist zentral für die Entwicklung demokratischer Prinzipien.

Und schließlich, auch das gehört zur Realität: Europa muss mehr Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen – im ureigenen Interesse. Deshalb werden wir bei der Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten in Europa auch noch viel enger zusammenarbeiten.

Wir wollen Europa als Partner innerhalb der NATO stärken – ganz im Sinne einer besser ausbalancierten transatlantischen Partnerschaft.

Mit Blick auf die Äußerungen von Präsident Macron sage ich ganz offen: Gedankenspiele über eine Entkopplung amerikanischer und europäischer Sicherheit machen mir Sorgen, nicht nur mit Blick auf unsere eigene Sicherheit. Sondern vor allen Dingen, weil ich befürchte, dass sie Europa entzweien.

Wir brauchen aber keine neuen Gräben. Wir brauchen hingegen viel mehr Zusammenhalt und auch mehr Zusammenarbeit.

Und der entsteht auch aus mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Auch das wird uns beschäftigen müssen.

Wir haben uns deshalb vorgenommen, den Wettlauf der Sozialstandards nach unten, den es gibt, auch in der EU, zu stoppen.

  • Durch einen gemeinsamen Rahmen für Mindestlöhne und für die soziale Grundsicherung.
  • Und dadurch, ein Thema, mit dem wir uns schon viel zu lange beschäftigen müssen, noch entschlossener zu bekämpfen: die Jugendarbeitslosigkeit in Europa.

Das ist nicht nur das beste Rezept für Zusammenhalt. Es ist auch die beste Antwort gegenüber den Nationalisten und Populisten, die Europa spalten und uns auseinandertreiben wollen, denn sie setzen immer an diesem Punkt an. Und das dürfen wir nicht zulassen.

Meine Damen und Herren,

die zweite große Baustelle neben der Stärkung Europas ist der Erhalt der viel beschworenen regelbasierten internationalen Ordnung. Sie steht unter Druck wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten.

Ich war in der letzten Woche in Japan auf dem G20-Außenministertreffen, eine illustre Runde von Staaten. Da ging es um Multilateralismus und die regelbasierte Ordnung. Und alle, die da saßen, haben Vorträge gehalten über die Bedeutung des Multilateralismus, über die Bedeutung von „rule of law“. Wenn man dem so zuhörte, hat man überhaupt nicht mehr verstanden, warum das alles international gegenwärtig so unter Druck ist. Das hat etwas damit zu tun, dass es mittlerweile eine immer größere Differenz gibt zwischen Reden und Tun, auch auf der internationalen Bühne. Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. Und deshalb wird es notwendig sein, dagegen etwas zu tun.

Das ist auch einer der Gründe gewesen, warum ich im vergangenen Jahr mit drei meiner Kollegen - dem französischen Kollegen, der kanadischen Kollegin und dem japanischen Kollegen - die Allianz für den Multilateralismus ins Leben gerufen habe. Und mittlerweile, nachdem viele gefragt haben: Was ist das? Was soll das überhaupt? Wer ist dort dabei? Mittlerweile gehören dieser Allianz rund 60 Länder an aus allen Weltregionen. Und das zeigt mir auch: Die Nationalisten mögen Auftrieb haben an der einen oder anderen Stelle. Aber wir, die Multilateralisten, bleiben immer noch ein starkes Gegengewicht und vor allen Dingen gibt es viele, viele Partner international, die wie wir der Auffassung sind, dass wir gerade in diesen Zeiten nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit brauchen.

Und dieses Gewicht nutzen wir auch, um Themen voranzubringen, bei denen die internationale Zusammenarbeit eben ganz besonders gebraucht wird:

  • Bei der Durchsetzung des Humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.
  • Bei der Wahrung von Sicherheit und Demokratie im Cyberraum.
  • Beim Umgang mit den sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels. Ja, der Klimawandel hat nicht nur eine ökologische und eine ökonomische Dimension. Er hat längst eine sicherheitspolitische Dimension. Er wird die Grundlage und die Ursache für Kriege der Zukunft sein.

Und nicht zuletzt bei der Frage, wie wir mit neuen Waffensystemen umgehen - mit Hyperschall-Raketen, Bedrohungen aus dem Cyberspace oder vollautonomen Waffensystemen. In den letzten Jahren hat sich technologisch sehr viel entwickelt. Was sich dagegen überhaupt nicht entwickelt hat, ist das internationale Reglement, das es dazu gibt.

Um ein Beispiel zu nennen, wo die Allianz für den Multilateralismus Ergebnisse vorgelegt hat: Vor wenigen Tagen ist es uns im Rahmen dieser Gruppe in Genf gelungen, einen wichtigen Schritt zur Ächtung sogenannter Killer-Roboter zu tun. 125 Staaten, die wir überzeugen konnten, haben sich dort auf zentrale Grundsätze wie menschliche Verantwortung und Zurechenbarkeit beim Einsatz solcher Waffen geeinigt. Wir haben vor einigen Monaten mit dieser Diskussion angefangen. Da war es noch nicht einmal möglich, sich auf bestimmte Begrifflichkeiten zu verständigen.

Und trotzdem: Wir sind auch damit noch nicht am Ziel. Aber: Dieses Ergebnis wäre nicht möglich gewesen, wenn wir uns nicht innerhalb der Allianz für den Multilateralismus committed hätten und den anderen Staaten geschlossen gegenüber getreten wären.

Meine Damen und Herren,

wir Sozialdemokraten wissen, dass Rüstungswettläufe die Welt kein Stück sicherer machen. Aber, um der Realität ins Auge zu blicken: International müssen wir dieses Verständnis ganz neu aufbauen.

Deswegen haben wir – übrigens erstmals seit sieben Jahren – das Thema nukleare Abrüstung wieder auf die Tagesordnung im Sicherheitsrat gesetzt. Ganze sieben Jahre lang ist im Sicherheitsrat über dieses Thema kein Wort verloren worden. Und wir verfolgen es auch weiter, zum Beispiel mit unseren Partnern der Stockholm-Initiative, die sich Anfang nächsten Jahres hier in Berlin treffen werden.

Schon jetzt zahlt es sich aus, dass wir im Sicherheitsrat auch solche Querschnittsfragen zum Thema machen. Natürlich lassen sich so nicht alle Blockaden auflösen, die es zurzeit in New York gibt und das sind viele. Aber wir sind einem Ziel nähergekommen: Dass der Sicherheitsrat von einem reinen Krisenreaktionsgremium vielmehr endlich zu einem Krisenpräventionsgremium wird!

Und noch etwas hat sich auch aus unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat entwickelt: Deutschland wird gefragt, ist gefragt und gefordert, es gibt Erwartungen an uns, wenn es um die Lösung internationaler Krisen und Konflikte geht.

  • Als Teil der Small Group zu Syrien unterstützen wir den politischen Prozess, der durch die Bildung des Verfassungskomitees in Genf vor wenigen Tagen nun endlich in einer neuen Phase ist. Vor etwas mehr als einem Jahr waren wir noch nicht einmal Mitglied in dieser Runde.
  • In Libyen ist der so genannte „Berliner Prozess“ mittlerweile das „game in town“. Weil wir einerseits die Rolle des VN-Sonderbeauftragten in den innerlibyschen Gesprächen stärken. Und andererseits die internationalen Akteure einbinden, die Libyen zum Schauplatz ihrer Stellvertreterkriege gemacht haben. Und wir wollen für Libyen zu Beginn des nächsten Jahres dazu auch einen Gipfel auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs ausrichten und bereiten das zurzeit vor. Dass das nicht einfach ist bei der Situation, die wir im Moment in Libyen haben, können Sie sich vorstellen. Es gibt auch keine Gewähr dafür, dass es ein Ergebnis geben wird. Aber ich glaube, wir sind näher an einem Ergebnis, als das bei allen Libyen-Konferenzen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, der Fall gewesen ist.
  • Und im Ukraine-Konflikt steuern wir auf den ersten Gipfel im Normandie-Format seit über drei Jahren zu. Jetzt zahlt sich aus, dass wir an diesem Verhandlungskanal festgehalten haben. Und dass wir auch auf kleine Fortschritte und vertrauensbildende Maßnahmen hingearbeitet haben – sei es bei der Entflechtung von Kampfverbänden, die Öffnung von Brücken oder den Austausch von Gefangenen.

Meine Damen und Herren,

für mich ist all das Ausdruck einer durch und durch sozialdemokratischen Außenpolitik. Einer Politik, die auf Diplomatie, auf Vermittlung, aufden Aufbau besserer Beziehung und den gleichzeitigen Abbau von Spannungen setzt. Und die sich dabei auch nicht drückt vor internationaler Verantwortung.

Internationale Solidarität, der Einsatz für Frieden und Menschenrechte - das ist seit über 150 Jahren der Wesenskern der Sozialdemokratie. Und das muss auch unter veränderten internationalen Vorzeichen so bleiben!

Ich habe zu Beginn von „memory bias“ gesprochen und welche Risiken das birgt. Wenn es aber etwas gibt, das dagegen hilft, dann ist es, miteinander zu reden, und auf Veranstaltungen wie dieser auch unterschiedliche Auffassungen zusammenzubringen.

Und deshalb ist das, was hier stattfindet, lieber Kurt, ein wichtiger Baustein. Wenn wir darüber reden, dass wir in Zeiten leben, in denen wir mehr internationale Zusammenarbeit brauchen und nicht weniger, dann gilt das nicht nur für die Gremien innerhalb der EU oder der Vereinten Nationen, sondern es gilt auch für politische Parteien, für Stiftungen, für die Zivilgesellschaft.

Deshalb möchte ich der Friedrich-Ebert-Stiftung und Dir, lieber Kurt, ganz herzlich dafür danken, dass Ihr mit der Tiergarten-Konferenz ein Forum schafft, in dem wir darüber sprechen können, was sich ändern muss und was die Konsequenzen aus der Zeitenwende sind, die wir gerade erleben.

Einige der Auffassungen, die uns umtreiben und mögliche Lösungsansätze habe ich versucht darzustellen.

Wichtig ist mir dabei eines, auch mit Blick auf aktuelle Diskussionen und ihre öffentliche Perzeption: Deutsche Außenpolitik und auch sozialdemokratische Außenpolitik kann und darf nie disruptiv sein, sondern sie muss der disruptiven Realität etwas entgegenstellen. Im Moment geht es viel darum, wer neue Vorschläge macht, wer vorangeht. Ich habe den Eindruck: Die wenigsten all der Vorschläge, die im Moment im öffentlichen Raum kursieren, führen zu irgendwelchen operativen Ergebnissen. Und deshalb müssen wir endlich dazu kommen, dass es nicht nur um einen Ideenwettbewerb geht. Ein Ideenwettbewerb ist schön, eine gute Grundlage. Aber aufgrund der Entwicklung, die ich beschrieben habe, kann es nicht darum gehen, wessen Außenpolitik die disruptivste ist. Sondern es geht darum, wer die Grundsätze und vor allen Dingen die Fähigkeiten hat, die Dinge zusammenzuhalten - die EU, die Vereinten Nationen, eine Vielzahl von internationalen Verträgen, die es gibt. Ich glaube, das muss immer der Wesenskern sozialdemokratischer Außenpolitik sein und darum werden wir uns gerade jetzt noch mehr bemühen müssen, als das vielleicht in der Vergangenheit schon der Fall gewesen ist.

Herzlichen Dank!


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