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Rede von Außenminister Heiko Maas zur Ausstellungseröffnung „Studio Bosporus“der Kulturakademie Tarabya
Ich freue mich, dass heute so viele hierher gekommen sind. Ich freue mich auch, da ich 9 Stunden Bundestagsdebatte hinter mir habe. Mir hilft jetzt nur noch Kultur.
Meine Damen und Herren,
„Jedes Kunstwerk ist die Übersetzung des Lebens in eine Sprache“.
Der Bildhauer Georg Kolbe beschrieb mit diesen Worten seine Vorstellung von dem, was er unter künstlerischer Freiheit verstand.
Der Berliner Kolbe hatte zumindest ein Stück dieser Freiheit vor 100 Jahren in Tarabya gefunden.
1917 war er dem Ruf des deutschen Botschafters in Konstantinopel gefolgt, der während seiner Amtszeit versuchte, Künstler dorthin zu bringen.
Georg Kolbe nahm dieses Angebot an und er ist damit auch eine Art Vorgänger der 70 Stipendiaten, die seit der Eröffnung der Kulturakademie Tarabya vor sechs Jahren einige Monate zu Gast auf dem Gelände am Bosporus gewesen sind.
Die Stipendiaten und Besucher werden einige Werke kennen, die Kolbe dort, in Tarabya, schuf. Und auch das Teehaus im Garten der Residenz, in dem Georg Kolbe ein Atelier bezogen hatte.
Er blieb insgesamt zwei Jahre in Konstantinopel und hatte seinen Aufenthalt in Tarabya zeitlebens als „paradiesisch“ bezeichnet.
Dass auch die heutigen Stipendiaten ihre Zeit als paradiesisch in Erinnerung behalten, das kann ich vielleicht hoffen, aber nicht beurteilen. Ich hoffe zumindest, dass sie für sie prägend gewesen ist.
Die Werkschau „Studio Bosporus“, die Sie hier im Hamburger Bahnhof sehen können, verdeutlicht eindrucksvoll, dass einiges hängengeblieben zu sein scheint. Film, Literatur, Performance oder Musik - die Vielfalt der Arbeiten, die man hier sehen kann, ist wirklich bemerkenswert.
Sie zeigen vor allem, wie intensiv sich die Stipendiaten in Tarabya mit der aktuellen Lage in der Türkei – und auch in Deutschland auseinandergesetzt haben.
Sie haben – frei nach Georg Kolbe – das Leben in die Sprache der Kunst übersetzt und gleichzeitig das Leben durch Ihre Kunst bereichert.
Deutschland und die Türkei, aber auch die Komplexität der deutsch-türkischen Beziehungen dienten dabei oft als Inspiration und auch Projektionsfläche zugleich. Ich finde, das macht den Reiz, aber vor allen Dingen die Aktualität vieler der Werke aus.
Es gibt kaum ein anderes Land, zu dem Deutschland engere menschliche Beziehungen hat als zur Türkei.
Menschen mit türkischen Wurzeln prägen unsere Gesellschaft. Umgekehrt nehmen viele, die hier gelebt haben und in die Türkei zurückgekehrt sind, ihre Erfahrungen aus Deutschland mit.
Diese Menschen, die sich instinktiv in beiden Kulturen bewegen, sind eine ganz besondere Stütze in unseren Beziehungen.
Wir beobachten in letzter Zeit aber auch, dass politische Konflikte, die in der Türkei ausgetragen werden, auch hier bei uns spaltend wirken, teils auch bewusst geschürt. Das wollen wir nicht zulassen.
Deshalb setzen wir alles daran, vor allen Dingen das Verbindende zu stärken.
- Dabei denke ich zum Beispiel an die vielen Städtepartnerschaften, die zwischen unseren Ländern seit den 60er Jahren geschaffen wurden. Mit einem Treffen in Berlin im Februar möchten wir die beinahe 100 Partnerschaften und damit den Austausch zwischen den Menschen in unseren Ländern stärken.
- Ich denke aber auch an die Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul. Alleine in den letzten beiden Jahren hat sich die Anzahl der Studierenden auf knapp 2.000 verdoppelt. Jede und jeder von ihnen steht für das Verbindende zwischen Deutschland und der Türkei.
- Und ich denke an die deutsch-türkische Jugendbrücke, diese Brücke, die junge Menschen auch aus nichtakademischen Kontexten beider Länder zusammenbringt und ihnen ermöglicht, Freundschaften zu knüpfen und einen vorurteilsfreien Blick auf das jeweils andere Land zu werfen.
Meine Damen und Herren,
die Kulturakademie ist ein Herzstück dieses Engagements. Sie, liebe Frau Vlasman, haben dies nach ihrem Aufenthalt in diesem Jahr sehr plastisch beschrieben, als Sie sagten:
„Meine türkischen Freunde kommen mir wie Schwämme vor, die unsere Ansichten und Erfahrungen aufsaugen wollen. Das Vertrauen ist gewachsen, sie reden offener über die Zustände in der Türkei. Ich bin genauso ein Schwamm und sauge alles auf, was meine Freunde mir erzählen.“
Sie beschreiben damit zum einen die wunderbare Wechselwirkung des Programms der Kulturakademie, die produktive Reibung, die eben durch diesen Austausch entsteht.
Ein Produkt dieser Reibung werden wir gleich mit dem zeitgenössischen Tarabya-Ensemble genießen können, in dem Sie gemeinsam mit deutschen und türkischen Musikern spielen.
Zum anderen spricht aus Ihren Worten, Frau Vlasmann, aber auch die Sorge um die politische Situation in der Türkei, in der Künstler und Kulturschaffende zunehmend unter Druck geraten. Eine Sorge, die, wie ich glaube, von uns allen geteilt wird.
Denn die Übersetzung des Lebens in Sprache, in die Sprache der Kunst, die gelingt nur, wenn diese Sprache keiner Einschränkung von außen unterliegt. Kunst muss frei sein. Und Künstler müssen frei sein.
Deshalb können wir es auch nicht stillschweigend hinnehmen, wenn Menschen wie Osman Kavala über Monate ohne Anklage in Haft sitzen. Gerade Osman Kavala ist ein wichtiger Partner für unsere Kulturarbeit in der Türkei.
Gemeinsam haben wir unter anderem das Projekt „Orte der Kultur“ erarbeitet, mit dem wir künstlerisches Schaffen und den Austausch über Kunst auch jenseits der großen Metropolen in der Türkei fördern.
Wir haben Osman Kavalas Fall nicht vergessen und wir werden ihn auch nicht vergessen. Wir erwarten, und das haben wir kürzlich den türkischen Verantwortlichen noch einmal gesagt, ein zügiges, vor allen Dingen aber ein faires Verfahren.
Und erst letzten Freitag hat uns die Nachricht erreicht, dass weitere Kulturschaffende und Wissenschaftler vorübergehend festgenommen worden sind.
Darunter Hakan Altınay, der Leiter der “European School of Politics”, den ich erst im September dort getroffen habe. Oder Asena Günal, die heute eigentlich hier sein wollte, um gemeinsam mit uns zu diskutieren und nun wegen einer Ausreisesperre nicht kommen konnte.
Wir haben in den letzten Tagen deshalb erneut sehr deutlich gemacht, dass die Türkei die rechtsstaatlichen Standards einhalten muss, zu denen sie sich selbst verpflichtet hat.
Wissenschaft und Kultur benötigen Freiräume.
Und nur, wenn es uns gelingt, diese Freiräume zu bewahren und Künstler zu schützen, dann können sie ihre kreative und aufklärende Kraft zur Geltung bringen. Dazu wollen wir unseren Teil beitragen.
Die vom Auswärtigen Amt geförderte Philipp-Schwartz-Initiative und die neue Martin Roth-Initiative sind Teil genau dieser Politik.
Mit diesen Initiativen wollen wir Wissenschaftler, Kunst- und Kulturschaffende schützen, die sich in ihrer Heimat für die Freiheit der Kunst, Demokratie und Menschenrechte engagieren, indem wir ihnen temporäre Aufenthalte in Deutschland oder in Drittstaaten ermöglichen. Ein großer Teil der Geförderten kommt schon jetzt aus der Türkei.
Meine Damen und Herren,
Martin Roth hat einmal gesagt: „Kunst muss politisch sein“.
Als Politiker bin ich zurückhaltend, der Kunst zu sagen, was sie zu tun hat. Aber eines ist für mich auch klar: Kunst muss politisch sein dürfen.
Wir müssen aushalten, wenn Kunst irritiert - etwa, indem sie die Aufmerksamkeit auf Missstände lenkt, zu denen manche gerne schweigen würden. So wie Regisseur und Tarabya-Stipendiat Tuğsal Moğul dies tut.
In einem eindrucksvollen Film, der nun hier auch im Hamburger Bahnhof zu sehen ist, erinnert er an die vielen Fragen im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren gegen die Beteiligten, an den schrecklichen Morden, die der sogenannte nationalsozialistische Untergrund in den Jahren 2000 bis 2007 verübt hat.
Es gibt Stimmen hierzulande, die diesen Komplex mit der rechtstaatlichen Aufarbeitung in Deutschland als abgeschlossen sehen. Aber unter ein solches Verbrechen lässt sich nicht einfach ein Schlussstrich ziehen. Kein Schlussstrich, solange der Schmerz der Angehörigen bleibt und trotz Gerichtsverfahren viele Fragen unbeantwortet sind. Und genau das macht dieser Film deutlich.
Meine Damen und Herren,
die Kulturakademie Tarabya war der Freiraum, in dem dieses und die anderen hier ausgestellten Werke entstehen konnten. 100 Jahre nach Georg Kolbes Aufenthalt ist Tarabya ein Freiraum, in dem sich türkisches und deutsches Leben gegenseitig bereichert und in Sprache übersetzen lässt.
Lassen sie uns diese Freiräume bewahren - nicht nur in Tarabya, sondern in Deutschland, in der Türkei, überall auf der Welt.
Herzlichen Dank!