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„Ich hoffe, dass Corona die Welt nicht dauerhaft verändert“

01.11.2020 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit dem Tagesspiegel

Herr Außenminister, am Montag beginnt der zweite Corona-Lockdown. Können Sie in Zeiten der Corona-Pandemie garantieren, dass Deutschland seine Grenzen zu den Nachbarländern offenhält?

Ja, die Grenzen werden offenbleiben. Wir haben im Frühjahr genügend Erfahrungen gemacht, wie wir Kontrollen organisieren, falls sie notwendig werden. Ich bin sicher, dass wir Staus an der Grenze, die Dutzende von Kilometern lang sind, nicht sehen werden.

Im Frühjahr wurden solche Staus ja nicht durch Deutschland ausgelöst, sondern zum Beispiel durch Polen. Stimmen Sie sich mit den Amtskollegen ab, damit so etwas nicht mehr passiert?

Das tue ich nahezu täglich. Wir halten uns insbesondere gegenseitig auf dem Laufenden, welche Entscheidungen wir fällen müssen, die andere betreffen, wie etwa die Reisewarnungen. Ich sehe kein Nachbarland, das leichtfertig dazu beitragen will, dass wir die Grenzen dicht machen. 50-Kilometer-Staus sind ja auch nicht im Interesse Polens – weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich.

Offene Grenzen, das gilt auch für Tschechien mit seinen enorm hohen Zahlen an Infizierten?

In Tschechien sind die Zahlen schon länger höher als bei uns. Wir haben insofern klare Quarantäne-Bestimmungen in Kraft gesetzt. Der Grenzverkehr ist ja ohnehin schon auf das unbedingt Notwendige reduziert worden. Es stimmt, dass Reiserückkehrer nach dem Sommer zum Anstieg der Infektionen beigetragen haben. Darauf mussten wir reagieren und haben viele Regionen innerhalb der EU zum Risikogebiet erklärt. Daraufhin sank der Anteil der Infektionen signifikant, der von rückkehrenden Touristen herrührte.

Wird Corona die Welt verändern?

Das hat die Pandemie längst getan. Ich hoffe, dass sie es nicht dauerhaft tun wird.

Funktioniert Außenpolitik nur per Video?

Ich hatte noch nie ein politisches Amt, in dem die persönliche Begegnung und gegenseitiges Vertrauen so wichtig ist wie in der Außenpolitik. Zurzeit profitiere ich davon, dass ich in den ersten beiden Jahren meiner Amtszeit sehr viel gereist bin und so viele vertrauensvolle menschliche Beziehungen aufbauen konnte. Da ich zahlreiche meiner Kolleginnen und Kollegen heute gut kenne, können wir vieles auch per Video klären. Jemanden über eine Videokonferenz neu vertrauensvoll kennenzulernen ist natürlich viel schwerer. Wer jetzt anfangen müsste in dieser Zeit, hätte es echt schwer. In einer Videokonferenz schaltet man einfach ein und schnell wieder ab. Wenn man aber irgendwo 4000 Kilometer hinfliegt, sich auch mal unter vier Augen in Ruhe besprechen kann, dann weiß der jeweilige Gastgeber, ich kann den andern nicht einfach so wieder nach Hause fahren lassen, als wenn er gar nicht da gewesen wäre. Da erreicht man mehr.

Viele haben in der Krise mit dem Finger US-Präsident Trump gezeigt. Nun steigen aber die Infektionszahlen in der EU noch schneller als in den USA. Machen wir wirklich alles richtig?

Was ich aus dem Ausland an Reaktionen wahrgenommen habe, war eher eine Mischung aus Bewunderung und dem Wunsch, es ähnlich zu machen. Wer unsere Situation mit der anderer Länder vergleicht, kommt zu dem Schluss: Deutschland steht so schlecht nicht da. Die Lage bei uns ist angespannt. Wir sind gezwungen, den Menschen einiges an Einschränkungen zuzumuten. Viele Menschen in Deutschland sind in den vergangenen Monaten über sich hinausgewachsen - überall: in den Krankenhäuser und Gesundheitsämtern, in den Schulen und Kitas, in den Unternehmen oder in den Familien. Diesem Einsatz haben wir es zu verdanken, dass wir bislang besser durch die Coronakrise kommen als einige andere. Aber uns steht ein harter Winter bevor.

Die Corona-Politik von Donald Trump steht am Dienstag bei der US-Präsidentschaftswahl auch zur Abstimmung. Mal ganz ehrlich, wie sehr drücken Sie Joe Biden die Daumen?

Es wäre gefährlich, wenn ich als Außenminister persönliche Wünsche für den Ausgang für Wahlen in anderen Ländern formulieren würde. Es ist nicht unsere Entscheidung, sondern die demokratische Wahl der Amerikanerinnen und Amerikaner. Was ich mir wünsche ist, dass eintritt, was wir von den Amerikanern gelernt haben: Dass Regeln der Demokratie von allen akzeptiert werden. Dazu gehört, dass es nicht nur strahlende Sieger gibt, sondern auch gute Verlierer. Und: Die Kultur eines zivilen Umgangs unter Demokraten. Wir werden danach mit jedem Wahlergebnis umgehen müssen.

Das heißt?

Ich wünsche mir sehr, dass das transatlantische Verhältnis besser wird.

Was konkret?

Auch unter Präsident Barack Obama gab es schon Meinungsunterschiede zwischen beiden Seiten. Aber damals hat man miteinander geredet, man hat sich konsultiert gerade auch wenn man unterschiedliche Auffassungen vertrat. Leider gibt es solche funktionierenden Konsultationsprozesse mit dem amtierenden Präsidenten nicht. Das untergräbt Vertrauen. Und die Profiteure unserer Differenzen sitzen am Ende in Moskau und Peking. Wir brauchen deshalb dringend einen Neuanfang im transatlantischen Verhältnis.

Wann haben Sie zuletzt mit US-Außenminister Mike Pompeo gesprochen?

Vor einigen Wochen. Wir beide reden offen über alle Fragen, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Ich denke da an das Atomabkommen mit und das Waffenembargo gegen den Iran. Es sind die Tweets des Präsidenten, bei denen ich den Eindruck habe, dass nicht nur wir Europäer, sondern sogar Teile der US-Administration von ihnen überrascht werden. Wir waren nicht die einzigen, die erst aus der Presse erfahren haben, dass Präsident Trump die Hälfte aller US-Soldaten aus Deutschland abziehen will. Für unser Verhältnis ist so ein Umgang in sehr sensiblen Fragen mehr als problematisch.

Nimmt Sie das persönlich mit?

Mich beschäftigt das sehr. Die USA sind unser wichtigster Partner außerhalb Europas. Uns leiten die gleichen Werte. Wir brauchen die USA, wenn wir weltweit diese Werte verteidigen wollen.

Wenn Joe Biden gewinnt, was wird sich dann ändern?

Die USA werden auch unter einem neuen Präsidenten bei dem Kurs bleiben, dass sie sich schrittweise aus bestimmten Interessensphären zurückziehen. Aber wir sollten wieder im selben Team spielen. Die gesellschaftliche Spaltung in unseren Ländern nimmt zu. Diese Entwicklungen bei der Wurzel zu packen, darin liegt eine der größten Zukunftsaufgaben für Amerikaner, Deutsche und Europäer. Das wird leichter, wenn wir sie gemeinsam angehen, wenn wir uns wieder besser zuhören und voneinander lernen. So wie Partner und Freunde es eben tun. Wir werden schnell nach der Wahl mit Vorschlägen auf Washington zugehen – und einen transatlantischen „New Deal“ vorschlagen. Wir brauchen ein neues gemeinsames Verständnis über die globalen „Spielregeln“. Handel und Klimaschutz - auch die Corona-Pandemie - sind Bereiche, in denen rein nationale Antworten zu kurz greifen.

Es gibt in der SPD starke Stimmen, die wegen Trump den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland fordern. Könnten unter einem Präsidenten Joe Biden die Atomwaffen bleiben?

Erstmal geht es darum, das deutsch-amerikanische Verhältnis zu entspannen. Schauen Sie sich Umfragen an: Die Meinung der Deutschen über die USA hat sich in den vergangenen vier Jahren massiv verschlechtert. Die Menschen haben genau registriert, wie schwierig die Zusammenarbeit mit der Trump-Administration geworden ist. Wir mussten uns anhören, dass Trump China, Russland und die EU in einem Atemzug als die größten Gegner der USA bezeichnete. Das muss ein Ende haben.

Würden Sie die USA noch als Schutzmacht bezeichnen?

Wir brauchen die Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Jetzt und auch in Zukunft. Hier in Europa und darüber hinaus. Aber: Wir werden weiter in europäische Sicherheit investieren, um selbst souveräner zu werden. Darin liegt keine Abkehr von der transatlantischen Partnerschaft, im Gegenteil: Nur ein Europa, das glaubhafte Anstrengungen unternimmt, seine eigenen Sicherheitsinteressen auch eigenständig wahrzunehmen, wird ein attraktiver Partner für die USA bleiben.

Wenn Sie die Kandidaten unter dem Aspekt der Außenpolitik betrachten, zu welchen Schlüssen kommen Sie dann?

Sie stehen für unterschiedliche Politikansätze. Joe Biden steht in der Tradition, die multilaterale Zusammenarbeit als Stärke Amerikas sieht. Dahinter steht die Einsicht, dass einzelne Nationen nicht mit den großen Herausforderungen dieser Welt wie der Globalisierung, dem Digitalisierung, dem Klimawandel, der Migration und oder der Pandemie umgehen können, sondern dass es internationale Lösungen braucht. Alles, womit wir es zu tun haben, ist grenzenlos geworden.

Wenn es für Ihre bisherige Amtszeit eine Überschrift gibt, dann lautet die: Multilateralismus…

Ja, weil ich überzeugt bin: Wenn wir die Probleme unserer Zeit lösen wollen, können wir das nur durch internationale Zusammenarbeit tun. Deshalb halte ich die Rückbesinnung auf das rein Nationale für so fatal. Die gibt es ja leider nicht nur in den USA. Wer den Menschen weismachen will, die großen Herausforderungen könnten durch nationale Alleingänge geschultert werden, begeht einen großen Betrug. Die Zukunft der Welt wird verheerend aussehen, wenn wir die großen Fragen unserer Zeit nicht gemeinsam angehen.

Lange galt Deutschland als wirtschaftlicher Riese und diplomatischer Zwerg.

Einspruch. Vergangene Woche hat mir etwa meine südafrikanische Kollegin Maite Emily Nkoana-Mashabane gesagt, was ich überall höre, wenn ich in anderen Ländern unterwegs bin: Deutschland genießt nahezu auf der ganzen Welt großes Vertrauen. Einer der Hauptgründe: Niemand geht davon aus, dass wir eine „hidden agenda“ haben, also heimliche Interessen verfolgen. Das war so, als wir im Sommer die EU-Ratspräsidentschaft übernommen haben. Das war so, als wir vor zwei Jahren als nichtständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt wurden. Die Art und Weise, wie die deutsche Diplomatie funktioniert, ist vielleicht nicht so laut wie die anderer Staaten. Aber das muss sie nicht weniger wirksam machen. Deshalb sind die Erwartungen an uns so hoch, Verantwortung in der Welt zu übernehmen.

Wo wird Deutschland dieser Verantwortung gerecht?

In der Ukraine haben wir zusammen mit den Franzosen verhindert, dass es zum offenen Krieg kam. Wir sorgen mit dafür, dass der Waffenstillstand hält. Die Verhandlungen zum Waffenstillstand in Libyen wurden unter unserer Führung eingeleitet. Jetzt endlich beginnen diese Bemühungen Früchte zu tragen. Die US-Regierung bittet uns, die Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, die in Katar begonnen haben, zu steuern und möglicherweise in Deutschland zu beherbergen. Das sind nur einige Beispiele. Wir übernehmen uns nicht. Aber wir werden unserer Verantwortung gerecht.

Was bedeutet das für den Umgang mit dem zunehmend aggressiveren China?

Das Wichtigste ist, dass wir eine europäische China-Strategie haben. Die Bundesregierung hat in enger Abstimmung mit der EU-Kommission ihre China-Politik in den vergangenen Monaten neu justiert. Alle haben verstanden, dass China nicht nur Handelspartner, sondern auch ein systemischer Rivale ist. Wir sprechen die Probleme sehr offen an, etwa die Verfolgung der Uiguren, die Sicherheitsfragen im südchinesischen Meer, die Verletzung des Autonomieabkommens für Hongkong. Der chinesische Anbieter Huawei will unser 5-G-Netz ausbauen. Wir werden Regeln für die Vergabe festlegen, die nicht nur ökonomischen Kriterien gehorcht, sondern Fragen unserer Sicherheit sehr ernst nehmen.

Wäre es nicht an der Zeit ein Exempel zu statuieren, Ausschluss von Huawei?

Wir legen gerade die Sicherheitskriterien fest. Ich glaube, dass die Digitalisierung der Welt per se dazu führen wird, dass immer mehr politische Macht digital verteilt wird. Und dann kann es nicht in unserem europäischen Interesse sein, uns in eine zu große Abhängigkeit zu begeben von einem Unternehmen, das einem Staat zuzuordnen ist, den ich als systemischen Rivalen bezeichne.

Hat Europa hier nicht den Anschluss verpasst?

Wir haben jetzt die EU-Ratspräsidentschaft, und einer unserer wichtigsten Punkte ist mehr europäische Souveränität. Wir dürfen nicht zum Spielball der Großmächte, USA, Russland und China, werden. Bei der Digitalisierung wird das sehr deutlich. Es bilden sich zwei digitale Pole auf der Welt. Der eine ist der amerikanische. Es ist das Silicon Valley, ein rein profitmaximiertes Modell. Das chinesische Modell ist eines, das die Digitalisierung auch nutzt zu massiver Kontrolle. Ich finde, beide Modelle entsprechen nicht dem, was wir als europäische Werte empfinden.

Daraus folgt?

Vom Router bis zur Cloud, müssen wir durch eigene Lösungen und Unternehmen viel souveräner sein und dürfen uns nicht in Abhängigkeiten begeben, weder nach Westen noch nach Osten.

In den USA verfolgen starke Kräfte den Kurs des „Decouplings“ gegenüber China, sie wollen eine Entflechtung, die die gegenseitige Abhängigkeit aufhebt. Ist das für Sie eine Option?

Das ist eine diplomatische Grundsatzfrage: China ist sehr mächtig geworden in den vergangenen Jahren, politisch, wirtschaftlich, militärisch. Glauben wir, dass wir dieses Land durch komplettes „Decoupling“ bändigen können? Das halte ich für keinen gewinnbringenden Ansatz.

Als Saarländer haben Sie eine große Nähe zu Frankreich, versuchen mit Paris all die Probleme in der Außenpolitik zu bekämpfen. Müsste nicht gerade jetzt, wo wir im Nachbarland eine neue, vom türkischen Präsidenten angestachelte Terrorwelle dort erleben, die politische Linke in Deutschland viel lauter die Stimme gegen den Islamismus erheben, so wie es Kevin Kühnert fordert?

Ich finde, dass es völlig egal ist, ob man in der Mitte, links oder rechts in der politischen Landschaft steht. Darauf gibt es nur eine Antwort, die ist null Toleranz. Islamistischer Terror ist ein Angriff auf unsere liberalen Demokratien. Dieser Terror will die Art und Weise, wie wir hier zusammenleben, nicht nur beschädigen, sondern zerstören. Deshalb muss man sehr, sehr konsequent dagegen vorgehen.

So richtig groß war die Debatte nicht, als der Lehrer Samuel Paty enthauptet worden ist?

Ich würde mal sagen, es ist durchaus angebracht, sich mit dem Thema etwas intensiver auseinanderzusetzen, als es vielleicht an der einen oder anderen Stelle der Fall ist.

Stecken wir schon in einem Kulturkampf?

Der Begriff ist zumindest literarisch ja schon vor langer Zeit geprägt worden.

Sie meinen Samuel Huntington „Kampf der Kulturen“?

Ja, ich würde es nicht als einen Kulturkampf bezeichnen. Aber wir leben in einer Welt, in der völlig unterschiedliche kulturelle Werte aufeinandertreffen und in der es uns bisher nicht gelungen ist, das zu einem Ausgleich zu bringen. Auch das ist eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam angehen können. Wir müssen zusammen für mehr Freiheit und Respekt in unseren Gesellschaften arbeiten. Und daran, dass Menschen trotz unterschiedlicher kultureller und religiöser Zusammenhängen miteinander klarkommen.

Es ist ein dramatischer Konflikt zwischen zwei Nato-Mitgliedern, kann Präsident Erdogan noch ein verlässlicher Partner für uns sein?

Das entscheidet Präsident Erdogan letztlich durch sein Verhalten selbst. Ich denke nicht, dass es den Interessen der Türkei entspricht, sich komplett von Europa abzuwenden und von den Werten, die wir in Europa haben. Die türkische Regierung muss auch ein Interesse daran haben, dass der Wohlstand in ihrem Land gesichert wird. Und das wird nicht der Fall sein mit einem isolationistischen Kurs.

Interview: Georg Ismar, Hans Monath und Mathias Müller von Blumencron

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