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„Offener Diskurs über Grenzen hinweg“

01.06.2019 - Interview

Außenminister Heiko Maas über ein Europa der Kultur, das Vorbild Alexander von Humboldts und die Bedeutung des Dialogs auf Augenhöhe

Herr Minister, was bedeutet Ihnen der Begriff der Kulturnation?

Es geht weniger um den Begriff als um seinen Inhalt: Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik. Ich setze mich im Ausland und im Inland dafür ein, dass unser Land auch weiter eine Kulturnation ist. Das bedeutet auf der einen Seite selbstbewusste Bescheidenheit für die eigenen Leistungen, auf der anderen Seite große Offenheit für die Leistungen anderer – auf dem Weg zu mehr gemeinsamer Kultur. Das Kernthema für mich ist dabei der Zugang zu Kultur und Bildung, und zwar über soziale, politische und wirtschaftliche Grenzen hinweg.

Gibt es so etwas wie eine europäische Kultur, ein kulturelles europäisches Erbe?

Natürlich gibt es das, und das sollten wir nicht nur bemerken, wenn es bedroht oder zerstört wird – so wie beim furchtbaren Brand der Notre Dame zum Beispiel. Wir sollten aber auch nicht meinen, solch ein Erbe würde sich einfach so finden lassen, sondern wir sollten gemeinsam daran arbeiten, es weiter zu gestalten. Kultur ist die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Wenn wir also eine europäische Gesellschaft schaffen wollen, dann müssen wir auch an einem Europa der Kultur arbeiten. Und genau das tun wir mit unserer Kulturpolitik und erst recht während unserer EU-Ratspräsidentschaft nächstes Jahr.

2019 begehen wir das Humboldt-Jahr. Was können wir heute von dem Wissenschaftler, Schriftsteller und Diplomaten Alexander von Humboldt lernen?

Alexander von Humboldt war globaler Netzwerker und aufgeklärter Weltbürger. Er dachte ganzheitlich und war von einem Austausch von Ideen, Wissen und Sichtweisen auf Augenhöhe überzeugt. Auch heute können wir viel von ihm lernen: die Welt mit offenen Augen zu betrachten, neugierig zu bleiben und Erkenntnisse durch eigene Erfahrungen und nicht vom Schreibtisch aus zu gewinnen. Seine Offenheit, sein Einsatz für freiheitliche Werte und Gerechtigkeit, für die Popularisierung der Wissenschaft und für drängende Herausforderungen wie den Umweltschutz – und das schon vor 220 Jahren – sind heute ebenso aktuell wie die Einsicht, dass wir diese Themen nur gemeinsam und über Länder- und Wissenschaftsgrenzen hinweg angehen können.

Was versprechen Sie sich vom Deutschland-Jahr in den USA, das gerade Halbzeit feiert?

Mit der Kampagne #wunderbartogether wollen wir eines klarmachen: In Zeiten, in denen der Atlantik politisch breiter wird, ist uns die Freundschaft mit den Amerikanern sehr wichtig. Wir wollen neue Netzwerke aufbauen und Beziehungen pflegen, die wir vielleicht zu lange vernachlässigt haben. Seit Oktober 2018 und bis Ende 2019 schaffen wir deshalb bei über 1.500 Veranstaltungen in allen Bundesstaaten Gelegenheiten zum Austausch – mit Beiträgen zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten, zu Wirtschafts- und Nachhaltigkeitsthemen, mit Bildungsangeboten und mit vielen kulturellen Highlights. Wir wollen die Menschen erreichen, nicht nur an den Küsten, sondern – das ist mir besonders wichtig – auch im Herzen des Landes.

Wird Auswärtige Kulturpolitik in Krisenzeiten wichtiger oder schwächer?

Wir nehmen zunehmend wahr, dass kulturelle Freiheit in vielen Ländern bedroht wird. Kulturschaffende werden in ihrem Wirken behindert, inhaftiert oder angegriffen. Weltkulturerbe wird zerstört. Zwangsläufig stellt sich die Frage: Tun wir genug, um kulturelle Freiheit und Kulturgüter zu schützen? Sicher nicht genug, um auf alle Herausforderungen zu reagieren, aber mehr als jemals zuvor: Sowohl beim Schutz von Kulturgütern als auch bei dem ersten deutschen Stipendienprogramm für science at risk oder dem ersten Bundesprogramm für artists at risk setzen wir uns für kulturelle Freiheit ein. Wir setzen das Thema darüber hinaus auch aktiv auf die politische Agenda in New York und Brüssel.

Ist es noch zeitgemäß, über Kulturexport unsere westlichen Werte in die Welt hinauszutragen?

Meine Kulturaußenpolitik steht unter dem Zeichen von Kooperation, Koproduktion und des Zugangs zu Kultur und Bildung. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein klares Bekenntnis zu unveräußerlichen und universellen Menschenrechten sind Fundament unserer Gesellschaft und Herzstück der Europäischen Union. Insbesondere Populisten und Nationalisten meinen, einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu haben, neue Verunsicherungen mit alten Parolen beantworten zu können. Dieser Diskurs wird längst geführt; dem dürfen wir uns nicht entziehen! Ich bin der festen Überzeugung, dass es dazu keines erhobenen Zeigefingers und keines Exports deutscher Kultur bedarf, sondern vielmehr eines offenen Austauschs und einer ehrlich gemeinten Zusammenarbeit.

Was erwarten Sie vom Humboldt Forum in Berlin?

Über das Humboldt Forum ist in den vergangenen Jahren vieles geschrieben und noch mehr gesagt worden: Es möge ein Fenster sein für den Blick in die Welt und der Welt auf uns, eine Agora für den Austausch von Ideen und ein Forschungslabor. Denn sicher ist: Die großen Fragen unserer Zeit – von Klimawandel zu Migration – können wir nicht nur an den Konferenztischen dieser Welt verhandeln. Vielmehr braucht es aktive, kritische und kreative Zivilgesellschaften, die einen offenen Diskurs über Mauern und Zäune, Grenzen und Sprachbarrieren hinweg führen. Dieser benötigt Orte, an denen er entstehen und weitergeführt werden kann. Das Humboldt Forum hat die Chance, ein solcher Ort zu werden – hierzu braucht es eine klare internationale Ausrichtung.

Wie begegnet Ihnen die Frage der kolonialen Raubkunst auf Ihren Reisen, wie werden Sie darauf angesprochen?

Die Frage, wie wir uns der kolonialen Vergangenheit stellen, ist wichtig und – wie es der Koalitionsvertrag formuliert – Teil des demokratischen Grundverständnisses Deutschlands. Dazu gehört natürlich auch der Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Erste Rückgaben, wie zum Beispiel die Witbooi-Bibel an Namibia, sind bereits erfolgt. Es geht aber um mehr: Neben Kooperation und dem gemeinsamen Blick nach vorn brauchen wir auch eine ehrliche und sachliche Debatte über unsere Kolonialgeschichte. Rückgaben sind nur ein Teil dessen. Auf meinen Auslandsreisen erlebe ich Offenheit, Interesse und auch Zustimmung, dass sich Deutschland in dieser Form seiner Vergangenheit stellt.

Wie verfolgen Sie das kulturelle Geschehen im Inland?

Ich versuche dort, wo es geht, viel zu sehen. Aber natürlich bin ich viel auf Reisen. Letztens war ich hier in Berlin in einem sehr spannenden Konzert von Nick Cave.

Was ist derzeit Ihre Lektüre?

Der Gefangene des Himmels von Carlos Ruiz Zafón.

Interview: Rüdiger Schaper

www.tagesspiegel.de

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