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Wir müssen über Abrüstung reden
Außenminister Heiko Maas in Spiegel Online zur Aufkündigung des Vertrages über nukleare Mittelstreckensysteme durch die USA.
Atomares Wettrüsten, nukleare Abschreckung - solche Begriffe haben Konjunktur, seit der INF-Vertrag über das Verbot bodengebundener Mittelstreckenraketen vor dem Aus steht. Sie wecken Erinnerungen an die Achtzigerjahre, an hitzige Debatten über den Nato-Doppelbeschluss oder die Demonstrationen im Bonner Hofgarten.
Doch der Vergleich hinkt. Anders als damals stehen sich heute nicht zwei weitgehend berechenbare, gleich starke Blöcke gegenüber. Asymmetrien haben zugenommen. Die Grenzen zwischen konventionellen und nuklearen Bedrohungen verschwimmen. In dieser Lage wiegt besonders schwer, dass eine Lehre der Entspannungspolitik in Vergessenheit geraten ist: Nur Verlässlichkeit und Transparenz schaffen Vertrauen, nur Vertrauen schafft Sicherheit.
Zu dem Vertrauensverlust beigetragen hat die Weigerung Russlands, die schwerwiegenden Vorwürfe einer Verletzung des INF-Vertrags zu entkräften. Ich habe meinen russischen Kollegen aufgefordert, sich an den Vertrag zu halten und volle Transparenz herzustellen. Dies ist bislang nicht geschehen.
Michail Gorbatschow und Ronald Reagan wussten um die Bedeutung von Rüstungskontrolle und Abrüstung, als sie mitten im Kalten Krieg mutige Schritte zur Reduzierung ihrer Arsenale gegangen sind. Wir Europäer tun gut daran, Moskau, aber auch Washington daran zu erinnern. Ein Ende des INF-Vertrags brächte eine der größten Errungenschaften der Abrüstungspolitik zu Fall. Hierdurch würden Unsicherheiten und weltweite Aufrüstungstendenzen befeuert. Gegenüber Washington setzen wir uns deshalb dafür ein, nicht vorschnell aus dem Vertrag auszusteigen, sondern gemeinsam mit den europäischen Verbündeten auf seine Einhaltung hinzuwirken. Denn es geht um gewichtige Interessen Europas.
Wir müssen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik neu denken, wenn wir den Frieden in Europa bewahren wollen. Die derzeitigen Regeln sind in Teilen löchrig und oft durch technologische Entwicklungen überholt. Bei aller Sorge um den INF-Vertrag müssen wir uns nämlich eingestehen: Sein Erhalt allein bietet noch keine Garantie für unsere Sicherheit. Das zeigt etwa die russische Stationierung von nuklearfähigen Raketen in Kaliningrad. Raketen, die aufgrund ihrer Reichweite gar nicht vom INF-Vertrag umfasst sind, aber dennoch innerhalb von Minuten weite Teile der Europäischen Union erreichen können.
Vier Punkte müssen im Zentrum unserer Politik stehen:
Wir brauchen, erstens, endlich wieder einen ernsthaften Austausch zwischen Amerikanern, Europäern und Russen, der die Risiken in den Blick nimmt, die sich für uns alle aus neuen Waffensystemen und einer löchrigen Rüstungskontrollarchitektur ergeben. Gemeinsame Interessen müssen über gegenseitiges Misstrauen siegen. Dazu zwingt uns Europäer schon die Geografie. Dazu zwingt uns aber auch die von allen Seiten geteilte Analyse, dass sich Bedrohungen in den letzten Jahren verschärft haben. Selbst im Kalten Krieg gab es einen permanenten Dialog, um Transparenz zu schaffen und Fehleinschätzungen zu vermeiden. Daran wollen wir anknüpfen und dafür in den nächsten Monaten Partner in Europa gewinnen.
Wir werden, zweitens, Vorschläge machen für ein umfassendes Transparenzregime für Raketen und Marschflugkörper. Ob im Nahen und Mittleren Osten oder in Ostasien - schon der Wettlauf um solche Waffen lässt Konflikte eskalieren. Wir wollen die Diskussion über ein internationales Regelwerk voranbringen, das zum Beispiel auch Marschflugkörper einbezieht.
Die USA kritisieren zu Recht, dass Chinas massive Aufrüstung bislang von keinerlei Vertrauensbildung begleitet wird. Ich werde daher, drittens, meine Gespräche in Peking in den nächsten Tagen auch dazu nutzen, dort für größere Transparenz und Rüstungskontrolle zu werben.
Wir wollen, viertens, dafür sorgen, dass unsere Regeln mit der technologischen Entwicklung immer neuer Waffenarten Schritt halten. Manches davon mag wie Science-Fiction klingen - Weltraumwaffen etwa oder Flugkörper mit vielfacher Schallgeschwindigkeit, die gar keine Zeit mehr lassen für eine menschliche Reaktion. Doch wenn wir nicht vorausschauend handeln, wird aus Science-Fiction bald tödliche Realität. Ich denke dabei auch an autonome Waffensysteme - Killer-Roboter - die völlig außerhalb menschlicher Kontrolle töten. Um solche Horrorszenarien zu verhindern, haben wir eine Initiative zur Ächtung dieser Waffen in den Vereinten Nationen gestartet. Doch wir wollen weitergehen und bei einer internationalen Konferenz in Berlin im kommenden Jahr auch die Regulierung anderer neuartiger Waffenarten voranbringen.
Schnelle Erfolge sind nicht garantiert, Vertrauen entsteht nicht über Nacht. Aber: Frieden und Sicherheit schaffen wir nicht gegeneinander, sondern nur miteinander. Deutschland muss Friedensmacht bleiben: Wir werden uns beharrlich und mit Nachdruck für Abrüstung und Rüstungskontrolle einsetzen. Nur so kann ein weltweites Wettrüsten gestoppt werden. Nur so sichern wir Frieden in Europa.