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Nicht wegschauen – mitgestalten!

14.02.2020 - Namensbeitrag

Namensartikel von Außenminister Heiko Maas, erschienen auf Englisch in The Security Times.

Im diesjährigen Munich Security Report wird der Welt “Westlessness” diagnostiziert. Zu den Symptomen gehören Anzeichen einer Schockstarre des Westens im Angesicht seiner schwindenden globalen Bedeutung. Ähnliche Gedanken treiben zahlreiche politische Beobachter um. Während unsere Länder und Gesellschaften ihre eigenen Normen und Werte in zunehmendem Maße infrage stellen, so wird argumentiert, verlieren wir die Kraft und den Willen, die globale Ordnung zum Besseren zu verändern.

Und tatsächlich hat es den Anschein, als habe der Westen sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Einfluss und Gewicht eingebüßt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass der heutige Zustand auf dem Erfolg des Westens beruht und kein Zeichen des Versagens darstellt. Ebenjenes System, das freiheitliche Demokratien weltweit über Jahrzehnte aufgebaut, angeführt und verteidigt haben, hat das Entstehen einer hinreichend stabilen und ausgewogenen internationalen Ordnung und damit auch anderen Ländern Aufstieg, Wohlstand und Erfolg ermöglicht. Dieser Umstand sollte uns kein Grund für Angst und Selbstzweifel sein, sondern als zusätzliche Motivation dienen, um das regelbasierte System, das wir mitbegründet haben und das uns so weit gebracht hat, zu erhalten und zu stärken.

Geschwindigkeit, Wucht und Allgegenwart der Veränderungen überraschen uns vielleicht nicht mehr, sie stellen unsere Anpassungsfähigkeit aber immer noch vor eine Herausforderung. Durch Globalisierung und Digitalisierung werden Macht und Wohlstand weltweit immer schneller umverteilt – sowohl innerhalb einzelner Länder als auch grenzüberschreitend. Deutschland unterstützt gemeinsam mit anderen freiheitlichen Demokratien die rechtmäßige Forderung von Milliarden von Menschen nach Mitsprache auf globaler Ebene. Die Veränderungen kann man nicht umkehren, und das ist auch gut so. Wir sollten uns für den Wandel rüsten.

Um ihn friedlich zu bewältigen und Regelverstöße zu sanktionieren, brauchen wir eine kritische Masse von Ländern, die bereit sind, sich für die Normen und Regeln einzusetzen, die uns bisher so gut gedient haben. Die Welt wird immer vernetzter - wir können keine Münze werfen, um über unsere nächsten Schritte zu entscheiden. Wir müssen die Spielregeln aufrechterhalten und die Organisationen, Institutionen und Bündnisse stärken, die sie durchsetzen. Hierzu gehört die Bereitschaft, Institutionen zu reformieren, wenn sie nicht leistungsfähig genug sind, und die internationale Ordnung zu modifizieren, wenn neue Herausforderungen neue Normen und Regeln erfordern. Andernfalls stehen Wohlstand, Sicherheit und letztendlich auch der Frieden auf dem Spiel.

Im letzten Jahr haben Jean-Yves Le Drian und ich im Rahmen der 55. Münchner Sicherheitskonferenz das Konzept einer Allianz für den Multilateralismus vorgestellt. Da heute kein Staat mehr vollständig über sein eigenes Schicksal bestimmen kann, brauchen wir flexible, starke und bewegliche multilaterale Foren und Formate, um so unterschiedliche Themen wie Klimawandel und Sicherheit, Rüstungskontrolle, Welthandel und Migration anzugehen. In einer Zeit, in der die Grundprinzipien der regelbasierten internationalen Ordnung und bewährte Instrumente internationaler Zusammenarbeit infrage gestellt werden, zielt die Allianz für den Multilateralismus darauf ab, diejenigen Akteure zusammenzubringen, die an eine starke und wirksame multilaterale Zusammenarbeit glauben. Ein internationales Netzwerk von Staaten, die willens und in der Lage sind, Partner zu mobilisieren und unseren politischen Einfluss wirksam einzusetzen, kann kritische Probleme schrittweise lösen, eins nach dem anderen.

Im September 2019 kamen mehr als 60 Außenminister aus allen Kontinenten in New York zusammen, um ihrer politischen Unterstützung für die Allianz für den Multilateralismus Ausdruck zu verleihen. Seitdem zieht die Idee immer weitere Kreise, und das informelle Netzwerk hat sich vergrößert. Wir werden uns gemeinsam dafür einsetzen, die internationalen Normen zu schützen und zu erhalten, wenn sie unter Druck geraten. Wir werden dazu beitragen, die Reform zentraler multilateraler Institutionen voranzutreiben, wo dies für ihr reibungsloses Funktionieren und die Anpassung an ein verändertes Umfeld erforderlich ist. Und wir werden das Heft in die Hand nehmen und multilaterale Lösungen in Politikfeldern ausarbeiten, in denen neue Herausforderungen gemeinsames Handeln erfordern. Dass kürzlich 125 Vertragsstaaten des VN-Waffenübereinkommens Leitsätze zu tödlichen autonomen Waffensystemen angenommen haben, ist ein Beispiel dafür, dass die Allianz bereits Ergebnisse liefert.

Die Europäische Union bleibt der Eckpfeiler, nicht nur für Deutschlands Blick auf den Multilateralismus, sondern auch für unser Auftreten im globalen Umfeld. Der Brexit hat gerade erst gezeigt, dass die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft nicht zwangsläufig auf der Hand liegen. Die EU wurde gegründet, um ihren Mitgliedstaaten Frieden und Wohlstand zu bescheren; in der heutigen Welt, in der erneut Großmächte um die Vormachtstellung konkurrieren, wird den Europäern immer bewusster, dass die EU auch ihre einzige Hoffnung ist, selbstbestimmt in der Welt zu bestehen.

Im Rahmen des deutschen EU-Ratsvorsitzes im zweiten Halbjahr 2020 werden wir unser Augenmerk auf die Position Europas im globalen Umfeld lenken: Wie können wir in einer vernetzten Welt widerstandsfähiger werden? Wie können wir digitale Souveränität erreichen und bewahren, und zu welchem Preis? Wir werden die Wettbewerbsfähigkeit unserer nationalen Volkswirtschaften weiter verbessern und gleichzeitig unsere gemeinsamen Sozialstandards aufrechterhalten und stärken müssen. Aus diesem Grund werden wir bestehende Netzwerke ausweiten und vertiefen müssen. Mit dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU und Chinas sowie mit dem Gipfeltreffen zwischen EU und Afrikanischer Union werden wir Europas Ziele und Standpunkte auf globaler Ebene in den Fokus rücken.

Auf dem Gebiet der Sicherheit und der Verteidigung wird die transatlantische Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und anderen europäischen Partnern weiterhin von entscheidender Bedeutung bleiben. Die NATO steht seit 70 Jahren für Sicherheit und Wohlstand in Europa; sie war immer unsere Lebensversicherung. Unser Ziel bleibt ein starkes europäisches Fundament, auf dem unser transatlantisches Bündnis ruht. Erst kürzlich habe ich vorgeschlagen, dass sich die NATO einem Reflexionsprozess über die politische Dimension des Bündnisses unterzieht; dies wurde beim Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO befürwortet. Das spricht meiner Meinung nach für die Problemlösungsfähigkeiten der NATO - und für Demokratien und Netzwerke demokratischer Staaten im Allgemeinen.

Internationale Krisen vor Europas Haustür erinnern uns nicht nur daran, dass der Westen gemeinsam handeln muss, sondern auch daran, dass unsere Nachbarn ein geeintes Europa brauchen. In der Ukraine arbeiten wir weiterhin Hand in Hand mit Frankreich, um einen Konflikt im Herzen Europas zu befrieden (die zentrale Rolle und nahtlose Einbindung der OSZE ist ein weiterer Beleg für wirksamen Multilateralismus). Zwar können wir mit den Fortschritten längst nicht zufrieden sein, doch gab es im vergangenen Jahr ernsthafte Bemühungen, die humanitäre Situation zu verbessern und den Weg zu einer friedlichen Lösung aufzuzeigen.

Was Libyen angeht, so haben wir die Initiative ergriffen und internationale Akteure zur Unterstützung des Friedensplans des VN-Sonderbeauftragten zusammengebracht; wir haben dazu beigetragen, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen und die Einhaltung des Waffenembargos des Sicherheitsrats wiederherzustellen. Dieser „Berliner Prozess“ hat soeben erst begonnen – bisher versorgen alle Seiten die Konfliktparteien ungeachtet ihrer Zusagen sogar weiterhin mit Waffen und Personal. Diese weitere Drehung der Eskalationsspirale hat das militärische Patt allerdings nur verstetigt, was Mehrkosten für beide Seiten zur Folge hat. Der Berliner Prozess bietet den Parteien einen Ausweg aus diesem Teufelskreis, und unserer Überzeugung nach liegt es in ihrem Interesse (ganz zu schweigen vom Interesse des libyschen Volkes), dieses Angebot möglichst bald anzunehmen. Bei unserem Treffen in München werden wir daran arbeiten, ihnen diese Möglichkeit offenzuhalten.

All das ist nicht einfach, und Erfolg ist alles andere als gewiss. Aber wir sind überzeugt, dass eine ruhige Hand in einer unruhigen Welt etwas bewirken kann. Westlessness – mit dieser Diagnose geben wir uns nicht zufrieden.

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