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Den Drachen erlegen: Wir müssen uns wieder der Rüstungskontrolle zuwenden

15.02.2019 - Namensbeitrag

Namensartikel von Außenminister Heiko Maas, erschienen in The Security Times.

Wenn Sie am Hauptquartier der Vereinten Nationen auf der 1st Avenue in Manhattan vorbeigehen, können Sie die massive Skulptur auf dem Rasen kaum übersehen: ein überlebensgroßer Heiliger Georg, der einen gigantischen Drachen erlegt. Man könnte es für ein mittelalterliches Monument halten, bestünde der Drache nicht aus Fragmenten von Atomraketen – sowjetischer SS-20 und US-amerikanischer Pershing –, die nach dem INF-Vertrag von 1987 zerstört worden waren.

Mehr als 30 Jahre lang war der Vertrag ein wesentlicher Baustein der europäischen Sicherheit und ein Eckpfeiler der internationalen Rüstungskontrollarchitektur. Durch die Entwicklung einer neuen bodengestützten atomaren Mittelstreckenrakete hat Russland den Vertrag verletzt und de facto ausgesetzt. Jetzt ist Russland am Zug. Während meiner jüngsten Reisen nach Moskau und Washington habe ich Vorschläge für Kriterien gemacht, mit denen russische Transparenzvorschläge geprüft werden sollten. Leider blieben bisher alle russischen Angebote weit dahinter zurück. Moskau hat jetzt noch sechs Monate Zeit, zur uneingeschränkten und überprüfbaren Einhaltung des INF-Vertrags zurückzukehren. Deutschland wird dafür alles in seiner Macht Stehende tun. Ein Ende des Vertrags würde uns alle betreffen, und Europa wäre weniger sicher. Und was vielleicht noch schlimmer wäre: Ein Ende des Vertrags würde auch die Aussichten für die Rüstungskontrolle ganz allgemein verschlechtern. Ein neues Wettrüsten droht und eine wesentliche Lektion der internationalen Politik gerät aus dem Blick – dass dauerhafter Sicherheit sowohl militärische Stärke als auch kooperative Sicherheit zugrunde liegen müssen.

Diese Erkenntnis ist umso alarmierender, wenn wir die vor uns liegenden Herausforderungen betrachten. Die digitale Revolution birgt das Potenzial, das Leben der Menschen zum Besseren zu verändern. Aber sie hat auch einen erheblichen Einfluss auf die Waffensysteme von morgen, auf die internationale Kriegführung, die innere Sicherheit und die globale Stabilität. In einem Satz: Die Kriege der Zukunft werden höchstwahrscheinlich nicht mit Megabomben, sondern mit Megabits und Megabytes ausgetragen.

Der Kalte Krieg ist vorüber. Bei der Sicherheit geht es heute weniger um die Zahl atomarer Sprengköpfe als vielmehr darum, die Herausforderungen zu verstehen, die mit künftigen technologischen Entwicklungen einhergehen:

5G-Netze, für die gerade in Deutschland und vielen anderen Ländern die Ausschreibungen laufen, werden die Cyber-Kapazitäten und die täglichen Abläufe im Haushalt grundlegend verändern. Wie jedoch verhindern wir, dass sie für die Cyber-Kriegführung missbraucht werden?

Die Biotechnologie birgt das Potenzial, das Leben der Menschen zu verbessern – von der Behandlung von Erbkrankheiten bis hin zur Minderung der Folgen des Klimawandels. Wie jedoch können wir gewährleisten, dass der Zugang zur Biotechnologie Terroristen, Kriminelle oder Staaten nicht in die Lage versetzt, biologische Agentien waffenfähig zu machen?

Dank künstlicher Intelligenz könnten bald unbemannte Luftfahrzeuge über unseren Städten in den Himmel steigen. Wie jedoch können wir verhindern, dass autonome Waffen auf dieser Technologie aufbauen und ohne menschliche Einflussnahme Ziele auswählen und angreifen?

Neue, weit entfernte Grenzen werden künftig erstmals von Hyperschallflugkörpern erreicht werden, die die Reisezeiten dramatisch verkürzen. Wie jedoch können wir mit Hyperschallraketen umgehen, die die Reaktionszeiten auf einige wenige Sekunden reduzieren und damit jegliches menschliches Einschreiten unmöglich machen?

Diese grundlegenden Fragen sind noch unbeantwortet. Damit das nicht so bleibt, habe ich Kollegen, Militärexperten und Wissenschaftler für den 15. März zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen. Wir wollen einen internationalen Dialog darüber ins Leben rufen, wie wir Technologie beherrschen und Rüstungskontrolle neu definieren können. Einfließen werden detaillierte Analysen technologischer Trends, eine klare Beurteilung der Sicherheitslandschaft und eine offene Debatte der betroffenen Länder. Unsere europäischen Nachbarn müssen im Zentrum dieses Dialogs stehen, denn Europa ist von der aktuellen Rüstungskontrollkrise besonders betroffen. Bei der Einbindung globaler Mächte wie China, Indien, Japan und unsere transatlantischen Partner in unsere Diskussionen wird es auch nötig sein, einen gemeinsamen europäischen Standpunkt zu erarbeiten. Darüber hinaus werden wir uns mit dem Privatsektor ins Benehmen setzen, der an der Spitze vieler dieser technologischen Entwicklungen steht. Gemeinsam müssen wir die Rüstungskontrolle wieder auf die internationale Tagesordnung setzen.

Die Skulptur des Heiligen Georg mit dem Drachen auf dem Rasen vor dem VN-Gebäude trägt den Titel „Das Gute überwindet das Böse“. Wenn wir jetzt nicht handeln, gehen wir das Risiko ein, in einer Welt aufzuwachen, in der wir Gut nicht länger von Böse, Richtig nicht länger von Falsch unterscheiden können – einer Welt, in der Waffen in undefinierten Grauzonen zum Einsatz kommen und die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden nicht länger dem Menschen obliegt. Um ein solches Katastrophenszenario zu verhindern, muss unsere Rüstungskontrollarchitektur neuen technologischen Herausforderungen Rechnung tragen. Das wäre ein wichtiger Schritt hin zur Wahrung des Friedens im 21. Jahrhundert – und ein Stück purer Realpolitik.

www.the-security-times.com (auf Englisch)

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