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„Die EU darf nicht stehenbleiben, während sich die Dinge um uns herum verändern“

01.07.2021 - Interview

Außenminister Maas im Interview mit der polnischen Zeitung Rzeczpospolita.
Das Interview erschien dort auf polnisch.

Wladimir Putin verschärft die Repressionen. In den letzten Monaten drohte er der Ukraine mit einem Krieg, hat beinahe Alexej Nawalny vergiftet und hält ihn unter sehr schwierigen Bedingungen gefangen, hat die Befriedung Belarus unterstützt, vermehrt die Cyberattacken auf westliche Ziele. Und dennoch belohnt Bundeskanzlerin Merkel den Kreml mit dem Bau von Nord Stream 2, möchte einen EU-Russland-Gipfel einberufen. Was müsste Moskau noch tun, damit DEU seine Politik in Bezug auf RUS ändern und auf die finanziellen Vorteile verzichten würde?

Ohne jeden Zweifel: das Verhältnis Russlands zur EU ist derzeit spürbar belastet, in dieser Analyse sind wir uns unter den EU-Mitgliedsstaaten einig. Die Frage ist, was für uns daraus folgt.Unser Ziel ist es, ein pragmatisches Verhältnis zu Russland aufzubauen, wo dies geht, und im Dialog mit Russland zuzuhören und unsere eigenen Interessen zu artikulieren. Gleichzeitig aber werden wir bei Rechtsbrüchen und Provokationen weiter klar Position beziehen und geschlossen und angemessen hierauf reagieren. Das haben wir beispielsweise im Fall Nawalny oder bei den russischen Truppenbewegungen an der ukrainisch-russischen Grenze demonstriert. Und wir haben als EU scharfe Sanktionen gegen Belarus auf den Weg gebracht, trotz des demonstrativen Schulterschlusses mit Moskau. Diese Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen: Wenn wir als EU gemeinsam handeln, haben wir mehr Gewicht.

In einem bekannten Interview für „Rzeczpospolita“ vom 11. Juni sagte Außenminister Rau u.a.: „In Sachen Nord Stream 2 hat DEU seine Werte und Sicherheitsinteressen der freien Welt für die Zusammenarbeit mit RUS geopfert, welches eine aggressive Politik führt.“ Weshalb ist 30 Jahre nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag ein so großes Unverständnis zwischen Warschau und Berlin entstanden?

Wir stehen gemeinsam mit den Staaten Mittel- und Osteuropas und auch den USA auf der gleichen Seite, wenn es um unsere Energiesicherheit in Europa geht. Eben deshalb haben wir uns von Beginn an um eine tragfähige Kompromisslösung bemüht, die gerade auch den berechtigten Interessen der Staaten Mittel- und Osteuropas Rechnung trägt – insbesondere der Ukraine. Genau diesem Ziel dient ja auch die Gas-Richtlinie von 2019. Deutschland hat sich sehr dafür eingesetzt, dass der Gastransit durch die Ukraine bestehen bleibt und wird dies auch weiterhin tun. Dazu sind wir im Gespräch, mit Polen, aber natürlich auch mit den USA und der Ukraine.

Es würde aber dem sehr engen bilateralen Verhältnis zwischen Deutschland und Polen überhaupt nicht gerecht, unsere Zusammenarbeit in EU und NATO allein auf Nord Stream 2 zu reduzieren. Wer das tut, der ignoriert, wie eng und vielfältig die Beziehungen zwischen unseren Ländern tatsächlich sind - in unterschiedlichsten Themenbereichen und auf verschiedenen Ebenen, historisch gewachsen. Der deutsche Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, ist gerade erst im Juni nach Warschau gereist, um gemeinsam mit Präsident Duda den 30. Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages zu feiern, den Sie ansprechen. Und ich habe in meiner Amtszeit schon viermal Polen besucht, dies ist mein fünfter Besuch.

Polen ist der drittwichtigste Handelspartner Deutschlands, überholt sogar Frankreich oder Italien. Ganz Mitteleuropa ist für die deutsche Wirtschaft wichtiger als der Partner jenseits des Rheins. Und trotzdem werden alle wichtigen Projekte in der EU gemeinsam durch Deutschland und Frankreich angegangen. Warum?

Deutschland und Polen sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und politisch ganz eng verbunden – nicht zuletzt zusammen mit Frankreich im „Weimarer Dreieck“, das in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert. Wir wollen dieses Format auf allen Ebenen wieder mehr mit Leben füllen. Natürlich gibt es auch Meinungsverschiedenheiten, aber wenn Paris, Berlin und Warschau miteinander reden und auf einen gemeinsamen Nenner kommen, dann ist das gut für Europa. Als große Mitgliedsstaaten tragen wir eine besondere Verantwortung für das europäische Projekt.

Existiert eine Bedrohung für die Demokratie in Polen? Können Sie sich eine EU ohne Polen vorstellen?

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind für das Funktionieren der EU als Staatengemeinschaft absolut unerlässlich. Weil wir wirtschaftlich und politisch so eng miteinander verflochten sind, müssen wir uns gegenseitig darauf verlassen können, dass diese zentralen Werte überall gelebt und geachtet werden. Das heißt nicht, dass man immer einer Meinung sein muss. Aber diesen Grundkonsens müssen alle respektieren.

Für uns gehört Polen zum Herzen von Europa – nicht nur geografisch, sondern beispielsweise auch, was die Menschen, die Kultur, die Gesellschaft angeht. Eine EU ohne Polen kann und will ich mir nicht vorstellen. Die Diskussion hierüber scheint mir aber auch sehr hypothetisch, denn schließlich spricht sich in Umfragen immer wieder eine klare Mehrheit der Polinnen und Polen für die EU-Mitgliedschaft aus und Polen profitiert ja durchaus auch selbst sehr von seiner EU-Mitgliedschaft. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist eine große Erfolgsgeschichte, ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Vollendung des europäischen Friedensprojekts.

Joe Biden hält Deutschland nicht nur für das wichtigste Land Europas, sondern setzt es sogar mit der Union gleich. Das signalisierte er mehrmals. Ist Deutschland bereit, die volle Verantwortung für die EU zu übernehmen?

Kein einzelner Mitgliedstaat kann oder will das leisten – ganz sicher auch Deutschland nicht. Schon Paul-Henri Spaak, einer der Gründerväter der EU, hat gesagt: „In Europa gibt es zwei Typen von Staaten: kleine Staaten und Staaten, die noch nicht verstanden haben, dass sie klein sind.“ Aus Washington oder Peking betrachtet ist auch Deutschland ein kleiner Staat. Deshalb wissen wir, dass wir als Teil der EU stärker sind.

Aber die EU darf nicht stehenbleiben, während sich die Dinge um uns herum verändern. Die globalen geostrategischen Gewichte verschieben sich rasant - weg von Europa. Wenn wir uns in diesem Umfeld behaupten wollen, dann brauchen wir eine starke und handlungsfähige EU. Deshalb erhoffe ich mir von der Zukunftskonferenz einen Schub für unser gemeinsames Außenhandeln – durch die Nutzung von Mehrheitsentscheidungen, wie sie in anderen Bereichen längst üblich sind.

In drei Monaten beendet Bundeskanzlerin Merkel ihre Karriere. Was kann sich nach ihrem Abtritt in der Außenpolitik Deutschlands ändern?

Die Außenpolitik Deutschlands ist immer schon durch Kontinuität gekennzeichnet. Es wird gewiss neue Akzente geben. Und nicht nur die Deutschen, auch die Polinnen und Polen werden sich an ein neues Gesicht in den Abendnachrichten gewöhnen müssen, wenn mal wieder von einem der vielen internationalen Gipfel berichtet wird. Aber weil es in Deutschland zu vielen außenpolitischen Themen parteiübergreifend eine grundsätzliche Übereinstimmung gibt, rechne ich nicht mit größeren Verschiebungen.

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