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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich einer Veranstaltung der SPD-Fraktion „Multilateralism first!“

17.10.2019 - Rede

Es gibt im Schwedischen ein Wort – es ist eigentlich mehr ein Prinzip, eine Lebenseinstellung – und ich finde, dass dieses Wort ganz gut erklärt, warum Schweden in Sachen progressiver Politik seit Jahren ganz vorne an der Spitze ist.

Das Wort heißt lagom.

Lagom meint Balance, meint, das richtige Maß zu finden. Eine auf Konsens ausgerichtete Kultur, Chancengleichheit, Bescheidenheit, eine ausgewogene work-life-balance – in Schweden ist dieses Prinzip in der Gesellschaft tief verankert. Ausgleichend, jegliche Radikalität ablehnend – kein Wunder also, dass Schweden mit diesem gesellschaftlichen Leitbild als eine Art Champion des Multilateralismus gilt. Das wissen viele auf der Welt zu schätzen, nicht nur wir hier in Deutschland.

Und das ist übrigens auch einer der Gründe, um nur mal ein konkretes Beispiel zu nennen, dass Schweden gerade im Jemen-Konflikt als Vermittler gefragt war und nach wie vor ist. Und dass die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder vor wenigen Wochen in New York ausgerechnet Schweden, Kuwait und Deutschland einbeziehen, um eine politische Lösung im Jemen-Konflikt auf den Weg zu bringen, macht das auch noch einmal deutlich.

Meine Damen und Herren,
vor drei Wochen waren wir, Ann und ich und viele andere, bei den Vereinten Nationen in New York. Sozusagen in der Kernzelle des Multilateralismus. Und wieder einmal haben vor allem die Egozentriker dieser Welt mit starken Sprüchen Schlagzeilen gemacht. Diejenigen, die multilaterale Lösungen verächtlich machen, deren sogenannter Patriotismus nichts ist als die Tarnung für Nationalismus und blanken Egoismus. Und das Ganze wird dann „My country first“ genannt. Was am Ende nichts anderes heißt als „jeder gegen jeden“ und wird darauf hinauslaufen, dass alle dabei verlieren.

Weil wir auf die vier großen Fragen unserer Zeit - auf Globalisierung, Digitalisierung, Migration und den menschengemachten Klimawandel – eben nur gemeinsam Antworten finden, ist es umso notwendiger, dafür zu sorgen, dass es gerade in diesen Zeiten nicht weniger, sondern mehr internationale Zusammenarbeit gibt.

Und deshalb ist es auch richtig, wenn auf dem Programm oder auf der Einladung für den heutigen Tag nicht nur steht “Multilateralism first!”, sondern, dass dahinter auch ein Ausrufezeichen gesetzt wurde. Auf vielen Veranstaltungen ist dahinter noch ein Fragezeichen gesetzt und ich glaube, wir sind längst darüber hinweg. Und genau weil das Setzen von Zeichen eben nicht unwichtig ist, hätte der Treffpunkt für unsere Allianz für den Multilateralismus keinen besseren Rahmen finden können als die Vereinten Nationen während der Generalversammlung.

Gerade in Abgrenzung, und dort vor Ort ist diese Abgrenzung sehr deutlich geworden, zu jenen, die die multilaterale Ordnung nicht nur in Zweifel ziehen, sondern sie eben mittlerweile auch verächtlich machen. Am Ende konnten wir mit knapp 60 Außenministerinnen und Außenministern – Rolf hat es bereits erwähnt – Vereinbarungen erzielen zur Stärkung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, bei Abrüstung, Krisenprävention, Friedenskonsolidierung, im Cyberbereich und beim Klimawandel.

Allesamt Zukunftsthemen. Alles Themen, bei denen die multilaterale Zusammenarbeit unverzichtbar ist. Denn die Globalisierung, die Digitalisierung, der Klimawandel und die Migration mögen komplett unterschiedliche Themen sein, aber sie haben alle eine Gemeinsamkeit: Sie sind grenzenlos. Und deshalb ist es eigentlich völlig unverständlich, dass in der Zeit, in der wir uns heute befinden, Leute auch politisch Erfolg haben, die das nicht nur ablehnen, sondern die noch nicht einmal bereit sind, das zur Kenntnis zu nehmen, was die Grundlagen dieser Probleme sind.

Nehmen wir mal den Klimawandel, denn das ist längst nicht mehr nur eine ökologische Herausforderung für die Menschheit, sondern immer öfter eine Frage von Krieg und Frieden.

Ich habe den Eindruck, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem wir ja im Moment sitzen, dass das von den Wenigsten dort bereits erkannt worden ist.

Krisen und Konflikte werden dort viel zu oft erst dann Thema, wenn schon geschossen wird, wenn bereits Menschen gestorben sind. Bedauerlicherweise ist es dann zu spät. Und deshalb ist eines unserer großen Anliegen, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen viel mehr von einem Krisenreaktionsgremium zu einem Krisenpräventionsgremium werden zu lassen!

Weshalb endlich auch die Konfliktursachen in den Blick genommen werden, und nicht nur die Konfliktlösung. Denn ist doch allemal besser, schon dabei zu sein, Konflikte zu verhindern, als erst, wenn sie entstanden sind und Menschen gestorben sind, dafür zu sorgen, dass sie gelöst werden.

Daran arbeiten wir, im Übrigen mit vielen anderen. Und ich bin sehr froh darüber, dass wir als Europäer da Hand in Hand arbeiten.

Schweden saß direkt vor uns im Sicherheitsrat und hat in dieser Zeit unter anderem dafür gesorgt, dass das Sekretariat der Vereinten Nationen überhaupt erst belastbare Risikoanalysen zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Frieden und Sicherheit erstellen kann. Also genau diese Trendwende schon eingeleitet hat. Und wir haben nichts anderes getan, als diesen Ball aufzugreifen und gleich im Januar im Sicherheitsrat mit vielen anderen gefordert: Klima und Sicherheit gehört auf die Agenda! Das sehen nicht alle so, vor allen Dingen nicht von den permanenten Mitgliedern im Sicherheitsrat. Der von uns daraufhin gegründeten Freundesgruppe gehören mittlerweile fast 50 Staaten dieser Welt an. Und auch mit denen haben wir uns ebenfalls in New York getroffen und den Generalsekretär aufgefordert, regelmäßig zum Thema Klima und Sicherheit zu berichten.

Denn regelmäßiges Monitoring und ein Frühwarnsystem sind letztlich das A und O, wenn wir Klimakrisen vorausschauend entschärfen wollen.

Ähnlich bedrohlich und genauso menschengemacht wie der Klimawandel ist die Erosion unserer Rüstungskontrollarchitektur. Abkommen, wie der INF-Vertrag, der jahrzehntelang für Sicherheit in Europa gesorgt hat, werden verletzt und brechen weg. Und die wenigen verbleibenden Verträge -gerade auch die ganz entscheidend dazu beigetragen haben, dass wir in Sicherheit und ohne Bedrohungsszenarien leben, mit denen wir es in der Vergangenheit zu tun hatten - zu Rüstungskontrolle, diese Verträge spiegeln in ihrem Inhalt leider nur noch die Realität der bipolaren Welt von vorgestern wider. Gemeinsam mit einer wachsenden Zahl von Partnern fordern wir deshalb eine Rückkehr zu konkreten realistischen Abrüstungsschritten. Dem dient auch die Stockholm-Initiative, mit der wir Fragen der nuklearen Abrüstung schon im Vorfeld der NVV-Überprüfungskonferenz im kommenden Jahr wieder fest auf der internationalen Agenda verankern wollen. Und ich freue mich darauf, dass die Unterstützerinnen und Unterstützer dieser Initiative, die sich dieses Jahr in Stockholm zum ersten Mal getroffen haben, im nächsten Jahr in Berlin zu begrüßen.

Im April, als wir den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernommen haben, haben wir außerdem dafür gesorgt, dass das Thema nukleare Rüstungskontrolle nach 7 Jahren erstmals wieder auf der Tagesordnung im Sicherheitsrat stand. 7 Jahre ist dort im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dort, wo sich die USA, Russland und China gegenübertreten, nicht mehr über Rüstungskontrolle diskutiert worden, es stand noch nicht einmal mehr auf der Tagesordnung.

Und morgen treffen sich hier in Berlin erstmals Experten aus Ländern wie China, Russland, Indien, den USA und Europa, um gemeinsam auf unsere Einladung darüber zu reden, wie wir die Bedrohungen in den Griff kriegen, die vor allem von moderner Raketentechnologie ausgehen. Was manchmal noch wie Science Fiction klingt, ist längst Realität geworden: Überschallwaffen, Killer-Roboter oder die Militarisierung des Weltraums. Die Frage, ob wir nicht nur von Megabomben bedroht werden, sondern auch von Megabytes und alles, was man damit anstellen kann. Unser Ziel ist, überhaupt erst einmal wieder eine internationale Diskussion anzustoßen, wie Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Bedauerlicherweise sind wir erst an dieser Stelle. Und das Verständnis muss neu aufgebaut werden, dass Rüstungswettläufe die Welt kein Stück sicherer machen. Ganz im Gegenteil: Sicherheit, davon sind wir zutiefst überzeugt, schaffen wir nur mit- und nicht gegeneinander! Und das ist auch nicht naiv, das im Jahr 2019 zu behaupten.

Letztlich knüpfen wir damit an, an das Erbe zweier großer Sozialdemokraten, die vor ziemlich genau 50 Jahren die Regierungsgeschäfte übernahmen. Willy Brandt und Olof Palme. Gegen den Trend und in Zeiten als die Aufrüstungsspiralen immer höher drehten, setzten sie auf Annäherung, auf Ausgleich. Und sie suchten auch den Kompromiss. Und sie hatten damit auch nicht immer eine gesellschaftliche Mehrheit, gerade als diese Diskussion begonnen wurde.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
das ist alles nicht bequem. Und das muss man auch dazu sagen: Multilateralismus ist keine Einbahnstraße. Multilateralismus funktioniert nicht so, dass die anderen auch alle das machen, was man selber macht. Sondern Multilateralismus heißt auch, mit Anderen Kompromisse zu schließen und damit nicht immer hundertprozentig seine eigene Haltung und Position umsetzen zu können.

Das erleben wir, wenn wir über so schwierige Themen wie Rüstungskooperation reden. Wir können nicht auf der einen Seite mehr Kooperation und eine europäische Verteidigungsunion einfordern, in der Rüstungskooperation dann aber keine Kompromisse eingehen! Wir brauchen auch andere, um gemeinsame Ergebnisse zu erzielen.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
dass man trotzdem einen klaren Kompass haben muss und haben kann und das auch praktisch in der Politik umsetzen kann, das erleben wir gerade im Zusammenhang mit den Ereignissen in Nordostsyrien und der türkischen Militäroffensive in dieser Region. Da sind wir gemeinsam mit Schweden, mit Frankreich, aber auch mit anderen europäischen Ländern ganz einer Meinung. Wir haben am Montag in Luxemburg beim Außenrat uns dafür entschieden, dass jedes Land in seiner eigenen Verantwortung die Rüstungsexporte in die Türkei stoppt.

Denn letztlich ist das, was wir in Nord-Syrien gerade sehen, etwas, das katastrophale Folgen nach sich ziehen wird und zwar auf allen erdenklichen Ebenen: sicherheitspolitisch, politisch, das, was den Friedensprozess in Syrien angeht. Und die Tatsache, dass wir mittlerweile fast 200.000 Flüchtlinge haben, macht deutlich dass wir uns auf eine humanitäre Katastrophe vorbereiten müssen. Deshalb haben wir gemeinsam der Türkei sehr deutlich gemacht, was wir von dieser Militäroperation halten. Und wir haben auch deutlich gemacht, dass wir uns weitere Maßnahmen vorbehalten.

Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
in Syrien sieht man übrigens auch sehr deutlich, was es bedeutet, wenn die regelbasierte Ordnung erodiert: Folter, Vergewaltigungen, gezielte Tötungen – selbst schwerste Verbrechen bleiben dort seit Jahren ungestraft. Das Völkerstrafrecht ist massiv unter Druck.

Darum ist Teil unserer Allianz für den Multilateralismus auch ein Bündnis gegen Straflosigkeit, eines, das die internationale Strafgerichtsbarkeit stärken soll, die gerade unter Beschuss steht, bedauerlicherweise auch aus Ländern wie den USA. Das war übrigens auch ein Ergebnis aus dem Ringen um Resolution 2467, die wir im April nur gegen massiven Wiederstand auch von ungewohnter Seite durch den Sicherheitsrat gebracht haben, als wir den Vorsitz dort hatten. Dabei ging es um ein Thema, von dem man meinen sollte, dass wir uns zumindest dabei international einig sein sollten: Den Schutz und die Unterstützung von Überlebenden sexualisierter Gewalt in Konflikten. Die Auseinandersetzung hat mir auch noch einmal gezeigt: Wir werden in Zukunft noch mehr kämpfen müssen für Menschenrechte, für Gleichberechtigung, für die regelbasierte Ordnung, für all diese Errungenschaften, die über Jahrzehnte erreicht worden sind, die wir vielleicht viel zu sehr für selbstverständlich halten. Wir müssen sie nicht nur leben, sondern wir müssen noch viel mehr dafür eintreten, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Und das gelingt uns eben nicht alleine, das gelingt uns nur mit Partnern. Genau darin besteht die Sinn und der Zweck dieser Allianz für den Multilateralismus.

Und ich bin froh, dass wir mit Schweden einen echten Multilateralismus-Champion an unserer Seite haben und ein ganz wichtiger Teil dieser Allianz ist.

Mehr noch: Ein Land, das Ausgleich, Kompromiss, Dialog in der DNA hat – ganz lagom eben.

Liebe Ann [Anm.: Ann Linde, schwedische Außenministerin],
ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Dir. Ihr werdet gebraucht. Im Übrigen auch der Ansatz, wie Ihr Politik macht, wird bitter gebraucht auf der Welt. Schön, dass Du heute hier in Berlin bist. Ich freue mich jetzt auf deine Rede!

Vielen Dank.

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