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Rede von Außenminister Heiko Maas bei der 56. Münchner Sicherheitskonferenz
Die „Welt in Unordnung“ – so lautete eines der Schlagwörter, als der damalige Bundespräsident Joachim Gauck vor sechs Jahren hier in München mehr deutsche Verantwortung angemahnt hat. Wer heute Nachmittag seinem Nachfolger zugehört hat, der muss erkennen: die Welt in Unordnung, das war gestern.
Nicht etwa, weil die regelbasierte Weltordnung ihren vor 75 Jahren begonnenen Siegeszug fortgesetzt hätte, sondern vielmehr weil die internationale Zusammenarbeit seit Jahren in einer beispiellosen Rezession steckt und noch viel mehr: eine neue Ordnung ist im Entstehen, die allerdings mit Prinzipien wie „liberal“ oder „regelbasiert“ nun wirklich nicht mehr viel zu tun hat.
Neu daran ist nicht etwa der Aufstieg Chinas, den wir ja bereits seit Jahrzehnten beobachten.
Neu ist auch nicht die schrumpfende strategische Bedeutung Europas nach dem Kalten Krieg.
Der echte „game changer“ ist vielmehr, dass die Ära der omnipräsenten amerikanischen Weltpolizisten für alle sichtbar zu Ende geht – denken wir an Syrien, Afghanistan oder an Afrika. Und zwar nicht etwa, weil es den USA an militärischer oder wirtschaftlicher Macht fehlte, sondern weil sich das Engagement der Verantwortlichen im Weißen Haus für die von den USA geschaffene Weltordnung verändert hat.
In diese geopolitische Lücke, die vor allem im Nahen und Mittleren Osten im Moment sichtbar wird, drängen andere: Länder wie Russland, die Türkei oder Iran, die ganz oft andere Werte, Interessen und Ordnungsvorstellungen verfolgen als wir. Und so wird über die Zukunft des Nahen Ostens zwischenzeitlich auch in Astana oder Sotchi entschieden, anstatt in Genf oder New York. Dass solche Arrangements oft auf Sand gebaut sind, das erleben wir gerade angesichts der Eskalation in Idlib.
Wir, meine Damen und Herren, Amerikaner und Europäer, müssen uns die Frage gefallen lassen, wie es so weit kommen konnte. Und vor allem, was wir tun, um etwas zu ändern an diesem Befund?
Zur nötigen Selbstkritik gehört: Wir Europäer haben zu lange die Augen verschlossen vor der unbequemen Realität, die ein US-Rückzug aus militärischem Engagement und internationalen Verträgen gerade für uns bedeutet. Doch selbst mit ganz weit geöffneten Augen hätten wir kaum vorhersehen können, wie schnell das Pendel der amerikanischen Diplomatie und Politik umschlagen würde.
Dennoch hat diese Vehemenz hat vielleicht auch etwas Gutes: Inzwischen - und das scheint sich ja auch bei den Diskussionen und Reden hier herauszubilden - haben auch die Letzten in Europa verstanden, dass wir mehr tun müssen für unsere Sicherheit und die Stabilität unserer Nachbarschaft. Und ja, Europa tut mehr – von der Ukraine über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Libyen und in den Sahel: militärisch, zivil und diplomatisch. Ja, aber eben auch noch nicht genug.
All‘ diese Krisen werden uns hier in München auf dieser Bühne und in vielen Gesprächen, die hier stattfinden, beschäftigen. Ich will mich deshalb auf drei Bemerkungen fokussieren:
Erstens: Europa wird seine Stärken künftig ausspielen müssen.
Dabei denke ich natürlich an den Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion - als starken, europäischen Pfeiler der NATO. In diesem Punkt liegt die europapolitische Gestaltungsaufgabe der 20‘er Jahre. Und dabei geht es heute längst nicht mehr um das „Ob“, sondern nur noch um das „Wie“. Gemeinsam mit Frankreich arbeiten wir intensiv daran und wir werden auch Präsident Macrons Angebot eines strategischen Dialogs in dieser Frage aufgreifen.
Um es klar zu sagen: Deutschland ist bereit sich stärker zu engagieren, auch militärisch. Aber dieses militärische Engagement muss eingebettet sein in eine politische Logik, genauso wie Bundespräsident Frank Walter Steinmeier es heute Nachmittag hier erläutert hat. Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hatte Recht. Er sagte einmal: Deutsche Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt. Und man muss heute hinzufügen: auch im Irak, in Libyen und im Sahel – aber eben genauso am Verhandlungstisch in New York, Genf oder in Brüssel.
Ohne Diplomatie, ohne klare politische Strategie, ohne den Aufbau von Kapazitäten vor Ort drohen Militäreinsätze bestenfalls zu verpuffen, schlimmstenfalls können sie die Krisen verschärfen. Das haben wir nach 2003 im Irak erlebt und das erleben wir ganz aktuell in Syrien und in Libyen. Wer „mehr Verantwortung“ und mehr Engagement„ ausschließlich mit “mehr Militär„ gleichsetzt, der wird der Komplexität der Konflikte nie gerecht werden.
Ich denke deshalb auch an Europas Wirtschaftskraft, ohne die zum Beispiel ein nachhaltiger Wiederaufbau in Syrien nicht möglich sein wird. Und wir sind uns sehr einig in Europa und in der westlichen Welt, Wiederaufbau in Syrien daran zu knüpfen, dass es eine politische Lösung gibt. Wir werden uns nicht an einem Wiederaufbau beteiligen, der das Ziel hat, die Macht von Assad abzusichern.
Mindestens ebenso wichtig aber scheint mir: Wir Europäer haben Ordnungsmodelle im Angebot, die langfristig tragen- und das haben wir vielfältig unter Beweis gestellt, auch historisch. Nach den Kriegen der Vergangenheit haben wir sie am eigenen Leib erprobt - vom Westfälischen Frieden über die Wiener Ordnung bis hin zu den Römischen Verträgen und der Schlussakte von Helsinki. Russland, die Türkei und andere mögen durch Waffenlieferungen, Soldaten, Söldner kurzfristig das Heft des Handelns in die Hand nehmen in Syrien, der Ukraine oder in Libyen. Aber wo sind die Ansätze, die langfristig Stabilität und Frieden versprechen, weil sich darin ganz verschiedene Akteure wiederfinden können?
Nicht umsonst sind es Deutschland und Frankreich, die seit Jahren an einer Friedenslösung für die Ukraine arbeiten. In den letzten Monaten haben wir den Minsk-Prozess wiederbelebt, auch mit Hilfe des neuen ukrainischen Präsidenten Selensky. Was bei der Entflechtung von Truppen und beim Austausch von Gefangenen passiert ist, das kann nur ein erster Schritt sein. Die Gretchenfrage in diesem und vielen anderen Konflikten bleibt: Sind wirklich alle Parteien bereit, die Logik geopolitischer Einflusssphären hinter sich zu lassen und stattdessen mit uns zusammen an einer europäischen Sicherheitsarchitektur zu arbeiten, die auf dem Völkerrecht fußt? Darüber werden auch hier in München mit den Kollegen aus Paris, Moskau und Kiew sprechen, um so die Grundlagen für ein weiteres Gipfeltreffen im Normandie-Format in Berlin zu schaffen.
Und, meine Damen und Herren, es ist kein Zufall, dass auch die Friedensbemühungen in Libyen von Rom, Paris und zuletzt von Berlin ausgingen. Der Sicherheitsrat hat die Berliner Ergebnisse nach langen, schwierigen Verhandlungen vor zwei Tagen noch einmal bekräftigt. Zum ersten Mal überhaupt haben die Militärs der Konfliktparteien letzte Woche direkt über einen Waffenstillstand verhandelt. Und am Sonntag werden hier in München erstmals die Außenminister des Berliner Prozesses zusammenkommen, um gemeinsam den Mechanismus zur Überwachung und Umsetzung unserer Beschlüsse auf den Weg zu bringen, natürlich insbesondere den des Waffenembargos. Am Montag werden wir im Kreis der EU-Außenminister beraten: welchen Beitrag kann die EU leisten, damit das Waffenembargo auch durchgesetzt wird. Und für die EU kann es nur eine Antwort geben, und ich sehe Josep Borrell: Wir stehen bereit, wenn die Vereinten Nationen und die Konfliktparteien unsere Unterstützung brauchen und uns dazu auffordern.
Meine Damen und Herren,
die zweite Feststellung lautet: Wir müssen unsere multilateralen Bündnisse und Allianzen an die neue weltpolitische Realität anpassen.
Das gilt zuallererst für die Europäische Union. Ihr geopolitischer Anspruch wird sich nicht nur auf eine neue China-Strategie oder einen realistischeren Blick auf neue Technologien beschränken können. Es geht um konkrete Politik für mehr europäische Souveränität – politisch, ökonomisch, technologisch und auch wertebasiert. Dazu werden wir gemeinsam mit der neuen Kommission ins Benehmen setzen – und dazu haben wir mit der EU-Präsidentschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres eine große Chance.
Neu denken müssen wir auch die Rolle der NATO.
Nehmen wir zum Beispiel den Irak. So richtig es 2003 war, dass die NATO sich nicht am Krieg dort beteiligt hat, so grundlegend anders ist die Lage 17 Jahre später. Heute geht es um die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Terroristen des IS. Und dabei sucht die irakische Regierung ganz bewusst die Unterstützung auch der NATO, weil die NATO die irakische Souveränität respektiert, weil sie für einen multilateralen Ansatz steht. Wir alle teilen das Interesse, das zu bewahren, was wir in den vergangenen Jahren mit größten Anstrengungen erreicht haben. Und deshalb wollen wir unser Engagement im Irak mit Zustimmung der irakischen Regierung fortsetzen – ob im Rahmen der Anti-IS Koalition oder auch der NATO.
Am Ende erfüllen wir so gleich zwei strategische Interessen: Erstens halten wir an unserem Kurs im Mittleren Osten fest, der da lautet: Deeskalation statt “maximaler Druck„. Und zweitens halten wir die USA als engagierten Partner bei der Stange.
Dass daraus auch eine neue transatlantische Dynamik entstehen kann, ist kein zufälliger Nebeneffekt, sondern unser erklärtes Ziel.
Meine dritte Bemerkung lautet deshalb: Größere europäische Beiträge halten die USA in der Verantwortung.
Dabei denke ich zum Beispiel an Afghanistan. Wir haben die USA in den vergangenen Monaten intensiv dabei unterstützt, einen stabilen Friedensentwurf zwischen den afghanischen Konfliktparteien zu vermitteln – etwa durch einen Inner-Afghanischen Dialog, der schon einmal informell begonnen wurde. Und deshalb sehen wir die Meldungen über eine Verständigung zwischen den USA und den Taliban als eine Chance. Damit daraus ein dauerhafter Friede wird, braucht es nun echte innerafghanische Verhandlungen, in denen Errungenschaften der vergangenen Jahre nicht wieder zurückgedreht werden. Ein so fragiler politischer Prozess funktioniert nur in einem sicheren Umfeld. “In together, out together„ – das sollte deshalb die Richtschnur bleiben aus Sicht von Deutschland, das in Afghanistan der zweitgrößte Truppensteller ist.
Und ich denke an die Sahel-Zone, die längst zu einem neuen Rückzugsort des internationalen Terrorismus geworden ist. Nirgendwo sonst sind Deutschland und Europa stärker engagiert – militärisch und zivil. Deutschland allein hat in den letzten drei Jahren fast drei Milliarden Euro in die Stabilität der Region investiert. Und wir sind auch bereit, noch mehr zu tun – sicherheitspolitisch und beim Aufbau staatlicher Strukturen.
Dazu werden wir auch in Zukunft die USA brauchen. Denn am Ende bedroht der islamistische Terror Menschen in Bamako genauso wie in Paris, Berlin oder Boston.
Und deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, müssen wir auch über transatlantisches Burdensharing reden – hier in München, in Brüssel, in Washington und in Berlin. Und mir ist bewusst: Wir müssen mehr tun – auch der Bundespräsident hat das heute deutlich ausgesprochen. Und wir haben damit ja auch bereits angefangen. Aber lassen Sie uns die Diskussion nicht nur auf eine einzige Frage verengen. Die Stärke unseres Bündnisses bemisst sich eben nicht allein in Euro oder Dollar.
Was wir brauchen, ist eine echte politische Debatte über die transatlantische Partnerschaft im 21. Jahrhundert, und zwar im Licht der Realitäten, mit denen wir es heute zu tun haben. Diesen Reflexionsprozess haben wir im Dezember in der NATO bereits angestoßen und wir sind überzeugt: Nicht maximale Disruption, sondern schonungslose Diskussion mit klaren Ergebnissen ist der einzig vernünftige Weg, der uns weiterbringt. Weil wir wissen: Nur gemeinsam haben wir die wirtschaftliche Kraft, das militärische Potenzial und die politischen Ordnungsvorstellungen, die es braucht, um die regelbasierte Weltordnung zu verteidigen.
Am besten beginnen wir damit dort, wo die vom “Munich Security Report” konstatierte “Westlessness” für uns am deutlichsten spürbar wird: nämlich in den Krisen vor unserer Haustür. Und vor dieser europäischen Haustür liegen Irak, Syrien, Libyen die Ukraine und die Sahel-Zone.
Lassen Sie uns keine Fehler zweimal machen! Überlassen wir diese und andere Krisen nicht denjenigen, die zwar Waffen und Söldner exportieren, aber mit Sicherheit eines nicht - dauerhaften Frieden.
Herzlichen Dank!