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Grußwort von Außenminister Heiko Maas zur Eröffnung des Love Europe Projects

07.05.2019 - Rede

„Wo kommst Du wirklich her?“

Das wird die deutsche Schülerin gefragt, die gerade zum Austausch nach England gekommen ist. Deutsche könne sie schließlich nicht sein, denn sie trage ja ein Kopftuch.

Es ist eine Szene aus dem Beitrag der englischen Regisseurin Charlotte Regan. Und ich hätte sie Ihnen nicht schon vorab erzählt, wenn eine solche Szene nicht auch bei längst uns trauriger Alltag wäre.

Paired Up – so heißt der Film – könnte an vielen Orten Europas spielen.

Wie in den anderen Filmen des “Love Europe Projects” stellt er Fragen nach Identität, nach selbst empfundener oder auch von außen übergestülpter. Was bedeutet es, in Europa zu leben? Was bedeutet es eigentlich, Europäer zu sein?

Bei diesen Fragen musste ich an ein Treffen mit dem Berliner Schriftsteller Nicol Ljubić denken, den ich vor einigen Monaten getroffen habe. Die Frage, was für ihn Europa ausmache, beantwortete er mit einem Wort: „Freiheit“.

Er erzählte mir von einer Reise mit seinem Vater in sein Geburtsland, nach Kroatien. Der Zöllner an der italienisch-slowenischen Grenze winkte sie durch, ohne auch nur in die Pässe zu schauen. Für uns ein alltäglicher Vorgang, scheinbar selbstverständlich.

Für Ljubićs Vater war das aber nicht so: Er hatte genau diese Grenze schon einmal überschritten – und zwar in umgekehrter Richtung, vor über 50 Jahren, als Flüchtling. In der Dunkelheit und in ständiger Angst vor jugoslawischen Grenzbeamten.

Ich finde, es sind solche Geschichten, die deutlich machen: Europa ist auch eine Frage der Perspektive.

Für den Vater von Nicol Ljubić war das Europa auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nichts anderes als ein Sehnsuchtsort. Ein Ort der Freiheit.

Und so alltäglich sie uns scheint - diese Freiheit, sie ist nicht selbstverständlich. In Zeiten, in denen eine Reise nach Warschau sich kaum von einer Reise nach München unterscheidet, muss man sich das noch einmal bewusst machen.

Ich kann das auch auf mich beziehen, der 1966 geboren und in Westdeutschland aufgewachsen ist. Alles, was mein Leben lebenswert macht: Frieden, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat, Bürgerrechte – nichts von dem musste ich mir erkämpfen. Es war schon alles da, ich fand es vor.

Und ich habe manchmal den Eindruck, dass viele – in meiner und auch anderen Generationen – der Auffassung sind, das seien alles Selbstverständlichkeiten.

Es sind aber keine Selbstverständlichkeiten. Und wenn man sich heute auf der Welt umschaut, im Übrigen auch in Europa, wird einem das sehr schnell deutlich.

Um sich das zu vergegenwärtigen, dabei hilft oft der Blick von außen. Und dabei helfen auch die persönlichen, die menschlichen Perspektiven auf Europa, die gerade das “Love Europe Project” zeigen.

Freiheit – das zeigen viele der Beiträge – ist etwas, das immer neu verteidigt werden muss.

Wir erleben derzeit, wie Nationalisten und Populisten unsere Freiheiten einschränken wollen. Indem sie Abgrenzung und Abschottung predigen. Indem sie Freiheit exklusiv definieren: Nur für Deutsche, nur für Weiße, nur für politisch Gleichgesinnte.

Ihr größter Komplize dabei ist die Gleichgültigkeit. Die Umfragen für die Wahlen zum Europäischen Parlament Ende des Monats sagen eine Stärkung der Rechtspopulisten voraus. Manchmal habe ich den Eindruck, wir alle finden uns etwas zu voreilig, zu bequem damit ab.

Dabei sind diejenigen, die für ein freies, gerechtes und tolerantes Europa stehen, die große Mehrheit.

Das zeigen auch alle Umfragen. Mehr als 80 Prozent der Menschen, die in unserem Land leben, sind pro-europäisch. Vielleicht wäre es gerade ein guter Moment, in der Beziehung die Klappe aufzumachen.

Und ich finde, es ist großartig, liebe Frau Sperl, dass Ihre Branche, und ganz besonders Sie, das tut. Mit etwas Großartigem, nämlich Filmen.

Ja, Europa, das wissen wir auch, ist nicht perfekt. Es gibt das Europa der sozialen Ungleichheiten. Das Europa der Vorurteile. Das wird auch in vielen Beiträgen des Filmes deutlich.

Ebenso deutlich, eigentlich noch viel deutlicher wird: Uns eint viel mehr, als uns trennt. Und letztlich liegt es an uns, in was für einem Europa wir leben. Denn Europa, das spiegelt sich auch in den Filmen, entsteht vor allem aus den Beziehungen zwischen Menschen.

Erst durch den Kontakt mit der deutschen Muslimin baut die englische Schülerin ihre Vorurteile ab. Und das, obwohl die deutsche Schülerin keine Antwort auf die Frage gibt, wo sie herkommt.

Vielleicht, weil die Antwort gar nicht so eindeutig ist, wie es scheint. „Ich bin Deutsche“, hätte sie sagen können. Aber sie hätte auch sagen können: „Ich bin Europäerin“.

Dass sie so antworten könnte, das verdankt sie dem vereinten Europa. Dieses Europa will unsere nationalen Identitäten nicht auslöschen. Im Gegenteil: Man kann Berliner, Deutscher und Europäer sein, ohne irgendeinen Widerspruch.

Meine sehr verehrten Damen, liebe Frau Sperl, Sie wollen mit Filmen Menschen bewegen. Tun Sie das. Nehmen Sie uns die Angst, machen Sie uns Mut und entfachen Sie auch so etwas wie Lust. Lust auf die europäische Identität, deren Schönheit darin liegt, dass sie eben nicht spaltet, sondern uns vereint. In all unserer Vielfalt.

Vielen Dank, dass Sie das tun mit diesem Projekt heute Abend.

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