Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

„Wir können uns aus dieser Krise nicht heraussparen“

04.06.2020 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit der italienischen Zeitung „La Repubblica“.

Der italienische Außenminister Luigi Di Maio wird Sie am Freitag in Berlin besuchen. Wann werden die Deutschen voraussichtlich wieder nach Italien reisen können?

Viele Deutsche können es jedenfalls kaum abwarten. Und wenn wir bei der Eindämmung des Virus weiter auf unserem guten Weg bleiben, dann besteht auch kein Grund mehr für eine generelle Reisewarnung in Europa. Deshalb wollen wir ab dem 15. Juni für Europa zu länderspezifischen Reisehinweisen zurückzukehren. Dann sollten auch touristische Reisen nach Italien wieder möglich werden – abhängig vom regionalen Infektionsgeschehen und natürlich mit den gebotenen Abstands- und Hygieneregeln. Wir wissen auch, dass jetzt alle zügig Klarheit brauchen: Die deutschen Reisenden und Reiseveranstalter, aber auch die Zielländer wie Italien. Deshalb haben wir uns gestern im Bundeskabinett auf ein Vorgehen geeinigt und gehen jetzt damit schnell in die Umsetzung.

Die Stimmung zwischen Italien und Deutschland hat während der Coronakrise einen Tiefpunkt erreicht: der Ausfuhrstopp von Gesichtsmasken im März hat tiefe Wunden hinterlassen. Umfragen bezeugen, dass das Vertrauen in Deutschland momentan sehr schwach ist. Wie kann diese Beziehung heilen?

Zur Wahrheit gehört: Europa war auf diese Krise nicht gut genug vorbereitet. Auch wir in Deutschland waren von der Wucht der Ausbreitung überrascht. Es war dann wie im Flugzeug: Wir mussten erstmal die eigene Schutzmaske anlegen, um anderen helfen zu können.

Aber wahr ist auch: Wir haben alle im Verlauf der Krise dazu gelernt und immer stärker gemeinsame und solidarische Antworten gesucht. Stand heute ist: Keine Region der Welt hat sich untereinander so solidarisch gezeigt wie wir in der Europäischen Union.

Wir haben schwerkranke Corona-Patienten aus Italien in unseren Kliniken aufgenommen, sie teils mit der Bundeswehr ausgeflogen. Wir haben Hilfsgüter wie Beatmungsgeräte kostenlos an Italien geliefert und es war ein Ärzte- und Pflegeteam aus Deutschland in Italien im Einsatz.

Und wir werden auch weiter solidarisch sein, wenn es jetzt um den wirtschaftlichen Neustart geht. Wir haben Europa, wie es heute ist, gemeinsam aufgebaut. Deshalb sind wir fest entschlossen, jetzt kein Land in Europa zurückzulassen.

Europa bekommt neuen Schwung durch den 750 Milliarden Wiederaufbaufond der EU-Kommission. Welche Prioritäten wird Deutschland während seiner anstehenden EU-Ratspräsidentschaft setzen?

Vorrang hat die Krisenbewältigung. Wir müssen die Pandemie im Griff behalten und gleichzeitig den wirtschaftlichen Neustart aufs Gleis bringen. Daran wird unsere Präsidentschaft gemessen. Dazu gibt es Pflichtthemen, die fest auf der EU-Agenda für die zweite Jahreshälfte stehen, vor allem die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen mit Großbritannien. Diese Mammutaufgabe würde in Normalzeiten für eine EU-Präsidentschaft völlig ausreichen – ganz ohne Corona. Gleichzeitig wollen wir auch bei strategisch wichtigen Themen wie Klimawandel, Flucht und Migration, Rechtsstaatlichkeit und Digitalisierung vorankommen. Europa kann sich kein verlorenes Jahr leisten.

Viele fürchten eine Hegemonie Deutschlands in Europa nach der Krise, eine ökonomische und, nach dem Brexit, eine politische. Wird es so kommen?

Das war nie unsere Vorstellung von Europa – und wird es auch nie sein. Wir wollen keine Hegemonie, sondern Teil eines geeinten Europas sein. Solche Ängste sind auch fern der politischen Realität in der Europäischen Union, denn dort ist bei allen wichtigen Entscheidungen Einstimmigkeit oder eine breite Mehrheit der Mitgliedsstaaten nötig. Deutschland ist in der EU nicht annähernd so übermächtig, wie es gerade in Italien oftmals wahrgenommen wird. Und daran ändert sich auch mit dem Brexit nichts – der ja im Übrigen in den EU-Gremien schon seit dem 1. Februar vollzogen ist. Großbritannien sitzt dort längst nicht mehr mit am Tisch und hat kein Stimmrecht mehr.

Die „sparsamen Vier“, Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden, wollen die Quote des Wiederaufbaufonds, die aus Krediten besteht, reduzieren. Wird Deutschland an dem Prinzip festhalten - und sich durchsetzen können - dass es sich um Zuschüsse handeln soll?

Wir haben uns in der EU ja schon auf ein Paket von über einer halben Billion Euro für die unmittelbare Krisenbewältigung geeinigt – in Rekordtempo. Ich bin optimistisch, dass wir das wiederholen können, wenn es jetzt um die wirtschaftliche und soziale Erholung geht. Zuschüsse sind nach unserer Überzeugung der sinnvollste Weg in dieser besonderen Lage. Wir können uns aus dieser Krise nicht heraussparen, wir müssen herauswachsen. Aber klar ist auch: das viele Geld, das wir jetzt in die Hand nehmen, muss klug und nachhaltig ausgegeben werden. Wir müssen aus der Not eine Tugend machen und den ökologischen und digitalen Umbau unserer Gesellschaften voranbringen. Wenn wir künftige Generationen jetzt mit Schulden belasten, dann müssen wir diese Mittel auch in ihre Zukunft investieren. Alles andere wäre unverantwortlich.

Der amerikanische Präsident, Donald Trump hat angekündigt, dass der G7 Gipfel auf September verschoben werden soll, aber dass andere Länder teilnehmen sollen, unter anderem Russland. Ist das akzeptabel?

Die USA sind Gastgeber des Treffens. Deshalb warten wir jetzt erst einmal auf weitere Informationen durch die USA, welches Format der G7-Gipfel in diesem Jahr genau annehmen soll. Klar ist aber, dass sich an den Gründen, weshalb wir uns im Jahr 2014 für eine Fortsetzung der G7-Treffen ohne Russland entschieden haben – der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim – bis heute nichts geändert hat.

Wie besorgt sind Sie wegen der Unruhen, die in den USA nach dem Mord an dem Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis ausgebrochen sind? Trump droht örtlichen Behörden mit der „unbegrenzten Macht der Militärs“ und verlangt hartes Durchgreifen mir den Teilnehmern an den Demos.

Der Tod von George Floyd ist grauenhaft und schockierend. Meine Gedanken sind bei seinen Angehörigen und Freunden. Friedlicher Protest gegen die Umstände seines Todes ist verständlich und mehr als legitim. Ich kann nur meine Hoffnung ausdrücken, dass die friedlichen Proteste nicht weiter von Chaos und Gewalt überschattet werden – und dass alle Seiten zur De-Eskalation beitragen.

Trump rüttelt seit Anfang an den Nato-Beziehungen und provoziert gerne die EU. Zuletzt hat er sich aus dem wichtigen “Open Skies”-Vertrag zurückgezogen, und die Europäer werden immer wieder beschuldigt, zu wenig für Rüstung auszugeben. Ist die Nato „hirntot“, wie Macron provokatorisch behauptet hat?

Die NATO ist seit 70 Jahren die Lebensversicherung Europas. Damit das so bleibt, müssen wir unser Bündnis auf neue Herausforderungen einstellen und vermehrt europäische Verantwortung in der Sicherheitspolitik übernehmen. Dafür habe ich einen Reflexionsprozess angeregt, um die politische Zusammenarbeit im Bündnis zu stärken. Unter der Leitung von NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat ein Expertengremium mit diesem Prozess begonnen. Was die Lastenteilung anbelangt: wir stehen zu unseren Verpflichtungen in der NATO. Seit 2014 haben wir unsere Verteidigungsausgaben um 45 Prozent erhöht und leisten jeden Tag konkrete Beiträge zur Stärkung der NATO – als zweitgrößter Truppensteller in Afghanistan, mit unseren Eurofighter beim “air policing” im Baltikum oder dem neuen NATO-Hauptquartier, das in Ulm gebaut wird. Die US-Ankündigung, aus dem “Open Skies”-Vertrag auszutreten, bedauere ich sehr. Der Vertrag ist ein wichtiger Bestandteil der europäischen Rüstungskontrollarchitektur und trägt zu unserer aller Sicherheit bei. Auch wenn es in den letzten Jahren auf Seiten Russlands Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Vertrags gab, rechtfertigt das aus unserer Sicht keine Kündigung. Das machen wir zusammen mit unseren Partnern gegenüber den USA immer wieder deutlich.

Die USA haben ihre Beziehung zur Weltgesundheitsorganisation abgebrochen: Trump hält sie für eine „Marionette“ Chinas. Was halten Sie davon? Sind die Kritiken an China und an das WHO nicht gerechtfertigt?

Das ist das falsche Signal zur falschen Zeit. Statt nationaler Alleingänge brauchen wir multilaterale Kooperation: eine gemeinsame und solidarische Antwort aller Staaten und der Vereinten Nationen, mit einer starken WHO im Zentrum. Natürlich wird es auch notwendig sein, die richtigen Lehren aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie zu ziehen und notwendige Reformen anzugehen. Dieser Aufgabe wollen wir uns zu einem geeigneten Zeitpunkt stellen – gemeinsam mit der WHO und unseren Partnern. Ziel einer solchen Prozesses bleibt aber die Stärkung der WHO, damit diese ihren Aufgaben effektiv und unparteiisch nachkommen kann.

Ihre Regierung ist stark von der Opposition wegen einer zu sanften Reaktion auf das „Sicherheitsgesetz“ Chinas gegen Hong Kong kritisiert worden. Fürchten Sie nicht, dass die Opposition brutal unterdrückt werden wird?

Das hohe Maß an Autonomie, das Hongkong genießt und das die Grundlage für Stabilität und Wohlstand in Hongkong ist, darf nicht ausgehöhlt werden. Das Sicherheitsgesetz darf den Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ und die Rechtsstaatlichkeit in Hongkong nicht in Frage stellen. Meinungs- und Versammlungsfreiheit und demokratische Debatte müssen auch in Zukunft respektiert werden. Das haben wir seitens der deutschen Bundesregierung und auch als EU sehr deutlich gemacht. Und dafür werden wir uns gegenüber China auch weiterhin einsetzen.

China hat wegen des langen Schweigens nach dem Ausbruch der Pandemie viel Vertrauen in der Welt verspielt: wie sehen Sie die Beziehungen mit China in der Zukunft und worauf wird sich der deutsche EU-China-Gipfel konzentrieren?

Es gibt viele wichtige Themen, die wir mit China besprechen wollen und müssen. Denn klar ist: die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden wir nur in Zusammenarbeit mit China bewältigen. Wir wollen China zu ehrgeizigen Klimazielen und fairem globalen Wettbewerb verpflichten, etwa durch ein ambitioniertes Investitionsabkommen zwischen China und der EU, über das wir im Moment verhandeln. Um hier weiterzukommen und echte Fortschritte in unseren gemeinsamen Beziehungen zu erreichen, ist der EU-China Gipfel während unserer Ratspräsidentschaft im September eine wichtige Gelegenheit.

Angesichts des Vertrauensbruchs während der Pandemie, sollte man zum Beispiel nicht in strategischen Bereichen wie das 5G chinesische Firmen lieber draußen lassen?

Europa darf sich – gerade bei kritischer Infrastruktur und Zukunftstechnologien – nicht in einseitige Abhängigkeiten begeben. Dafür müssen wir in Europa gemeinsam Sorge tragen. Unser Ziel ist es, die Souveränität der EU auch in diesen Fragen zu stärken und in gemeinsame Lösungen zu investieren.

Dabei geht es nicht darum, bestimmte Länder an den Pranger zu stellen, sondern die Anforderungen klar zu definieren, die wir in unserem eigenen Interesse an alle Anbieter stellen müssen.

Zwischen Deutschland und Russland sind die Beziehungen angespannt. Letzte Woche ist der russische Botschafter, Sergej J. Netschajew, wegen des Hackerangriffs auf den Bundestag in Ihr Ministerium geladen worden. Moskau behauptet immer wieder, es gäbe keine Beweise dafür, dass die russischen Geheimdienste dahinter stecken. Wie antworten Sie darauf und wie wird Deutschland in Zukunft mit Russland umgehen?

Es gibt konkrete und belastbare Hinweise der Ermittlungs- und Justizbehörden, dass ein russischer Staatsangehöriger für den russischen Geheimdienst den Hackerangriff auf den Deutschen Bundestag im Frühjahr 2015 ausgeführt hat – zusammen mit anderen Personen. Auf dieser Grundlage haben die Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Von einer politischen Vorverurteilung, wie das von russischer Seite immer wieder behauptet wird, kann also überhaupt nicht die Rede sein. Wir werden uns in Brüssel auch dafür einsetzen, das EU-Cybersanktionsregime für die Verantwortlichen des Angriffs zu nutzen, um etwa Vermögenswerte einzufrieren oder Einreisebeschränkungen zu verhängen. Gleichzeitig ist auch klar, dass wir in anderen außenpolitischen Feldern, wie etwa zum Konflikt in der Ost-Ukraine oder zu Libyen und Syrien weiterhin in einem konstruktiv-kritischen Dialog mit Moskau bleiben wollen.

Angesichts der Situation in Libyen, wo immer noch gekämpft wird, kann man sagen, dass der Berliner Prozess gescheitert ist?

Wir sehen die anhaltenden Kämpfe in Libyen und weiteren Waffenlieferungen auf beiden Seiten mit großer Sorge. Umso mehr begrüße ich, dass sich die Konfliktparteien nun bereit erklärt haben, die sogenannten „5+5“-Gespräche für einen Waffenstillstand in Genf wieder aufzunehmen. Es ist jetzt an allen Beteiligten, sich hier konstruktiv einzubringen. Wie es weiter geht und wie wir im Rahmen des Libyen-Prozess weiterarbeiten, dazu stehe ich auch in engen und sehr guten Austausch mit meinem Kollegen Luigi Di Maio. Wir werden nicht müde, die Teilnehmer der Berliner Libyen-Konferenz an ihre Selbstverpflichtung aus dem Januar zu erinnern. Und wir werden mit der EU-Operation Irini auch unseren Teil zur Umsetzung des Waffenembargos beitragen.

Sie sind wegen Auschwitz in die Politik eingetreten. Wie besorgt sind Sie über die antisemitischen Vorfälle in Deutschland, die letztes Jahr einen Rekord erreicht haben und zu über 90% von Rechtsextremen kamen? „Nie wieder“: kann Deutschland dieses Versprechen einhalten?

Antisemitismus und Fremdenhass haben keinen Platz in unserer Gesellschaft. Mehr als 2.000 antisemitische Straftaten im Jahr sind eine Mahnung, dass es nicht reicht, diesen Satz nur zu sagen: Wir müssen uns jeden Tag dafür einsetzen, dass Jüdinnen und Juden sich in Deutschland und in ganz Europa sicher fühlen. Deshalb hat die Bundesregierung einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus eingesetzt. Denn Antisemitismus, Fremdenhass und Rassismus gefährden den Zusammenhalt der offenen, vielfältigen und demokratischen Gesellschaft. Und wir müssen uns erinnern, was vor 80 Jahren in Deutschland begann und in der Shoah endete. Deshalb fördert das Auswärtige Amt neue Wege und Formate für Erinnerungsarbeit. Es ist leider eine traurige Gewissheit, dass Zeitzeugen bald nicht mehr persönlich von den Schrecken der Shoah berichten können. Im Rahmen des deutschen Vorsitzes der International Holocaust Remembrance Alliance in 2020 stärken wir auch den Kampf gegen Holocaustverharmlosung und –Leugnung.


Schlagworte

nach oben