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„Italien und Deutschland tragen eine besondere Verantwortung“

29.09.2018 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit La Repubblica

Herr Bundesaußenminister Maas, Sie werden heute in Marzabotto sein, um an das Massaker der Nationalsozialisten zu erinnern. Wie besorgt sind Sie über den „unaufhaltbaren Aufstieg“ der nationalistischen und populistischen Rechten in Europa und über Episoden wie Chemnitz, wo eine Partei, die im Bundestag sitzt, die AfD, zusammen mit Pegida und Rechtsextremisten demonstriert hat?

Was in Chemnitz passiert ist, hat mich schockiert. Viele meiner europäischen Kollegen haben mich besorgt darauf angesprochen, und ich kann diese Sorge nachvollziehen. Da ist auf einmal wieder der Hitlergruß zu sehen – eine Schande für unser Land. Dem müssen wir uns ganz klar entgegen stellen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln von Rechtstaat und Justiz. Und das ist auch geschehen. Lassen Sie mich aber eines auch klar sagen: Die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen ist von Chemnitz genauso schockiert wie ich. Ich bin froh, dass es auch eine starke öffentliche Gegenreaktion gab: Für Demokratie, für Offenheit, für Toleranz.

Chemnitz und der Fall Maaßen haben die Große Koalition zum zweiten Mal in wenigen Monaten am Rande eines Bruchs gebracht. Wie lange können sich diese Regierung und Angela Merkel noch halten? Und ist diese deutsche Krise nicht gefährlich im Hinblick auf die wahrscheinlich wichtigste Europawahl seit jeher?

Eine Regierung muss sich daran messen lassen, ob sie das Leben der Bürgerinnen und Bürger zum Besseren verändern kann. Wir haben in den ersten Monaten viel auf den Weg gebracht und sind wichtige Themen wie Rente, Miete, Kinderbetreuung und Arbeitsrecht angegangen. Leider ist durch den öffentlichen Streit ein anderer Eindruck entstanden. Bei diesen Sachfragen wollen wir jetzt wieder ansetzen. Bis 2021 haben wir noch viel vor. Bei der Europawahl wollen wir zeigen, dass wir mit einer proeuropäischen Agenda überzeugen können.

Sie behaupten, auf “America first„ sollte man mit ”Europe United“ antworten. Angesichts der starken Parolen Trumps und der Rechten in Europa, ist das nicht zu vage? Brauchen die traditionellen Parteien nicht stärkere Ideen und Projekte für Europa?

Europe United“ bedeutet, dass wir Europäer nur gemeinsam bestehen können in einem internationalen Umfeld, in dem wir alleine einfach nicht gestaltungsfähig sind. Hinter „Europe United“ stehen ganz konkrete Vorschläge, wie wir den Zusammenhalt der EU stärken können. Zum Beispiel in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik – wo übrigens Federica Mogherini in New York gerade sehr gut zeigen konnte, dass die EU in der Iran-Politik eine eigene Linie vertritt. Wir sollten in diesem Bereich mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen, nicht nur einstimmig. Wir lassen im Kampf um ein echtes gemeinsames europäisches Asylsystem nicht locker. Mit “Europe United” meine ich aber auch den sozialen Zusammenhalt Europas, zum Beispiel den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit.

Es kann gar nicht genug Ideen und Projekte für Europa geben - diese können von den traditionellen Parteien kommen, aber natürlich auch von Bürgerinitiativen oder sozialen Bewegungen. Auf jeden Fall haben die Bürger bei den Europawahlen im nächsten Jahr eine echte Entscheidung zu treffen. Daher ist es wichtig, von diesem Recht auch Gebrauch zu machen.

In Italien regieren Lega und 5Stelle und machen sich mit einer aggressiven Politik gegen die Flüchtlinge und mit europafeindlichen Parolen stark. Wie besorgt sind Sie darüber und glauben Sie nicht, dass die Tatsache, dass ein so großes Land sich querstellt, den europäischen Prozess der Integration endgültig lähmen könnte?

Die italienische Regierung hat sich klar zu Europa, den europäischen Verträgen und dem Euro bekannt. Ich konnte mich in vielen Gesprächen mit meinem Amtskollegen Enzo Moavero Milanesi davon überzeugen, dass Italien aktiv den europäischen Einigungsprozess mitgestalten möchte. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir uns in Europa in stürmischen Zeiten befinden und viele Fragen gestellt werden. Mir hat dabei aber noch niemand schlüssig erklären können, wie Migration, Klimawandel, Digitalisierung oder Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion im nationalen Alleingang gelöst werden sollen. Die EU muss in der Lage sein, konkrete Lösungen für die Bürgerinnen und Bürger zu liefern. Und Italien und Deutschland tragen als Gründerstaaten eine besondere Verantwortung. Abschottung und Fremdenfeindlichkeit haben dagegen keinen Platz in der EU. Das barbarische und schändliche Massaker 1944 in Marzabotto verdeutlicht, wohin Nationalismus im Extremfall führen kann.

www.repubblica.it

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