Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Außenminister Heiko Maas zum 25. Jahrestag des „Solinger Brandanschlags“

29.05.2018 - Rede

-- Redemanuskript zur Gedenkveranstaltung am 25. Jahrestag des rechtsextremistisch motivierten Brandanschlages in Solingen* --

Sehr geehrte Familie Genç, sehr geehrte Familie İnce,
sehr geehrter Herr Kollege Çavuşoğlu,
sehr geehrte Frau Vizepräsidentin, liebe Claudia Roth,
sehr geehrter Herr Minister Dr. Stamp,
sehr geehrte Frau Staatsministerin,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Tim Kurzbach,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen.“ So steht es auf dem Mahnmal hier auf dem Schulgelände uns, mit dem die Menschen in Solingen an den grausamen Mord an fünf Mitbürgerinnen und Mitbürgern vor 25 Jahren erinnern.

Wir wollen nicht vergessen – darum sind wir heute hierhergekommen. Deutsche, Türken, ein türkischer und ein deutscher Außenminister – vereint im Gedenken an die Geschehnisse des 29. Mai 1993 und vereint im Kampf gegen Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Und seit einigen Tagen übrigens auch gemeinsam verewigt mit zwei Ringen als Teil des Mahnmals. Den deutschen und türkischen Jugendlichen und der Werkstatt der Jugendhilfe Solingen möchte ich herzlich dafür danken, dass sie die Ringe hergestellt und angebracht haben.

Sie sind ein sichtbares Zeichen gegen das Vergessen und für die Erinnerung. Die Erinnerung an Gürsün İnce, Gülüstan Öztürk, Hatice, Hülya und Saime Genç, die Opfer geworden sind von blindem Hass und sinnloser Gewalt.

Ich erinnere mich gut an die schrecklichen Bilder der Brandnacht, an die verkohlte Ruine des Hauses an der Unteren Wernerstraße, an die Krawalle in den Tagen nach dem Anschlag, auch an die Lichterketten in vielen deutschen Städten, die Ausdruck waren von Abscheu und Empörung über dieses furchtbare Verbrechen.

Am tiefsten eingeprägt hat sich mir aber ein Fernsehinterview mit Ihnen, Frau Genç, nur wenige Tage nach dem Verlust Ihrer Liebsten. „Wir wollen keine weiteren Opfer und keine weitere Trauer – wir wollen Versöhnung“ – das war Ihre bewegende Botschaft.

Sie wirkt bis heute nach. Solingen 25 Jahre später ist eben nicht mehr einer der Orte, der sofort mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Verbindung gebracht wird. Solingen ist inzwischen auch ein Symbol der Versöhnung, ein Ort, an dem neuer Zusammenhalt gewachsen ist.

Wenn Erinnerung also heute von manchen als „Schuldkult“ diffamiert und Denkmäler als „Mahnmale der Schande“ verhöhnt werden, müssen wir dem gemeinsam entgegentreten. Denn wir wissen, dass Erinnern kein Zeichen von Schwäche ist. Verantwortung für die Fehler unserer Vergangenheit zu übernehmen macht uns stark. Die Hand zur Versöhnung auszustrecken – das ist keine Erniedrigung, sondern Ausdruck menschlicher Größe!

Meine Damen und Herren,

nicht wegzusehen – dieser Auftrag folgt aus der Erinnerung. 312 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte gab es allein im vergangenen Jahr – das ist fast einer pro Tag.

Und auch wenn die Zahl rechtsmotivierter Gewalttaten im vergangenen Jahr um ein Drittel gesunken ist, so müssen wir doch ganz klar sagen: Völlig egal, welches die vermeintlichen Motive für Gewalt sein mögen – es gibt keinerlei Rechtfertigung für extremistische Gewalt. Jede einzelne Straftat ist eine zu viel. Und: Die Täter müssen mit aller Konsequenz zur Rechenschaft gezogen werden. Hier darf der Rechtsstaat nicht wegsehen. Kein Kampf verdient so viel Mut, Ausdauer und so große Opfer wie der Kampf um die Würde des Menschen.

Wir haben in den vergangenen Jahren unsere Instrumente gegen Hasskriminalität deutlich geschärft.

Dazu zählt auch, dass wir strafbare Hasspropaganda und gewalttätige Hetze im Internet nicht mehr einfach hinnehmen. Denn die sprachliche Verrohung, gerade auch im Internet, bleibt nicht ohne Folgen. Gewalt entsteht im Kopf und aus Worten werden leider allzu oft auch Taten.

Solange Brandsätze in Moscheen fliegen, junge Männer mit Kippa auf offener Straße angegriffen oder Homosexuelle, die Hand in Hand gehen, zusammengeschlagen werden, gibt es keinen Grund zur Entwarnung.

Ganz im Gegenteil: Wir müssen solche Verbrechen als das behandeln, was sie sind: Angriffe auf uns alle, auf unsere Werte und unser friedliches Zusammenleben. Und auch auf das, was Deutschland ausmacht.

Ich weiß, dass viele von Ihnen, die selbst oder deren Eltern und Großeltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, auch heute noch Diskriminierungen im Alltag erfahren. Ihnen möchte ich sagen: Sie sind uns hier nicht nur willkommen, Sie sind ein Teil unseres Landes!

Unser Land, unser Grundgesetz stellt die Würde des Menschen über alles andere.

Genau diese Würde aber haben die Täter von Solingen ihren Opfern abgesprochen, wenn sie getrieben von blindem Hass nur noch das Trennende sehen und keinen Blick mehr haben für unsere gemeinsame Menschlichkeit.

„Wir wollen nicht schweigen“, denn wir alle können Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gemeinsam etwas entgegensetzen.

Äußern wir uns, wenn wir miterleben, dass Menschen wegen ihrer Herkunft im Beruf benachteiligt werden!

Mischen wir uns ein, wenn Diskussionen im Familien- und Freundeskreis in dumpfe Ressentiments abgleiten!

Setzen wir Argumente und Fakten gegen die Untergangsszenarien der Rechtspopulisten, die aus Desinformation und der Angst der Menschen Profit schlagen!

Dies ist nicht leicht und oft auch unbequem. Aber wir dürfen nicht davor zurückschrecken, zu unseren Überzeugungen zu stehen und auch Differenzen auszuhalten.

Dies gilt übrigens auch für die Außenpolitik, wo Dialog und Verständigung ja erst dann möglich werden, wenn wir auch unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen klar benennen.

Ich sage dies auch mit Blick auf die Kritik, die von manchen im Vorfeld dieser Gedenkveranstaltung an der Teilnahme türkischer Regierungsvertreter geäußert wurde. Natürlich gibt es in einigen Punkten unterschiedliche politische Sichtweisen zwischen der Türkei und Deutschland.

Aber das darf keine Absage bedeuten an das gemeinsame Erinnern an ein Verbrechen, das unsere Bürgerinnen und Bürger in Schmerz und Trauer, aber auch im entschlossenen Vorgehen gegen Gewalt und Rassismus vereint hat!

Eine Demokratie hält unterschiedliche Meinungen nicht nur aus – sie lebt von der Debatte und wächst am Widerspruch. Schwach ist sie nur dann, wenn wir sie nicht gegen diejenigen verteidigen, die Andersdenkende pauschal als Lügner und Verräter brandmarken; die „Wir sind das Volk“ schreien, aber eigentlich meinen: „Nur wir sind das Volk“.

Meine Damen und Herren,

in einem Vierteljahrhundert sind die Kastanien, die dort gepflanzt wurden, wo einst das Haus der Familie Genç stand, zu großen Bäumen herangewachsen.

Auch manche Wunde hat die Zeit vielleicht geheilt – das wünsche ich Ihnen zumindest von ganzem Herzen, liebe Familie Genç und liebe Familie İnce.

Und doch bleibt mehr als eine Lücke. Die fünf Toten werden immer fehlen.

Ihr Andenken ist Auftrag für uns - nicht zu vergessen, nicht wegzusehen und nicht zu schweigen. Und jeden Tag aufs Neue für Toleranz, Vielfalt und Mitmenschlichkeit in unserem Land und in der Welt einzutreten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Kommen – mir war es ein persönliches Anliegen, heute hier zu sein und eine große Ehre vor Ihnen sprechen zu dürfen.

* Die Rede wurde vor Ort nicht gehalten, weil die Veranstaltung wegen eines Unwetters abgebrochen werden musste. Der Text ist zum Zitieren freigegeben.

Schlagworte

nach oben