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Grußwort von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Zentralen Gedenkveranstaltung zum 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen

18.04.2021 - Rede

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so alt werde.“ Das sagte Leon Schwarzbaum zu seinem 100. Geburtstag am 20. Februar dieses Jahr.

Als die Nationalsozialisten seine Familie und ihn 1943 nach Auschwitz deportierten – da war er 22 Jahre alt. Seine Angehörigen wurden dort ermordet – alle.

Er überlebte Auschwitz – und dann auch die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen.

Heute ist Leon Schwarzbaum – wie auch Herr Reichmuth, den wir später noch hören werden, – einer der wenigen noch lebenden ehemaligen Insassen dieses Konzentrationslagers Sachsenhausen.

Sein Schicksal ist eines von über 200.000 Menschen, die hier zwischen 1936 und 1945 inhaftiert, gedemütigt und gefoltert wurden.

Menschen aus über 40 Nationen – Deutsche, Franzosen, Polen, Russen. Sie waren politische Häftlinge, Juden, Roma, Homosexuelle oder Soldaten gegnerischer Armeen.

Viele von ihnen fanden in Sachsenhausen den Tod, durch die Hände deutscher Täter.

Im Herbst 1941 ermordete die SS hier über 10.000 sowjetische Kriegsgefangene.

Zudem töteten Hunger und Krankheiten, Zwangsarbeit und Misshandlungen tausende Lagerinsassen.

Und viele weitere kamen bei den Todesmärschen nach der Räumung des Lagers im April 1945 um.

Heute – am 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers – gedenken wir all dieser Opfer. Wir verneigen uns vor ihnen. Und wir schämen uns für unsere Verbrechen, die an ihnen begangen wurden.

Das Gedenken an die nationalsozialistischen Gräueltaten bleibt für unser Land zentral.

Aber das allein reicht nicht. Gedenken ist kein Selbstzweck. Das Erinnern hat das Ziel dabei zu helfen, dass auch im Heute die richtigen Konsequenzen gezogen werden.

Und auch im Heute, in Deutschland im Jahr 2021, gibt es Antisemitismus, werden Juden auf deutschen Straßen bespuckt.

Ich stelle mir bis heute die Frage: Wie konnte das geschehen, der Holocaust? Die einen waren beteiligt. Die anderen haben fast alle weggeschaut.

Wenn heute Juden bespuckt werden, wenn man Antisemitismus auf der Straße erlebt und wegschaut, dann haben nicht nur diejenigen, die antisemitisch handeln, nichts aus unserer Geschichte gelernt. Auch die, die wegschauen, haben nichts aus unserer Geschichte gelernt.

Und deshalb müssen wir erinnern an Tagen wie diesen und an Orten wie diesen.

Und wir als Deutschland, wir müssen handeln angesichts von Antisemitismus, Rassismus, Intoleranz und Verschwörungstheorien, wie wir sie gerade jetzt auch in unserem Land wieder erleben.

Deshalb hat Deutschland, auch in der Verantwortung für seine Geschichte, zuletzt während seines Vorsitzes der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken eine globale Task Force gegen Holocaust-Verfälschung initiiert. Politik muss Ergebnisse liefern im Heute und im Jetzt. Dazu gibt es seit Januar Empfehlungen der Allianz, wie Politik und Entscheidungsträger gegen Tatsachenverdrehungen zum Holocaust vorgehen können. Nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Denn zuerst kommen immer die Worte – und dann die Taten.

Als erstes Land weltweit hat Deutschland auch Ende März die Arbeitsdefinition von Antiziganismus der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken angenommen. Wir ermutigen andere Staaten und zivilgesellschaftliche Organisationen, sie ebenfalls anzuwenden – und damit dem Hass und der Hetze gegen Roma, derer wir auch an diesem Ort gedenken, entschieden entgegenzutreten.

Und die Bundesregierung arbeitet daran, Einbürgerungen von Opfern des Nationalsozialismus und ihren Nachkommen noch weiter zu erleichtern. Das ist schon etwas grotesk, dass wir überhaupt daran arbeiten müssen, das zu erleichtern. Wir passen gerade das Staatsangehörigkeitsrecht an. Bereits jetzt nehmen unsere Auslandsvertretungen auf der ganzen Welt jedes Jahr zahlreiche Einbürgerungen von Personen vor, denen zwischen 1933 und 1945 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, Jüdinnen und Juden, nur wegen ihres Glaubens.

Und wir wissen gar nicht, welch unverdientes Geschenk das ist, dass diese Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit wiederhaben wollen.

Es ist sogar, das berichten mir Kolleginnen und Kollegen an Auslandsvertretungen aus der ganzen Welt, für viele ein Herzenswunsch. Etwas, das sie als eine Form später Gerechtigkeit empfinden – ihre Einbürgerung heute zurückzuerlangen.

Ihr Zutrauen gegenüber dem heutigen Deutschland sollte uns alle zutiefst berühren – genau wie das von Leon Schwarzbaum, der heute in Berlin lebt – und auch in Vorträgen und Filmen über seine Erlebnisse und den Holocaust erzählt.

Der Glaube der Überlebenden an das Gute in unserem Land – er muss uns Verpflichtung sein, dieses Gute zu stärken, zu festigen und zu verteidigen.

Nichts, aber auch gar nichts, ist im Heute eine Selbstverständlichkeit. Wir alle sollten etwas tun gegen Ausgrenzung, Feindseligkeit und Hass.

Und für ein Deutschland und Europa, in dem wir heute in Frieden, Freiheit und Demokratie leben – und das auch in Zukunft tun wollen.

Vielen Dank.

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