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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Ausstellungseröffnung „Erinnerung bewahren – Schutz und Sichtbarmachung von Massengräbern des Holocaust in der Ukraine“

Außenminister Heiko Maas eröffnet die Ausstellung Erinnerung bewahren im Auswärtigen Amt

Außenminister Heiko Maas eröffnet die Ausstellung „Erinnerung bewahren“ im Auswärtigen Amt, © Thomas Trutschel/photothek.net

28.08.2019 - Rede

Iwanopil ist ein typisch ukrainischer Ort. Eine ländliche Postkartenidylle: Bunte Häuser, Gemüsegärten, ein kleiner See - eingebettet in grüne Felder und Hügel.

Wer Fotos sieht, der kann sich auch heute noch gut vorstellen, wie Iwanopil im Sommer 1941 ausgesehen haben muss. Vor 78 Jahren, als mit den deutschen Besatzern das Grauen in den Ort gekommen ist.

Auch insofern ist Iwanopil typisch für die Ukraine. Im Mai 1942 ermordeten deutsche Soldaten dort mehr als 800 Kinder, Frauen und Männer. Aus einem einzigen Grund: sie waren Juden.

Nur wenige Tage später wurden zwischen 40 und 80 Roma ermordet.

Als kleiner Junge hat Deonszij Sovynskyi dieses grausame Massaker beobachtet. Obwohl es lebensgefährlich war, auf die Straße zu gehen, kletterte er mit anderen Jungen aus Neugier auf die Akazien einer Baumschule. Von dort sah er genau, was damals am Seeufer geschah:

Wie die Menschen weinten und um ihr Leben flehten.

Wie die Schüsse abgefeuert wurden und die Sterbenden zu Boden fielen.

„Zwei Tage nach dem Massaker war das Wasser noch immer rot gefärbt vom ganzen Blut“, so erinnert er sich bis heute.

Iwanopils Geschichte – das ist die Geschichte von über 2.000 Massenerschießungen allein auf dem Gebiet der Ukraine. Auf Dorfplätzen, in Waldstücken, in Straßen- und Schützengräben ermordeten die Wehrmacht, die SS, deutsche Polizeieinheiten und ihre Helfershelfer

  • mehr als eine Million Juden,
  • mindestens 12.000 Roma,
  • zahllose sowjetische Kriegsgefangene
  • und Menschen mit psychischen oder physischen Einschränkungen.

Eine Karte, die dort drüben ausgestellt ist, dokumentiert diesen sogenannten „Holocaust mit Kugeln“. Jeder Ort, an dem mehr als 500 Juden erschossen wurden, ist mit einem kleinen schwarzen Punkt gekennzeichnet. Die Karte der Ukraine – sie ist übersät mit schwarzen Punkten.

Trotz der unfassbaren Dimension dieser Verbrechen wird dieser Teil des Holocaust bis heute, wie wir finden, zu wenig beachtet. Auf einigen der Massengräber stehen Häuser. Andere werden als Felder genutzt. Viele sind unbekannt, namenlos und verwildert.

In Iwanopil und an 14 weiteren Orten hat sich das diesen Sommer endlich geändert. Seit dem 18. Juni erinnert dort ein Gedenkort an die Opfer der Massenerschießungen.

Wir verdanken das dem Projekt „Erinnerung bewahren“. Seit Ende 2015 identifiziert die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ die Massengräber und gestaltet sie in würdige Gedenk- und Informationsorte um.

Danken möchte ich heute daher Ihnen und Ihren Mitarbeitern, lieber Herr Neumärker. Dass wir in den letzten drei Jahren 15 Gedenk- und Informationsstätten fertiggestellt haben – das wäre ohne Ihren großen Einsatz schlicht nicht möglich gewesen.

Die Stiftung folgt damit der Pionierarbeit, die Sie, liebe Frau Berger, von 2010 bis 2015 geleistet haben. Und auch dafür einen herzlichen Dank!

Einschließen in diesen Dank möchte ich auch all die anderen Frauen und Männer, die ihren Teil zu einem würdigen Erinnern an die Massenerschießungen beigetragen haben. Sie, liebe Frau Beck, die Sie mit dem Zentrum Liberale Moderne Erinnerungsprojekte unter anderem in Odessa initiiert haben.

Und natürlich unsere Partner vom Ukrainischen Zentrum für Holocaust-Studien und die Verantwortlichen vor Ort, an den Gedenkstätten. Ohne sie alle wäre das nicht möglich gewesen.

Was ein würdiges Gedenken für die Überlebenden und Angehörigen bedeutet, das hat Leonid Kachanivskyi bei der Einweihung der Gedenktafel in Iwanopil zum Ausdruck gebracht.

Seine Mutter Rahil hatte die Massenerschießung dort als einzige aus ihrer Familie überlebt. Nach dem Krieg kümmerte sie sich um das Grab und besuchte es Jahr für Jahr am Tag des Massakers. Nach dem Tod der Mutter kam Leonid in den letzten Jahren allein zum Grab, räumte es auf und gedachte der Opfer.

Dieses Jahr kam er wieder. Doch die Grabstelle war schon aufgeräumt. Und eine Gruppe von Schülern der lokalen Schule erinnerte dort gerade der Toten.

„Ich habe gespürt, dass ich nicht mehr alleine bin“ – so fasste Leonid seine Gefühle in diesem Moment zusammen.

Meine Damen und Herren,
das Gefühl, nicht allein zu sein – es entsteht auch aus dem gemeinsamen Erinnern.

Und dieses Nicht-Alleinsein ist wichtig. Es ist wichtig in Zeiten,

  • in denen auch gewählte Volksvertreter ganz unverhohlen unsere Erinnerungskultur angreifen und das Unvergessliche vergessen machen wollen.
  • In denen antisemitische Straftaten auf deutschen Straßen zunehmen – denken wir nur an die jüngsten Angriffe auf Rabbiner in München und hier in Berlin.
  • In denen im Internet Hass, Lügen und Hetze gegen Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten immer erschreckendere Formen annehmen. Und damit auch den Boden bereiten für tätliche Gewalt.

Deshalb sind Ausstellungen wie diese hier so wichtig – gerade weil die Zeitzeugen leider immer weniger werden. Und ich wünsche mir, dass diese Ausstellung an möglichst vielen Orten auf der Welt gezeigt wird und so möglichst viele Menschen auch erreicht.

Ein anderes Mittel im Kampf gegen Hass und Hetze heißt ganz einfach: Den Mund aufmachen!

Denn: die Antisemiten und Rassisten sind nur eine Minderheit in unserem Land. Aber sie sind laut. Und das hängt auch damit zusammen, dass die Mehrheit zu oft zu leise ist.

Die Lautstärke der Mehrheit aber – sie reguliert auch die Lautstärke der Minderheit.

Deshalb ist es eine Aufgabe für uns alle, laut zu sein und offen einzutreten für Respekt, Toleranz und Zusammenhalt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jede Gedenktafel wie die in Iwanopil, jede Ausstellung wie diese hier, trägt dazu bei.

Weil sie die Wahrheit dokumentiert. Und weil sie uns spüren lässt: Wir sind nicht allein!

Vielen Dank!

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