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Rede von Außenminister Heiko Maas vor dem Deutschen Bundestag zum Stand der deutsch-polnischen Beziehungen

30.10.2020 - Rede

Im Mittelpunkt des Gedenkens an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten steht der Holocaust. Der fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden verbietet jegliche Form der Relativierung. Und es war nicht das einzige Verbrechen, das die Nationalsozialisten in Europa begingen. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 begann der Terror gegen unschuldige Zivilisten: Massenerschießungen, Verschleppungen, die gezielte Ermordung der polnischen Intelligenz.

In Polen zeigte sich erstmals der ganze Wahnsinn des rassenideologischen Vernichtungskrieges, dem in den folgenden Jahren Millionen jüdischer und slawischer Menschen auch aus der Ukraine, Belarus, Russland und anderen Ländern Europas zum Opfer fielen. Deshalb bin ich froh über die Entscheidung des Bundestages vor zwei Wochen, die Schicksale aller Opfer und der betroffenen Länder dieses Vernichtungskrieges zu dokumentieren und einen würdigen Erinnerungsort zu schaffen als Teil einer bestehenden Gedenkkultur, die die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt rückt.

Ihr sichtbarster Ausdruck sind die Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust, aber auch für die weiteren Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen. Diese Orte sind keine Mahnmale der Schande, sondern Mahnmale der Würde; denn sie geben den Opfern Namen, Gesichter und damit ihre Würde zurück. Und nicht nur das: Sie geben auch uns, denen, die sie errichten, ihre Würde.

Meine Damen und Herren, mit diesem Erinnern ziehen wir keinen Schlussstrich. Zu schwer wiegen dafür die nationalsozialistischen Verbrechen, zu gegenwärtig bleiben ihre Folgen für unsere Nachbarn in Europa bis heute. Das erlebe ich auch immer wieder bei meinen Begegnungen in Polen und zuletzt auch mit meinem polnischen Kollegen hier in Berlin.

Ich will nur ein Beispiel nennen, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Im vergangenen Jahr durfte ich in Warschau bei der Gedenkfeier an den Warschauer Aufstand zu Gast sein. Wir alle wissen um den Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau 1943. Doch der Warschauer Aufstand 1944, bei dessen Niederschlagung deutsche Besatzer über 100 000 polnische Zivilisten massakrierten, ist weit weniger bekannt. Einen Tag nach meinem Besuch in Warschau stand in einer deutschen Zeitung, ich hätte die Gedenkfeier an den Aufstand im jüdischen Ghetto von Warschau besucht. Das sagt einiges aus über das, was noch zu tun ist.

Wie präsent die Erinnerung an diese Grausamkeiten noch heute bei allen Generationen ist - das ist wirklich bei allen Generationen in Polen der Fall -, das konnte man bei dieser Gedenkfeier spüren. Schülerinnen und Schüler von deutschen und polnischen Schulen hatten im Vorfeld gemeinsam die Schicksale von Opfern aufgearbeitet. Genau diese gemeinsame Erinnerungsarbeit brauchen wir angesichts des wiedererstarkenden Nationalismus mehr denn je.

Meine Damen und Herren, der deutsch-polnischen Geschichte gerecht zu werden, das ist ein hohes Ziel - ein Ziel, das wir nur gemeinsam erreichen: Deutsche und Polen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wie es in dem Antrag steht, von Anfang an die Zusammenarbeit von polnischen und deutschen Expertinnen und Experten ermöglichen. Es geht darum, die Vergangenheit auch durch die Augen des anderen zu betrachten, um so gemeinsame Perspektiven zu schaffen.

Es sind nämlich nichts anderes als diese gemeinsamen Perspektiven, auf denen die Vertiefung unserer bilateralen Beziehungen, unserer Freundschaft zu Polen und unsere europäische Zukunft fußen. Ein Ort, der diese Perspektiven schafft, gäbe dem Zusammenwachsen Europas eine neue Dimension; denn er wäre deutsch, polnisch und europäisch, historisch und zukunftsgewandt zugleich.

Herzlichen Dank.

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