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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz an David Grossman

10.11.2018 - Rede

Geplünderte Geschäfte, demolierte Wohnungen, in Flammen gesetzte Synagogen. Vor genau 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, zog ein Mob durch die Straßen von Berlin und durch die Straßen von ganz Deutschland. Er zerstörte jüdische Gebäude, tötete Menschen und trieb andere in den Suizid.

Die Novemberpogrome verdeutlichten nicht nur den Vernichtungswillen des nationalsozialistischen Regimes. Sie stehen auch für die Bereitschaft von weiten Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung zur Mittäterschaft. Oder zumindest die Bereitschaft, die Augen zu verschließen, gleichgültig zu sein – das Schlimmste überhaupt.

Es betraf ja nicht die Mehrheit. Es betraf sie – die anderen, die Juden. Diese Entsolidarisierung, dieser widerwärtige Versuch der Entmenschlichung, sie bereiteten der Shoah den Weg.

Lieber David Grossman,

wenn Sie heute den Preis des Jüdischen Museums für Verständigung und Toleranz erhalten, dann insbesondere auch dafür, dass Sie in Ihren Romanen, Erzählungen und Essays gegen jede Form von Entmenschlichung anschreiben.

Auf die Frage, was Politiker von der Literatur lernen können, haben Sie einmal sinngemäß geantwortet: Die Gabe des Zuhörens. Es gehe darum, in Erinnerung zu behalten, dass Menschen auch in Konfliktzeiten keine „gesichtslosen Wesen“ seien, sondern einzigartig, alle.

Es geht Ihnen um die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen. Denn wenn wir das tun, so haben Sie einmal geschrieben, können wir dem anderen nicht mehr gleichgültig gegenübertreten. Dann fällt es uns schwer, ein Gegenüber völlig zu leugnen, ihn als Unmenschen abzutun.

Diesem selbst gestellten Anspruch werden Sie in Ihrem Wirken ganz und gar gerecht. In Ihren Schriften, in denen Sie das Individuum in der Masse zeigen. Und in ihrem öffentlichen Eintreten für eine Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern.

Die politischen Spannungen in der Region, die Konsequenzen politischen Handelns für den Einzelnen sind dabei häufiger Hintergrund Ihrer Werke.

Ich denke an Ihre Protagonistin Ora, die in dem Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ verzweifelt versucht, sich und ihre Familie vor der Brutalität des Nahostkonflikts zu schützen.

Oder an das namenlose Paar in Ihrem sehr persönlichen Buch „Aus der Zeit fallen“, das stellvertretend für so viele Eltern steht, die den Verlust eines geliebten Kindes erleben müssen.

Aus jeder Zeile spricht eine Einfühlsamkeit, eine tiefe Achtung vor der Würde eines jeden Menschen, die Ihre Leser berührt und Ihr literarisches Werk zu einem Versöhnungswerk macht.

„Die Lage ist zu verzweifelt, um sie den Verzweifelten zu überlassen“.

Diese Lehre haben Sie gezogen – trotz der Schicksalsschläge auch in Ihrer eigenen Familie.

Sie haben entschieden, nicht die Augen zu verschließen. Sie haben sich entschieden, weiter hinzuschauen, Dinge beim Namen zu nennen.

Dabei scheuen Sie keine Auseinandersetzung und gehen auch mit Ihrer Heimat, mit der israelischen Politik und Gesellschaft teilweise hart ins Gericht. Es ist der Wille und die Bereitschaft, diese Debatten zu führen und die unvermeidlichen Kontroversen, die danach folgen, auch auszuhalten, für die wir die israelische Demokratie bewundern.

Sie treten dafür ein, dass nur ein echter Interessenausgleich zwischen Israelis und Palästinensern dauerhaften Frieden schaffen kann. Im April dieses Jahres haben Sie es wie folgt formuliert: „Wenn die Palästinenser keine Heimat haben, werden auch die Israelis keine haben“.

Ein solcher Satz mag auf Widerspruch stoßen, nicht nur einigen, sondern sogar vielen nicht gefallen. Ohne Meinung, ohne Meinungsvielfalt aber ist Demokratie in Gefahr, ganz egal wo - in Israel, in Deutschland und auf der ganzen Welt.

Dafür braucht es ein Gespür für die Umbrüche in der Gesellschaft und vor allem Dingen den Mut, auch Unbequemes auszusprechen.

Beides macht die Kunst von David Grossman aus. Auch dafür haben Sie dieses Jahr den Israel Preis– im 70. Jubiläumsjahr des Staates Israel – verliehen bekommen. Und nur so kommen wir in einen Dialog, der Grundlage für Verständigung und Toleranz ist.

Lieber Herr Grossman,

Sie haben einmal erzählt, wie sie Mitte der 80er-Jahre das erste Mal nach Deutschland kamen.

Das hat mich, als ich es gelesen habe, sehr berührt. Sie beschrieben, wie Sie sich kaum fähig fühlten, das Hotel zu verlassen. Am liebsten hätten Sie den Aufenthalt verschlafen. Wenn Sie doch auf die Straße gingen, haben Sie hinter jeder Person einen Schatten wahrgenommen.

Es ist der Schatten des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte, den Sie damals spürten.

Der Schatten auch der Novemberpogrome vor 80 Jahren, die einen Wendepunkt bildeten von der jahrelangen Diskriminierung zur systematischen Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa.

Wie wenig der Schatten bis heute verblasst ist, zeigen Sie in Ihrem neuesten Buch „Kommt ein Pferd in die Bar“. An der Oberfläche handelt es von einem Comedy-Abend in Netanya. Doch dem Lachen folgt Beklemmung, als der Komödiant von seiner Mutter, einer Überlebenden der Shoah, zu erzählen beginnt. Die Traumata der Vergangenheit, sie wirken weiter nach.

Und dennoch: gerade die israelisch-deutschen Beziehungen lassen Sie heute an einen Frieden zwischen Israel und Palästinena glauben.

In einem Essay schrieben Sie von einem „beinahe unglaublichen Prozess, der sich zwischen Israel und Deutschland entwickelt hat: diese menschliche Fähigkeit, über einem Abgrund von Hass und Misstrauen Brücken zu schlagen, Brücken, die zu tun haben mit Realitätssinn, mit gemeinsamen Interessen und irgendwann auch mit gegenseitiger Neugier und Nähe.“

Was für eine Aussage! Ich möchte hinzufügen: ohne die israelische Bereitschaft zur Versöhnung, ohne die ausgestreckte Hand aus Israel, wäre dieser Prozess nicht möglich gewesen. Hierfür empfinden wir in Deutschland große und tiefe Dankbarkeit.

Wir sind einen weiten Weg gegangen. Wie eng unsere Beziehungen sind, war auch bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen vor wenigen Wochen im Oktober auch wieder spürbar. Dabei muss man nicht immer einer Meinung sein, wir können auch offen ansprechen, wenn es etwas zu kritisieren gibt. Eine echte Beziehung gibt es nicht ohne diese Möglichkeit. Dies ist ein Kennzeichen dafür, wie reif, wie zukunftsfest das Verhältnis zwischen unseren beiden Staaten mittlerweile geworden ist.

Ihren Essay schlossen Sie, Herr Grossmann, mit einer Aufforderung an Deutschland, als Vermittler im Nahostkonflikt aktiv zu werden.

Dieses Bild von Deutschland als Vermittler stünde uns gut zu Gesicht. Wir wollen weiter versuchen, unseren Teil zu einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten beizutragen. Das kann ich Ihnen versichern. Das können wir nicht allein, aber gemeinsam mit unseren Partnern wirken wir darauf hin.

Es ist gut, hierbei Menschen wie Sie an unserer Seite zu wissen. Sie haben aus großem persönlichem Schmerz den schweren, aber richtigen Schluss gezogen: dass Hass und Ausgrenzung unweigerlich nur zu einem führen: zu neuem Leid.

Das ist eine Mahnung an uns alle: Wir dürfen nie mehr gleichgültig sein. Nicht wenn in Deutschland Rechte auf offener Straße den Hitlergruß zeigen. Nicht, wenn überall in der Welt populistische Propaganda wieder zunimmt und eine Rückkehr zum Nationalismus gepredigt wird. Dann sind Verantwortung und Haltung gefragt. Wir müssen menschlich handeln wenn Entmenschlichung droht.

Der Preis für Verständigung und Toleranz gebührt einem Vorkämpfer für Menschlichkeit. Er gebührt David Grossman.

Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank!

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