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„Die Solidarität, gerade in schwierigen Zeiten, gehört zum Fundament der Europäischen Union.“

27.03.2020 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera zur europäischen Zusammenarbeit für die Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Außenminister Maas spricht mit der Presse (Archivbild)
Außenminister Maas spricht mit der Presse (Archivbild)© Felix Zahn/photothek.net
Herr Minister, nach einigen anfänglichen Unsicherheiten (ich beziehe mich auf die Entscheidung über den Exportstopp von Mundschutzmasken und anderer Schutzausrüstung, die dann zurückgenommen wurde) gibt Deutschland jetzt ein konkretes Signal der Solidarität gegenüber Italien in der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Welche zusätzlichen Hilfsmaßnahmen planen Sie?

Sich gegenseitig in Europa zu helfen, sollte eine Selbstverständlichkeit für uns alle sein. Die Solidarität, gerade in schwierigen Zeiten, gehört zum Fundament der Europäischen Union. Schon in der Migrationskrise ist es uns nicht immer gelungen, das in Praxis umzusetzen, auch mit Blick auf Italien.

Die Bilder der letzten Woche von Militärfahrzeugen, die Särge transportieren müssen, haben mich sehr berührt. Daher bin ich sehr froh, dass wir konkret helfen können. Letzte Woche gab es eine erste Teillieferung mit sieben Tonnen Hilfsgütern, darunter Beatmungs- und Narkosegeräte. Weitere werden folgen – genaue Bedarfe klären wir gerade mit der italienischen Regierung. Noch wichtiger: In der Nacht auf Dienstag wurden von der Uniklinik Leipzig die ersten zwei Intensivpatienten aus Bergamo aufgenommen. Inzwischen haben deutsche Kliniken insgesamt 63 Plätze angeboten. Das sind 63 Menschenleben, die wir zu retten versuchen. Ich bin mit meinem Kollegen Luigi die Maio laufend in Kontakt, um uns abzustimmen, wie wir enger zusammenarbeiten können.

Denken Sie nicht, dass es angesichts der von Pandemien ausgehenden Risiken an der Zeit ist, einen europäischen Abstimmungsmechanismus im Gesundheitsbereich zu schaffen?

Die EU steht mit dem Coronavirus vor einer der größten Prüfungen seit ihrem Bestehen und wir müssen alle denkbaren Instrumente nutzen. Das Virus hat schließlich nicht nur gesundheitspolitische, sondern auch wirtschaftliche, sozialpolitische und außen- und sicherheitspolitische Auswirkungen. Ich habe deshalb beim EU-Außenrat am Montag vorgeschlagen, die Solidaritätsklausel nach Art. 222 des AEU-Vertrages auszulösen. Das könnte ein gemeinsames Dach für die verschiedenen Prozesse sein, die jetzt zur Eindämmung des Virus laufen. Ziel wäre, dass jeder Mitgliedsstaat koordiniert Personal und Material bereitstellen kann, das dort aktuell nicht benötigt wird und ausreichend vorhanden ist. Ein solidarisches Europa muss dafür sorgen, dass innerhalb der EU alle verfügbaren Mittel schnell dorthin gelangen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Ein Beispiel aus Deutschland: Wir haben gerade in kürzester Zeit eine Datenbank geschaffen, in der Kliniken freiwillig ihre aktuellen Verfügbarkeiten an Intensivpflege- und Beatmungsplätzen erfassen können. Das haben inzwischen 60-70% der Kliniken getan. Warum sollten wir so etwas nicht auch auf europäischer Ebene möglich sein? Mittelfristig müssen wir auch überlegen, Produktionskapazitäten für strategische Güter wie medizinische Schutzausrüstung aus Drittstaaten in EU zurückholen. Auch dabei müssen wir europäisch vorgehen, um Doppelungen zu vermeiden.

Einige sprechen auch von einem politischen Signal für Europa mit Blick auf die Hilfsmaßnahmen aus China und Russland. Findet im Hintergrund der Hilfsleistungen auch ein geopolitischer Wettstreit statt?

Solidarität und internationale Koordination sind die Dinge, die wir in dieser Krise jetzt brauchen, deshalb ist Hilfe gut. Auch die EU hat in der Frühphase des Corona-Ausbruchs ihrerseits Hilfe für China und die Menschen in Wuhan geleistet. Diese Pandemie ist eine weltweite Herausforderung. Wir werden sie nicht im Modus „jeder für sich“ bewältigen. Es muss jetzt heißen: „einer für alle, alle für einen“. Dann werden wir das auch schaffen.

Ihre Frage führt mich aber zu einem anderen wichtigen Punkt: Was mir viel größere Sorge bereitet, ist die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungstheorien über das Coronavirus. In Deutschland registriert das Bundesamt für Verfassungsschutz derzeit einen starken Anstieg solcher Desinformationen aus Drittstaaten. Dahinter steckt ganz offenkundig die Absicht, das Vertrauen der Bevölkerung in unser Krisenmanagement zu unterminieren. Solche schändlichen und unverantwortlichen Versuche müssen wir entlarven. Dabei brauchen wir auch hier verstärkte Zusammenarbeit.

Wenn von Solidarität und gemeinsamen Antworten die Rede ist, findet gegenwärtig eine intensive Debatte über die wirtschaftlichen Mittel statt, mit denen sich Europa ausstatten muss, um diese Krise zu bewältigen. Bis auf die Entscheidungen der EZB und das Hilfspaket der Kommission gab es bislang ausschließlich nationale Antworten auf das Coronavirus. Heute hat Mario Draghi sehr fortschrittliche Formen der Vergemeinschaftung der Schulden vorgeschlagen und dabei diese Krise mit einem Krieg verglichen. Während auch bekannte Leiter deutscher Wirtschaftsinstitute eindeutig die Ausgabe von Eurobonds (in der FAZ) befürwortet haben. Wird die deutsche Regierung am Ende, nachdem intern das doppelte Tabu der Schwarzen Null und der Schuldenbremse im Grundgesetz überwunden wurde, diese Lösung akzeptieren?

EU-Solidarität ist das Gebot der Stunde. Das können wir auch mit den bestehenden Mitteln erreichen, aus den Haushaltsmitteln der EU-Kommission, durch die Europäische Investitionsbank und den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, mit den riesigen ungenutzten Kreditlinien in Höhe von 410 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass wir in der Krise auch finanziell solidarisch sein und dort helfen müssen, wo die Not am größten ist.

Interview: Paolo Valentino

www.corriere.it

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