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Rede von Außenminister Heiko Maas bei der Eröffnungsveranstaltung zum European Network “Combatting Antisemitism through Education”

14.05.2019 - Rede

Nie wieder Schule! Das Gefühl kennen wahrscheinlich die meisten.

Und zurzeit denken das auch einige Tausend Berliner Schüler, denn in diesen Tagen machen sie die Mittlere Reife oder absolvieren ihre letzten Abiprüfungen.

Ich erinnere mich auch noch gut daran, wie ich mich damals gefühlt habe: ehrlich gesagt erleichtert darüber, dass es irgendwann vorbei gewesen ist. Aber mir schwirrte auch der Kopf von alldem, was wir uns in Wochen und Monaten vor diesen Prüfungen in den Kopf gepaukt hatten.

Und das, obwohl die Menge an schnell verfügbaren Informationen gemessen an heutigen Umständen noch überschaubar gewesen ist. Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Menge an Daten, die erstellt, geteilt und konsumiert wird, 2020, also im nächsten Jahr, etwa 50-mal so hoch sein wird wie das vor drei Jahren noch der Fall gewesen ist.

Meine Damen und Herren,

die Digitalisierung verheißt Zugang zu einer schier unendlichen Menge an Wissen. Und man hat den Eindruck, dass Antworten auch auf komplexeste Fragen, manchmal nur einen Mausklick entfernt sind.

Wir wissen aber auch, dass verfügbares Wissen nicht unbedingt bedeutet, dass es auch in den Köpfen landet.

40 Prozent der jungen Deutschen haben laut einer Studie von CNN nach eigener Einschätzung kaum Kenntnis über den millionenfachen Massenmord an den europäischen Juden.

Und ich finde, dass uns das Sorgen machen sollte. Denn das Verständnis der eigenen Geschichte ist mehr als nur Wissen um die Vergangenheit. Es ist die beste Immunisierung gegen Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus. Denn Erinnern hat auch etwas mit Zukunft zu tun.

Deshalb muss man Wissenslücken schließen. Das gilt umso mehr in Zeiten der Digitalisierung. Denn nicht nur Fakten sind jederzeit verfügbar – sondern auch Halbwahrheiten, Lügen und Hass.

Immer öfter erleben wir, wie eine radikale Minderheit laut dröhnt und die große Mehrheit anscheinend schweigt. Das gilt im Internet – das gilt aber auch auf Straßen und Plätzen.

Erst vor zwei Wochen marschierten uniformierte Neonazis durch Plauen. Und AfD-Anhänger grölen ganz unverhohlen „Deutschland, Deutschland über alles“. Es sind Bilder, die uns fassungslos machen. Bilder, die uns aber dazu bringen müssen, nicht nur in der Fassungslosigkeit zu verharren, sondern aufzustehen gegen so viel Stumpfsinn und Niedertracht.

Einer der dagegen aufsteht sind Sie, lieber Herr Hizarci. Sie und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer kämpfen gegen solche Wissenslücken.

Diese Aufgabe ist auch durch die Migrationsbewegungen der letzten Jahre größer geworden – da gibt es nichts zu beschönigen. Denn viele der Menschen, die zu uns gekommen sind, haben schon früh antisemitische Klischees eingeimpft bekommen.

Der Journalist Constantin Schreiber hat erst vor wenigen Tagen ein Buch veröffentlicht, das Beispiele dafür enthält, wie selbst Schulbücher in manchen Ländern Jüdinnen und Juden diffamieren. Solche Zerrbilder prägen sich ein, vor allem bei jungen Menschen in ihrer Entwicklung, und sie gehen auch mit dem Überqueren der deutschen Grenze nicht verloren.

Deshalb sind Organisationen wie KIgA so wichtig, die Aufklärung gegen antisemitische Stereotype setzen. Und die gleichzeitig wissen, wie Jugendliche auf den Schulhöfen in Berlin ticken.

Solche Organisationen gibt es im Übrigen in vielen Ländern Europas mittlerweile – zum Glück!

Einige von ihnen tauschen sich bereits untereinander aus, teilen Erfahrungen, auch ihre Erfolgsrezepte oder das, was weniger gut funktioniert. Aber eine dauerhafte und damit effektive Vernetzung, die fehlt bislang.

Das wollen wir ändern. Keinen Tag zu früh, wenn man sieht, wie Antisemitismus, wie Hass und Gewalt gegen Minderheiten überall in Europa um sich greifen.

Laut einer Studie der EU haben europaweit 89% der Jüdinnen und Juden das Gefühl, dass Antisemitismus in dem Land, in dem sie leben, zunimmt. Und mehr als ein Drittel traut sich kaum, seine Religionszugehörigkeit offen zu zeigen oder denkt sogar an Auswanderung.

Den Kampf gegen Antisemitismus werden wir deshalb auch zu einem Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr machen. Und das Netzwerk, das wir heute ins Leben rufen wollen, soll dabei eine wichtige Stütze sein.

Meine Damen und Herren,

in diesen Tagen feiern wir das 70. Jubiläum des Grundgesetzes. Diese Verfassung, die wir haben, ist ein Glücksfall, denn sie ist in einem völlig kompromisslos: Der menschlichen Würde ordnet sie alles andere unter. Und dieses zentrale Versprechen, die Menschenwürde um jeden Preis zu schützen und zu verteidigen, das gilt ausdrücklich für alle Menschen.

Das erwähne ich hier noch einmal ganz besonders, weil wir nicht zulassen dürfen, dass Rechtspopulisten und Nationalisten die Angst vor Antisemitismus instrumentalisieren, um antimuslimischen Rassismus zu rechtfertigen.

In einem freien und toleranten Europa müssen wir eine Frau mit Kopftuch genauso vor Beleidigungen und Übergriffen schützen wie einen Mann mit Kippa.

Hand in Hand gegen jede Form von Rassismus - dafür steht auch der transatlantische Arbeitskreis „Jüdisch-muslimische Allianzen“, den KIgA parallel zum europäischen Netzwerk 2019 gründen wird.

Wir freuen uns, Sie dabei zu unterstützen.

Wie wichtig es ist, Hand in Hand gegen Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus vorzugehen, das zeigt auch die Zusammenarbeit des American Jewish Committee mit der World Muslim League, die gerade vor zwei Wochen ins Leben gerufen worden ist.

Auch Ihnen wünschen wir viel Erfolg und werden sie in Ihrer Arbeit unterstützen!

Meine Damen und Herren,

wenn wir über Zusammenarbeit zwischen Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens sprechen, dann will ich noch etwas klarstellen: Antisemitismus ist kein Importprodukt. Gerade wir Deutschen müssen uns das immer wieder bewusst machen.

Rechtsradikale sind für den Großteil der antisemitischen Straftaten hier in Deutschland verantwortlich. Die jüngsten Zahlen des Innenministeriums sind mehr als erschreckend: Demnach gibt es mehr als 12.000 gewaltbereite Rechtsextremisten allein in Deutschland.

Der allerbeste Nährboden für Hass und Intoleranz ist und bleibt die Gleichgültigkeit. Deshalb hilft nur eins, nicht nur bei diesem Thema, aber bei diesem Thema vielleicht ganz besonders: Gerade jetzt den Mund aufzumachen und gegenzuhalten!

Das heute geborene Netzwerk ist ein Appell auch und vor allem gegen die Gleichgültigkeit. Es zeigt: Wir, die wir uns für Toleranz und Miteinander einsetzen - wir sind die überwältigende Mehrheit, nicht nur in Deutschland, sondern auf diesem Kontinent. Und dessen bin ich mir sehr, sehr sicher, weil ich das auch auf meinen Reisen wahrnehme, die ich in Europa unternehme. Und das macht mir, meine Damen und Herren, wirklich Mut - auch bei dem, was uns heute beschäftigt.

In diesem Sinne ein herzliches Dankeschön an alle, die das Netzwerk möglich gemacht haben und die sich viel vorgenommen haben. Noch einmal herzlich Willkommen hier im Auswärtigen Amt! Es ist schön, dass Sie da sind. Für die weitere Arbeit wünsche ich Ihnen alles Gute und viel Erfolg!

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