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Rede von Außenminister Heiko Maas im Rahmen der vereinbarten Debatte im Deutschen Bundestag zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

01.07.2020 - Rede

Die Zeit, in der wir heute die Ratspräsidentschaft übernehmen, könnte wohl nicht herausfordernder sein. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass es in der Europäischen Union eine Vielzahl von Dossiers gibt, über die seit Jahren ohne Ergebnis verhandelt wird - von Finanzfragen bis zu Migrationsfragen -, sondern auch damit, dass die Covid-19-Pandemie das vereinte Europa nun endgültig vor seine bislang größte Bewährungsprobe stellt - politisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt auch hinsichtlich des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit Europas insgesamt.

Einer aktuellen Umfrage zufolge hält EU-weit der Großteil der Menschen die Reaktionen der Europäischen Union auf die Coronakrise für unzureichend. Das hat aber weniger etwas damit zu tun, dass die Menschen keine positive Haltung gegenüber der Europäischen Union hätten. Im Gegenteil: Die Mehrheit wünscht sich laut einer Studie mehr Integration, mehr Zusammenarbeit und auch mehr Europa. Für unsere Präsidentschaft muss das ein doppelter Auftrag sein: Wir müssen die in der Krise allzu offensichtlich gewordenen Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit abstellen - dazu haben wir allen Schwierigkeiten zum Trotz auch eine Chance -, und parallel müssen wir die Weichen für eine nachhaltige Zukunft stellen.

Der Schlüssel dafür liegt in zwei Begriffen, die so etwas wie die Kurzfassung unseres Präsidentschaftsprogrammes sind: Solidarität und Souveränität. Nur wenn Europa im Inneren solidarisch zusammenhält - das haben wir ja gerade in den letzten Wochen und Monaten gesehen - und noch enger zusammenwächst, wird es auch an Schlagkraft gewinnen und souverän nach außen auftreten können. Wir müssen ganz einfach akzeptieren: Wir leben in einer Zeit einer neuen Großmächtekonkurrenz zwischen den USA, Russland und China, und es gibt kein einziges Land in Europa, das alleine in der Lage ist, seine Werte und Interessen in dieser Situation zu behaupten. Wir können es nur als Europäer tun, und deshalb ist das ein Leitmotiv unserer Ratspräsidentschaft für die kommenden sechs Monate.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Euro- und Finanzkrise und die Auseinandersetzung um Flucht und Migration haben in den letzten Jahren die Gräben zwischen unseren Ländern in der EU vertieft, weil es auch an Solidarität gefehlt hat, und diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Deshalb haben Deutschland und Frankreich mutige Vorschläge für einen echten europäischen Aufbauplan raus aus der Krise vorgelegt.

Doch das ist erst der Anfang. Entscheidend wird am Schluss die Antwort auf die Frage sein, ob es uns gelingt, Europa nicht nur durch diesen Plan im Ergebnis nachhaltiger, sozialer, widerstandsfähiger und innovativer zu machen. Es geht um wirtschaftliche Erholung und die Rettung von Arbeitsplätzen, es geht um Klimaschutz und die Stärkung unserer Gesundheitssysteme, und es geht darum, Engpässe abzustellen - etwa bei der Medikamentenversorgung -, ohne dadurch den freien Handel auf den Kopf zu stellen.

Die Einigung auf den mehrjährigen Finanzrahmen und das Aufbauinstrument wird daher die Nagelprobe auf unserem Weg aus der Krise und deshalb erst einmal auch die oberste Priorität unserer Präsidentschaft sein. Davon hängen unsere Zukunft und die Zukunft Europas ab.

Die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in der EU wollen wir dabei in den Mittelpunkt stellen. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Bürgerinnen und Bürger in der EU im Rahmen der SURE-Initiative eine Unterstützungsleistung, wie unser Kurzarbeitergeld, bekommen. Und wir wollen mit einem europäischen Rahmen für nationale Mindestlöhne, einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung sowie einer stärkeren Rechenschaftspflicht in den weltweiten Lieferketten noch weitergehen.

Als wäre das auch noch nicht genug, wollen wir auch die komplexen und schwierigen Verhandlungen mit Großbritannien über unser zukünftiges Verhältnis - das wird eine der großen Pflichtaufgaben dieser Präsidentschaft sein - bis zum Jahresende abschließen. Und auch dabei kommt es auf den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten an. Aber wir müssen auch schon zum jetzigen Zeitpunkt ganz klar feststellen, dass erst mal London - und das kommt einem alles wie ein Déjà-vu vor - klar sagen muss, ob es künftig noch eng an die Europäische Union angebunden sein will. Und daran bestehen im Moment - zumindest angesichts der Tatsache, wie die Verhandlungen geführt werden, wenn man es überhaupt „Verhandlungen“ nennen kann - ernsthafte Zweifel. Im Ergebnis hängt davon ab, auf welche gemeinsamen Regeln und Standards wir uns überhaupt noch verständigen können. Wir wollen das, und wir werden auch daran hart arbeiten.

Ebenso, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Zusammenhalt und Solidarität auch bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entscheidend - auch ein Thema, das uns schon viel zu lange in der Europäischen Union beschäftigt, ohne dass es eine Lösung gegeben hat. Und deshalb lautet unsere Botschaft an die Bremser: Europäische Solidarität bemisst sich nicht allein in Euro bei Haushaltsverhandlungen; europäische Solidarität braucht es auch beim Umgang mit Flucht und Migration. Und das werden wir in den kommenden sechs Monaten auch einfordern.

Noch etwas ist untrennbar mit Solidarität verbunden, nämlich die Fähigkeit, europäische Werte und Interessen in einer immer härteren Großmächtekonkurrenz zu behaupten. Das ist das, was ich eben schon einmal als europäische Souveränität bezeichnet habe. Die Pandemie hat uns unsere strategischen Abhängigkeiten, und zwar in alle Himmelsrichtungen, schonungslos vor Augen geführt. Und hier Veränderungen herbeizuführen, ist das zweite große Ziel unserer Präsidentschaft.

Wir brauchen gegenüber China den engen Schulterschluss aller 27 Mitgliedstaaten. Ich will einmal zu den aktuellen Entwicklungen rund um das neue Sicherheitsgesetz in Hongkong sagen: Das zeigt uns ja gerade, wie notwendig es ist, als Europäische Union in Gänze darauf zu reagieren. China muss seine Zusagen, die es der internationalen Staatengemeinschaft gegeben hat, einhalten und die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger Hongkongs wahren.

Das werden wir als Europäische Union einfordern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
solche Erwartungen werden jedoch nur dann gehört - und darauf kommt es an, nicht nur in den nächsten sechs Monaten -, wenn wir sie eben geschlossen an Länder wie China richten. Und daran werden wir arbeiten. Wir wollen deshalb auch das EU-China-Treffen der Führungsspitzen so schnell wie möglich nachholen und im Vorfeld eine kohärentere EU-China-Politik entwickeln.

In unsere Ratspräsidentschaft fallen auch die US-Wahlen im November. Wir wollen dafür sorgen, dass Europa dann mit einer klaren Zukunftsagenda für die transatlantische Partnerschaft auf die neue Administration, unabhängig davon, wie sie aussieht, zugehen kann. Und, meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch etwas sagen - es gibt ja den einen oder anderen, der Hoffnungen für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen hat -: Ich bin fest davon überzeugt, dass das veränderte transatlantische Verhältnis nicht in erster Linie davon abhängig sein wird, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Vielmehr hat sich das transatlantische Verhältnis in den letzten Jahren - im Übrigen, wenn man genau hinschaut, über die letzten vier Jahre hinaus - verändert. Wir brauchen auch dafür eine Strategie. Und die ist nicht in erster Linie davon abhängig, wer im nächsten Jahr im Weißen Haus sitzen wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegt der westliche Balkan. Auch er wird ein Thema sein, bei dem wir uns engagieren müssen, weil wir hier eine Perspektive schaffen wollen. Diese Länder wollen eine europäische Perspektive.

Meine Damen und Herren,
jede Krise hat ihre eigene Sprache. Von der Euro- und Finanzkrise blieben uns Worte wie „Troika“ und „Rettungsschirm“. In der Flüchtlingskrise waren es „AnkER-Zentren“ und „Transitzonen“. Von der Coronakrise kann hoffentlich mehr bleiben als „Social Distancing“ und „Maskenpflicht“. Deshalb lassen Sie uns in den nächsten Monaten gemeinsam dafür sorgen, dass Solidarität und Souveränität diese Krise überdauern und uns für alles wappnen, was noch kommen wird.

Herzlichen Dank.

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