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Ein Leuchtturm des internationalen Menschenrechtsschutzes

02.11.2018 - Namensbeitrag

Außenminister Heiko Maas und Bundesjustizministerin Katarina Barley in der Frankfurter Allgemeinen zum 20-jährigen Bestehen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in seiner reformierten Gestalt.

Die Bundesrepublik Deutschland wurde 1982 von Italien im Finale der Fußball-WM mit 3:1 besiegt. Zu dieser Zeit hatte Herr S. einen Unfall auf seinem Schulweg. 1989 reichte er nach längerem Hin und Her mit der gegnerischen Versicherung eine Klage ein. Im Fußballmärchen-Sommer 2006 war über die Klage des Herrn S. immer noch nicht abschließend entschieden worden.

Stattdessen entschied nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Und zwar, dass bei einem 17 Jahre andauernden Gerichtsverfahren eine „überlange Verfahrensdauer“ vorliege. Das Gericht sah darin einen Verstoß gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Deutschland führte daraufhin 2011 einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrenszeiten ein. Betroffene haben seither die Möglichkeit, Schadensersatz geltend zu machen. Auch Herr S. wurde entschädigt.

Das gute Ende eines zu langen Gerichtsverfahrens verdankt Herr S. einer Institution, die seit 20 Jahren für den Schutz der Rechte von 820 Millionen Menschen von Lissabon bis Wladiwostok sorgt: dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bürgerinnen und Bürger aus allen 47 Staaten des Europarats können sich seit dem 1. November 1998 mit Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen direkt nach Straßburg wenden, wenn der Rechtsweg im eigenen Land erschöpft ist.

Auch wenn wir in Europa im internationalen Vergleich hohe Menschenrechtsstandards setzen, so sind Verletzungen der Menschenrechte auch auf unserem Kontinent nach wie vor bittere Realität. Für bedrängte Journalisten oder Nichtregierungsorganisationen, für Angehörige diskriminierter Minderheiten oder für Opfer von staatlicher Gewalt ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht nur die letzte Instanz, sondern häufig auch die letzte Hoffnung. In über 20.000 Fällen hat er bislang eine Verletzung der Menschenrechtskonvention festgestellt und so den Opfern zu ihrem Recht verholfen. In vielen Fällen wurde den Betroffenen eine Entschädigung zugesprochen – zum Beispiel dem bekannten russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalnyj aufgrund einer Inhaftierung, die der Gerichtshof beanstandete.

Nicht nur der Umstand, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte bei einem internationalen Gericht selbst einklagen können, ist weltweit einmalig. Auch die Tatsache, dass die Straßburger Urteile bindend für die Mitgliedstaaten sind, macht den Gerichtshof in Straßburg zum weltweiten Vorreiter.

Der Gerichtshof ist aber mehr als eine Beschwerdeinstanz. Er ist auch ein Gradmesser unserer europäischen Wertebasis. Die Auslegung der Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention ist nicht in Stein gemeißelt, sie muss immer wieder den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst werden. In den vergangenen 20 Jahren ist das dem Gerichtshof hervorragend gelungen. Seine Rechtsprechung bietet heute den Orientierungsrahmen für den Grundrechtsschutz in ganz Europa.

Dies gilt auch in Deutschland. Auch bei uns ist längst nicht alles perfekt. Auch für Deutschland ist der Blick „von außen“ deshalb wichtig - denken wir an Herrn S. Das Urteil zu überlangen Gerichtsverfahren: Es hat unserer Rechtsordnung gut getan.

Ein funktionierendes rechtsstaatliches System muss eine Überwachung durch internationale Instanzen nicht fürchten. Es kann sie selbstbewusst begrüßen.

Doch die Erosion internationaler Ordnung macht auch vor dem EGMR nicht halt. Wir erleben, dass Urteile des Gerichtshofs von einzelnen Mitgliedstaaten nur schleppend erfüllt oder gar dauerhaft missachtet werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Manchen Staaten geht die Rechtsprechung aus Straßburg zu weit, sie wird als Einmischung empfunden.

Unsere Haltung dazu ist klar: Es darf kein Rosinenpicken geben. Wer zur europäischen Wertegemeinschaft gehören will, muss sich auch entsprechend verhalten. Wir setzen uns deshalb konsequent dafür ein, dass alle 47 Mitgliedstaaten mit vollen Rechten im Europarat mitwirken können; sie müssen gleichzeitig aber auch ihre Pflichten ohne Abstriche erfüllen. Dies gilt auch für die Staaten, in denen uns die Menschenrechtslage besondere Sorgen bereitet, wie Russland, Aserbaidschan oder die Türkei. Wir machen gegenüber den Regierungen immer wieder deutlich, welchen Mehrwert es bringt, Teil eines gemeinsamen europäischen Rechtsraums zu sein. Der Zugang zum Gerichtshof muss gerade auch in diesen Ländern weiterhin allen ohne Einschränkung offen stehen.

Dafür setzen wir uns auch ein, wenn Deutschland 2020 den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats übernehmen wird, das die Vollstreckung der Gerichtsurteile überwacht.

Gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern in Europa werden wir dafür kämpfen, dass alle 47 Länder des Europarats weiter zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stehen und seine Rechtsprechung achten. Er bleibt ein unverzichtbarer Leuchtturm des internationalen Menschenrechtsschutzes – zum Wohle von 820 Millionen Europäerinnen und Europäern.

Heiko Maas ist Bundesminister des Auswärtigen, Katarina Barley Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz.

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