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„Entwicklungen der letzten Tage sind bitter und werden langfristige Folgen haben“

16.08.2021 - Rede

Statement von Außenminster Heiko Maas zur Lage in Afghanistan

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Bilder, die uns zurzeit vom Flughafen in Kabul erreichen, sind dramatisch. Es sind schreckliche Bilder. Die Entwicklungen der letzten Tage sind allesamt außerordentlich bitter und werden langfristige Folgen für die Region, aber auch für uns, haben.

Es gibt auch nichts zu beschönigen: Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die afghanischen Sicherheitskräfte vor den Taliban zurückgezogen haben und kapituliert haben, haben weder wir, noch unserer Partner, auch nicht unsere Experten so vorausgesehen.

Wir haben das auch nicht. An einem Tag wie diesen, gebietet es auch die Ehrlichkeit, das in aller Form so einzugestehen. Das, was wir dort mit ansehen müssen, gerade heute die Bilder aus Kabul vom Flughafen, sind außerordentlich schmerzhaft. Das geht uns allen nahe – mir auch.

Wir werden viele, auch grundsätzliche Fragen in der Zukunft stellen und auch beantworten müssen. Im Moment kommt es aber vor allen Dingen auf eines an – und darauf haben wir uns in einer Sitzung des Krisenstabes erneut gerade eben konzentriert:

Als Bundesregierung werden wir nichts unversucht lassen, so viele Menschen wie möglich noch aus der katastrophalen Lage vor Ort zu retten.

Wir koordinieren mit Hochdruck die Evakuierung und Hilfsmaßnahmen:

Eine Maschine der Bundeswehr ist auf dem Weg nach Kabul und soll in den nächsten Stunden dort eintreffen. Zwei weitere sind bereits auf dem Weg in die Region.

Wir wollen so viele Menschen wie es geht, schnell außer Landes bringen – und das zusammen mit unseren internationalen Partnern.

Es wird eine große Herausforderung werden, schon die Menschen, die betroffen sind, und die wir bereit sind aufzunehmen, die in der Vergangenheit mit uns zusammengearbeitet haben, aber natürlich auch vor allem, die noch in Afghanistan befindlichen deutschen Staatsbürger, sicher zum Flughafen zu bekommen, aber auch daran arbeiten wir.

Der Afghanistan-Experte des Auswärtigen Amtes, Markus Potzel, wird nach Doha aufbrechen, um alle weiteren Maßnahmen mit den dort befindlichen internationalen Partnern und Akteuren zu besprechen.

In der Europäischen Union werden wir in eine intensive Beratung und eine Phase der Abstimmung eintreten:

Morgen werden wir auf einem kurzfristig einberufenen Sonder-Außenministerrat für eine geschlossene, politische Reaktion der Europäischen Union werben. Und ich bin mir auch sicher, dass es diese geben wird.

Daneben müssen wir aber auch schon jetzt humanitär noch mehr leisten, um den Ländern der Region, die die Auswirkungen der Krise am unmittelbarsten zu spüren bekommen, auch helfen werden.

Vielen Dank.


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Herr Minister, von wie vielen Ortskräften sprechen wir da? Gibt es da ungefähre Schätzungen?

Wir haben von den Ortskräften, auf die wir uns verständigt hatten in den letzten Wochen – das waren insgesamt 2.500 – bereits 1.900 nach Deutschland gebracht. Wir haben diesen Kreis aufgrund der Entwicklungen in Afghanistan jetzt noch einmal erweitert, um Ortskräfte nicht nur der Bundeswehr und des Auswärtigen Amtes, sondern auch von Nichtregierungsorganisationen, der GiZ, deren Mitarbeiter teilweise schon ausgeflogen sind, aber auch Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen, in den Kreis einzubeziehen, die auch schon registriert sind, um sie nach Deutschland ausfliegen zu können.

Diese Zahl wird natürlich noch einmal multipliziert werden müssen mit Familienangehörigen. Der Großteil dieser Menschen befindet sich bereits in Kabul und es wird jetzt darum gehen, ihnen auch eine Möglichkeit zu verschaffen, an den Flughafen zu kommen. Darüber sind wir in Gesprächen mit den Amerikanern und den Türken. Ich haben mit den beiden Kollegen in den letzten Stunden noch einmal telefoniert, um die Zugangsvoraussetzungen zu schaffen und dafür zu sorgen, dass mit den Maschinen, die wir dorthin entsandt haben, aber auch mit amerikanischen Maschinen, die zur Verfügung stehen, so viele Menschen wie möglich ausgeflogen werden können. Wie viele der Menschen den Weg an den Flughafen schaffen, neben denjenigen, die schon dort sind, kann im Moment auch nach Rücksprache mit dem Kernteam unserer Botschaft, das sich am Flughafen aufhält, nicht genau beziffert werden. Wir werden aber so viele wie möglich, die dort sind und die in den kommenden Tagen auch dort ankommen werden, in unsere Maschinen oder in die Maschinen der Vereinigten Staaten aufnehmen.

Treffen denn Meldungen zu, wonach schon vor Wochen in Berichten aus der deutschen Botschaft in Kabul vor dem drohenden Zusammenbruch der Regierung und den Folgen gewarnt wurde?

Es hat sich offensichtlich nach dem 4. Juli, nachdem die internationale Truppenpräsenz in Afghanistan beendet worden ist, angezeigt, dass sie Situation sich verschlechtert. Wir haben uns in einer engen Abstimmung mit unseren internationalen Partnern, mit den Diensten – sowohl unseren Diensten, als auch den Diensten unserer Partnerstaaten – immer eng abgestimmt. Es ist notwendig gewesen, das Personal der Botschaft auch in diesen Wochen in Kabul zu belassen. Auch das haben wir in Abstimmung mit anderen Ländern getan, die genauso verfahren haben. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es unmöglich gewesen, die 1.900 Ortskräfte, die schon in Deutschland sind, überhaupt nach Deutschland zu bringen. Es war die Aufgabe unseres Botschaftspersonals. Nachdem sich am letzten Wochenende die Situation noch einmal deutlich verschlechtert hat, haben wir zusammen auch zusammen mit anderen Ländern – Großbritannien, den Vereinigten Staaten, der Schweiz und Japan – beschlossen, unsere Botschaft vom Botschafts-Compound zu verlegen an den Flughafen, so wie das auch andere getan haben. Der Großteil der Botschaftmitarbeiterinnen und -mitarbeiter ist bereits gestern Abend ausgeflogen worden. Sie befinden sich nicht mehr in Afghanistan. Das Kernteam, das weiterhin notwendig sein wird, um die Evakuierung der Ortsbürger und der deutschen Staatsbürger zu organisieren, befindet sich am Flughafen – genauso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Staaten, wie der USA, Großbritannien und andrer. Insofern haben wir die Entwicklung in den letzten Wochen immer intensiv mit allen, mit denen wir dort zusammenarbeiten, mit den Diensten, mit unseren Kolleginnen und Kollegen vor Ort und der internationalen Partner beraten und die Entscheidungen, die wir dort getroffen haben, zusammen gefällt. Die Tatsache, dass wir innerhalb kürzester Zeit in der Lage gewesen sind, auch aufgrund der guten internationalen Vorbereitung, unser Botschaftspersonal so schnell außer Landes zu bringen, hat gezeigt, dass wir mit der Vorbereitung in der Lage gewesen sind auch sehr kurzfristig, auf die sich in den letzten Tagen dramatisch verschlechternde Situation vor Ort zu reagieren. Alle Botschaftsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter außer die des Kernteams, die dort sind, bei denen ich mich ganz besonders bedanken will für die wirklich schwierige Arbeit, die sie dort leisten. Alle anderen sind in Sicherheit – sind auch rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden.

Gibt es denn auch Kontakte, belastbare Kontakte zu den Taliban auf die Sie irgendetwas bauen können, hinsichtlich der Möglichkeit, die Leute auszufliegen?

Es gibt in den Gesprächen, die in Doha stattfinden, Verhandlungen zwischen den Vertretern der Taliban und der afghanischen Regierung. Dabei geht es im Wesentlichen darum, die Machtübernahme weiterhin friedlich zu gestalten. In der Vergangenheit haben wir und andere auch an diesen Gesprächen unterstützend teilgenommen. Zurzeit tun dies auch die Vereinigten Staaten, mit denen wir uns eng abstimmen, die sich auch in Kontakt mit der politischen Vertretung der Taliban in Doha befinden. Wir stimmen unsere Ergebnisse, die wir haben, aus den Informationen, die wir bekommen, untereinander ab und natürlich – auch das hat mir mein amerikanischer Kollege heute Nacht noch einmal am Telefon bestätigt – werden die Gespräche dort mit der politischen Verhandlungsleitung der Taliban auch geführt. Hinsichtlich der Situation in Kabul, hinsichtlich der Situation am Flughafen und insbesondere in der Weise, dass die Evakuierungsmaßnahmen, die ja nicht nur von uns, sondern von vielen Staaten zurzeit in die Wege geleitet werden, auch so umgesetzt werden können, wie das von uns geplant ist.

Herr Minister, es gibt ja die Vorwürfe jetzt ganz konkret auch an Sie - zuerst falsch eingeschätzt dann verschleppt - wo würden Sie denn sagen haben Sie tatsächlich persönlich Fehler gemacht, jetzt ex-post betrachtet. Ex-post ist immer ja sozusagen einfach auch Kritik zu üben, wo würden Sie sagen, da war jetzt meine persönliche Fehleinschätzung?

Ich glaube, das ist die gleiche, die viele andere Kolleginnen und Kollegen international sich auch vorhalten lassen müssen – nämlich dass wir die Lage anders eingeschätzt haben, als es jetzt gekommen ist. Wir haben das auf internationaler Bühne immer gemeinsam getan. Wir sind nach dem Abzug der Truppen ganz sicherlich nicht soweit gewesen einzuschätzen, dass die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind, sich den Taliban entgegenzustellen. Das ist eine Fehleinschätzung gewesen von uns allen. Darüber werden wir sicherlich auch zu reden haben, aber mit allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zurzeit pausenlos spreche, ist es genauso wie auch hier bei uns: Alle wollen jetzt ihren Beitrag dazu leisten, dass so viele wie möglich, dass die Staatsbürger der jeweiligen Länder, aber auch die Ortskräfte, die mit uns sehr vertrauensvoll in den letzten 20 Jahren zusammengearbeitet haben, jetzt aus dem Land verbracht werden können. Das ist die Aufgabe, die wir alle haben. Nicht nur wir hier in Deutschland, sondern der kompletten internationalen Staatengemeinschaft, vor allen Dingen der Mitgliedsstaaten der NATO, die sich auch in dieser Zeit in Afghanistan militärisch ganz wesentlich engagiert haben.

Hat sich denn Ihre Sicht auf den Einsatz der Bundeswehr in Mali durch die Ereignisse in Afghanistan jetzt geändert?

Ich glaube, es wäre etwas sehr einfach, den Einsatz in Afghanistan jetzt zu vergleichen mit anderen Einsätzen, etwa dem in Mali. Der in Mali ist auch ein außerordentlich schwieriger, auch ein gefährlicher Einsatz, auch einer, den wir zusammen mit internationalen Partnern dort durchführen, im Rahmen der Europäischen Union, im Rahmen der Vereinten Nationen. Die Herausforderungen sind dort enorm. Sie sind auch groß, aber ich hielte es für falsch, Rückschlüsse des Afghanistan-Mandates jetzt auf alle anderen Auslandeinsätze zu ziehen. Wir werden das, was wir in Afghanistan nicht erreicht haben, sicherlich international wie auch national aufarbeiten müssen. Das ist die Aufgabe, die wir uns jetzt alle stellen müssen und natürlich werden wir daraus auch Schlussfolgerungen ziehen müssen und Konsequenzen, denn ich glaube, es gibt niemanden, weder hier noch international, der noch einmal in eine solche Situation kommen will, wie wir sie jetzt in Afghanistan erleben.

Gibt es noch eine Restfunktionsfähigkeit der afghanischen Regierung oder lohnt das gar nicht mehr?

Die afghanische Regierung ist ja jetzt in Doha, zumindest diejenigen, die davon übrig geblieben sind, um die Machtübergabe an die Taliban zu verhandeln und insofern gibt es dort eine wichtige Funktion auch derjenigen, die jetzt noch sind. Nach all den Informationen, die wir auch aus Doha haben, wird es eine Übergangsregierung geben. Man wird sehen müssen, wie diese aussieht. Aber insofern ja, diejenigen, die bisher in der afghanischen Regierung gewesen sind, haben noch eine Aufgabe. Die besteht aber im wesentlichen Sinne darin, dafür zu sorgen, dass all das, was jetzt übergeben wird, friedlich geschieht, sowohl für die Menschen in Afghanistan, für die Bürgerinnen und Bürger in Kabul vor allen Dingen, aber natürlich haben auch wir ein großes Interesse daran, dass das friedlich geschieht, um unsere internationalen Evakuierungsmaßnahmen so wie geplant, in den kommenden Tagen auch durchzuführen.
Vielen Dank.

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