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„Keine Rabatte auf die Rechtsstaatlichkeit“

02.06.2022 - Interview

Staatsministerin für Europa und Klima Anna Lührmann im Interview mit Till Hoppe von Europe.Table

Frau Staatsministerin, insbesondere Ungarn hat das Öl-Embargo gegen Russland wochenlang aufgehalten. Wie handlungsfähig ist die EU in dem Konflikt noch?

Der Fall zeigt, dass die EU trotz divergierender Interessen der Mitgliedstaaten in der Lage ist, Kompromisse zu finden. Aber wir sind zu langsam und Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner sind selten optimal. Der Fall zeigt daher vor allem, dass uns die Einstimmigkeit in der EU hemmt und schnelles Handeln verzögert. Ich wünsche mir, dass wir hierzu nun eine ernsthafte Debatte führen. Die Bürgerinnen und Bürger haben im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas klar gesagt, dass die Europäische Union außenpolitisch handlungsfähiger werden und mit einer Stimme sprechen muss. Es ist höchste Zeit, dass wir diese Frage angehen.

Viele Regierungen waren bislang aber nicht bereit, ihr Vetorecht in der Außen- und Sicherheitspolitik aufzugeben.

Ich sehe bei vielen Mitgliedstaaten hier eine größere Offenheit als zuvor, auch in Mittel- und Osteuropa. Ich bin daher verhalten optimistisch, dass es vorangehen könnte.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Die Krux ist natürlich, dass man Einstimmigkeit braucht, um die Einstimmigkeit abzuschaffen. Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine besteht aber eine gewisse Dynamik in diese Richtung. Es gibt zum einen die Passerelle-Klausel, die im Lissabonner Vertrag schon angelegt ist. Vorstellbar wären auch Zwischenschritte, etwa dass nicht nur ein Land eine Entscheidung verhindern kann.

Könnte das Thema schon den EU-Gipfel Ende Juni beschäftigen?

Der kommende Gipfel wird sich mit drei zusammenhängenden Themen beschäftigen: mit der EU-Beitrittsperspektive der Ukraine, Moldaus und Georgiens sowie der überfälligen Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien; mit der Diskussion über Wider Europe, also der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, von Ratspräsident Charles Michel und anderen aufgeworfenen Frage, ob es neue Formen der institutionellen Anbindung unserer Nachbarschaft an die EU braucht; und mit den Ergebnissen der Zukunftskonferenz und der institutionellen Reform der EU. Ich hoffe sehr, dass in den Schlussfolgerungen dann festgehalten wird, wie wir mit den institutionellen Reformen verfahren wollen.

Macrons Vorschlag für eine Politische Gemeinschaft für beitrittswillige Länder wurde von Kanzler Olaf Scholz wenig begeistert aufgenommen. Die Bundesregierung unterstützt die Idee also nicht?

Darüber wird gerade intensiv diskutiert, in Deutschland und in anderen EU-Mitgliedstaaten. Ein ähnlicher Impuls kam aus Italien, Präsident Macron hat ihn aufgegriffen, Österreich hat sich jüngst recht positiv dazu positioniert. Für uns ist zentral, dass wir unser Versprechen gegenüber den Ländern des westlichen Balkans einlösen und im Juni mit den Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien beginnen.

Macron fordert auch, dass integrationswillige Mitgliedstaaten in einer Art Kerneuropa innerhalb der EU voranschreiten können. Angela Merkel hat dies stets abgelehnt. Wie steht die neue Bundesregierung dazu?

Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass man in bestimmten Bereichen gemeinsam voranschreiten kann – solange dies allen Mitgliedstaaten offensteht. Ich stelle in meinen Gesprächen mit anderen Regierungen, aber auch im Bundestag fest, dass sich viele mit diesen Fragen beschäftigen. Es bleibt ein Balanceakt, der Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl erfordert. Gleichwohl sollten integrationswillige Mitgliedstaaten voranschreiten können – so wie in den aktuellen Verträgen bereits angelegt.

Die inneren Fliehkräfte in der EU haben in den vergangenen Jahren zugenommen, Stichwort: Rechtsstaatlichkeit. Erfordert die Bedrohung durch Russland nun Nachsicht mit den Regierungen in Polen und Ungarn?

Klar ist: Es gibt keine Rabatte auf die Rechtsstaatlichkeit – sie ist das Fundament der EU. Das Thema hat für uns daher höchste Priorität. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf unser europäisches Wertefundament, weil wir für ein anderes, auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basierendes Gesellschaftsmodell stehen. Deshalb müssen wir als EU nicht nur nach außen, sondern auch nach innen ganz klar sein.

Die EU-Kommission hat sich mit der polnischen Regierung auf einen Plan für die Auszahlung der Corona-Hilfen geeinigt, die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts soll abgeschafft werden. Sind Sie mit der Einigung einverstanden?

Ich freue mich, wenn es Fortschritte im Bereich Rechtsstaatlichkeit gibt. Ob die ausreichen, muss nun gründlich geprüft werden. Das Gesetz liegt noch nicht in seiner endgültigen Fassung vor, auch die angekündigten weiteren Maßnahmen nicht. Wichtig ist, dass die Richterinnen und Richter, die damals EU-rechtskonform ernannt worden sind, tatsächlich weiterarbeiten können.

Das Öl-Embargo hat die Geschlossenheit der EU gegenüber Russland auf eine harte Probe gestellt. Der nächste Härtetest steht an – Gazprom dreht einem Staat nach dem anderen das Gas ab. Hält die Solidarität hier?

Es wurden einige Vorkehrungen getroffen, etwa über gemeinsame Gaseinkäufe. Die Solidarität innerhalb der EU ist sehr stark, und sie wird es auch weiter sein. Dies ist ein Moment, in dem wir durch Solidarität stärker zusammenwachsen. Deshalb ist es absolut zentral, dass wir sie bewahren.

Die Bundesregierung ist selbst scharf kritisiert worden, etwa wegen schleppender Waffenlieferungen an die Ukraine. Wird Deutschland seiner Führungsrolle nicht gerecht?

Wir tun mehr als uns nachgesagt wird, von Waffenlieferungen bis zu humanitärer Unterstützung für die Ukraine. Wir arbeiten weiter mit unseren Partnern daran, auch im Bereich der Waffenlieferungen mehr möglich zu machen. Das wird von unseren internationalen Partnern und Freunden auch anerkannt. Die EU kann nur funktionieren, wenn das Verständnis herrscht, dass wir gemeinsam vorankommen.

Europe.Table

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