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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Konferenz „Afghanische Diaspora in Deutschland: Zusammenarbeit für die Unterstützung der Zivilgesellschaft in Afghanistan“

28.06.2022 - Rede

„Wie viel kann ein Land noch ertragen?“

Das schrieb Aisha Khurram – die heute hier bei uns ist und auch gleich zu uns sprechen wird – im April auf Twitter. Sie reagierte damit auf einen tödlichen Anschlag auf eine Schule in Kabul und die Verbannung afghanischer Mädchen aus den Klassenzimmern des ganzen Landes.

Wie viel können die Menschen in Afghanistan noch ertragen? Das habe auch ich mich gefragt, als ich letzte Woche von dem verheerenden Erdbeben in Ihrem Land erfahren habe.

Bei dem Beben kamen über 1.000 Menschen ums Leben. Viele weitere wurden verletzt und haben ihr Zuhause verloren.

Deutschland schickt medizinische Hilfe in die Unglücksregion – und gemeinsam mit unseren humanitären Partnern suchen wir nach Möglichkeiten, noch mehr zu tun.

In einem solch schrecklichen Moment verdienen die Opfer unsere volle Unterstützung.

Das Beben war nur die jüngste schreckliche Zerstörung, die die Afghaninnen und Afghanen erleiden mussten.

Seit letztem Sommer hat Ihr Land einen Sturm an humanitären und politischen Krisen durchlebt.

Millionen Männer, Frauen und Kinder haben nicht genug zu essen.

Hunderttausende, die ihre Häuser verlassen mussten, sind Flüchtlinge in ihrem Land.

Und die Taliban berauben die Menschen in Afghanistan, insbesondere Mädchen und Frauen, ihrer Rechte und Freiheiten.

Viele von Ihnen, die heute hier sind, haben das selbst erlebt – und Sie kennen die Situation viel besser als ich.

Vor einem Jahr waren Sie größtenteils noch in Afghanistan. Ihr Leben war schwierig, häufig in Gefahr.

Und dennoch konnten Sie arbeiten als Medienschaffende, Aktivistinnen und Aktivsten oder Richterinnen und Richter. Ihre Familien und Ihre Liebsten waren bei Ihnen. Und Sie haben einen Beitrag zu einer besseren Zukunft für die Menschen in Afghanistan geleistet.

Die Taliban haben Ihnen all das genommen. Sie mussten Ihr Land zurücklassen, Ihre Karriere, Ihre Familie – und viele Ihrer Träume.

Heute sind Sie in Deutschland. Um Ihr Leben fürchten Sie zwar nicht mehr. Aber ich weiß: Deswegen ist es noch lange nicht einfach.

Sie müssen ein neues Leben beginnen in einem Land, dessen Sprache viele von Ihnen nicht sprechen. Dessen Arbeitgeber Ihre Abschlüsse und Ihre Berufserfahrung nicht immer anerkennen. Und dessen Bürokratie – selbst für Deutsche – mit ihren komplexen Regeln und Anforderungen manchmal anstrengend ist.

Dennoch legen Sie alle bemerkenswerte Energie und Entschlossenheit an den Tag. Sie schreiben sich an deutschen Universitäten ein oder fangen neue Jobs an.

Und Sie alle suchen nach Wegen, um Afghanistan und seine Menschen von hier aus weiter zu unterstützen.

Deshalb haben wir Sie heute zu dieser Konferenz eingeladen.

Weil uns ein gemeinsames Ziel vereint: Nicht abzulassen von der Idee eines besseren Afghanistan mit weniger Not, in dem alle Afghaninnen und Afghanen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Weltanschauung und ihrer ethnischen Zugehörigkeit eine freie und offene Heimat finden.

Lassen Sie mich ganz klar sagen: Die Bundesregierung steht an der Seite Afghanistans und seiner Menschen! Wir wissen um unsere besondere Verantwortung gegenüber den Afghaninnen und Afghanen – und insbesondere gegenüber jenen, denen wir versprochen haben, sie in Deutschland willkommen zu heißen.

Mit Russlands Krieg, der in der Ukraine tobt, ist Afghanistan in Europa aus vielen Fernsehsendungen und Zeitungsüberschriften verschwunden. Aber das bedeutet nicht, dass wir Sie vergessen haben.

Letzte Woche haben wir eine erste Bilanz unseres „Aktionsplans Afghanistan“ gezogen, den ich bei meinem Amtsantritt vor einem halben Jahr ins Leben gerufen habe.

Seither hat Deutschland seine Anstrengungen als wichtigstes humanitäres Geberland für Afghanistan noch intensiviert. Und zwei Drittel der Afghaninnen und Afghanen, denen wir eine Aufnahme zugesagt hatten, sind jetzt in Deutschland.

Aber gleichzeitig warten zu viele Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage oder solche, die wieder mit ihren Familien zusammen sein möchten, noch immer auf ihre Ausreise.

Und das wissen wir – wir kennen die einzelnen Fälle. Gerade habe ich einen Brief afghanischer Frauen erhalten, die letzten Sommer demonstriert haben und jetzt in Pakistan angekommen sind.

Wir wissen: Jede einzelne Person zählt, jede einzelne ist uns wichtig. Aber ich möchte ebenso unterstreichen: Auch wenn wir unser bestes versuchen, mit Ihrer Hilfe, mit der Hilfe vieler NGOs hier in Deutschland – am Ende stehen die Taliban in unserem Weg. Aber wir setzen unsere Bemühungen fort.

Zu viele Afghaninnen und Afghanen in dem Land leiden Hunger, und für den Winter zeichnet sich eine tödliche Nahrungsmittelkrise ab.

In den kommenden Wochen und Monaten werden wir daher unsere Bemühungen, den Menschen in Afghanistan zu helfen, weiter intensivieren. Deshalb haben wir Sie heute eingeladen – um Ihre Sicht zu den Schwierigkeiten vor Ort zu hören.

Sehr wichtig für mich ist, dass wir unsere humanitäre Unterstützung fortführen – und ich möchte ausdrücklich dazu sagen, dass dies keine Legitimierung des Taliban‑Regimes bedeutet. Unsere Unterstützung geht zu den Menschen in Afghanistan.

Wir werden außerdem darauf hinarbeiten, dass alle afghanischen Bürgerinnen und Bürger mit Aufnahmezusage tatsächlich nach Deutschland kommen können – so schwierig das auch sein mag.

Als ich diesen Monat Pakistan besucht habe, hat die pakistanische Regierung zugesagt, unser Programm zur Ausreise nach Deutschland über Islamabad zu unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Wir passen außerdem unsere Verwaltungsverfahren einschließlich des Visaverfahrens an, um einen schnellen Transit zu ermöglichen. Und wir arbeiten mit anderen Ländern in der Region zusammen.

Schließlich bedeutet eine Ausweitung unseres Beistands für Afghanistan, dass wir die Zivilgesellschaft unterstützen – und das heißt: Wir möchten mit Ihnen allen zusammenarbeiten.

Ungeachtet der Machtübernahme der Taliban finanzieren wir immer noch zivilgesellschaftliche Projekte in Afghanistan – besonders für medizinische Grundversorgung und Opfer sexualisierter Gewalt, aber auch Bildungsprojekte.

Aber da der zivilgesellschaftliche Raum in Afghanistan immer kleiner wird, richten wir unser Augenmerk auch auf Akteure der afghanischen Zivilgesellschaft, die aus Deutschland oder aus Drittländern arbeiten.

Und weil mir und meinen Kolleginnen und Kollegen sowie den anderen Ministerien das sehr wichtig ist, haben wir Programme und Stipendien ausgeweitet: Damit afghanische Menschenrechtsverteidigerinnen und Kunst- und Medienschaffende von hier aus arbeiten können, damit Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschung von Deutschland oder anderen Ländern aus fortsetzen können.

Einige der Menschen, die an diesen Programmen teilhaben, sind heute hier – und ich begrüße Sie sehr herzlich.

Darauf möchten wir aufbauen – aber dafür brauchen wir Sie, wir brauchen Ihre Einblicke. Sie sind die Experten für diese Themen, Sie sind die Expertinnen, wenn es um Unterstützung für Zivilgesellschaft in Afghanistan geht.

Bei der heutigen Konferenz geht es darum, Ihnen zuzuhören und Ihren Stimmen Gehör zu verschaffen.

Bei der Planung hatten wir drei Ziele vor Augen:

Erstens wollen wir hören, wie wir Ihrer Meinung nach den zivilgesellschaftlichen Raum in Afghanistan erhalten können: Wie ist die Lage vor Ort – und was können wir ganz praktisch und konkret tun?

Ich bin kein Fan von schönen Überschriften zu Dingen, die am Ende nicht funktionieren – weil etwa die Situation in Dörfern, die Unterstützung brauchen, ganz anders ist als angenommen. Deshalb brauchen wir Sie als Experten, um erfolgreiche Projektarbeit zu machen.

Zweitens wollen wir als Bundesregierung lernen, wie wir Ihnen als hier in Deutschland ansässige Aktivistinnen und Aktivisten bei Ihrer Arbeit zur Verbesserung der Lage in Afghanistan eine größere Hilfe sein können.

Und drittens möchten wir die „neue“ und die „alte“ afghanische Diaspora in Deutschland zusammenbringen.

Diese Diaspora ist ziemlich groß, mit über 300.000 Menschen mit breitem Wissen zu Afghanistan, die mit Freunden und Verwandten in ihrem Land in engem Kontakt stehen.

Manche von Ihnen organisieren schon seit Anfang der 1990er-Jahre aus Deutschland heraus Projekte in Afghanistan.

Wir möchten Sie ermutigen, Ihre Erfahrungen mit denen zu teilen, die erst in den vergangenen Monaten und Jahren angekommen sind.

Über all diese Dinge werden wir heute in verschiedenen Workshops reden – und wir freuen uns auf Ihre Beobachtungen, Einschätzungen und Empfehlungen.

Ich erwarte nicht, dass wir heute perfekte Antworten auf alle aktuellen Herausforderungen finden – dies ist lediglich der Beginn eines Dialogs. Aber wenn wir diesen Dialog nicht beginnen, werden wir nie irgendwelche Antworten finden.

Und wir müssen auch realistisch sein zur Lage in Afghanistan.

„Wie viel können die Menschen in Afghanistan noch ertragen?“ – das war die Frage die Sie, liebe Aisha Khurram, aufgeworfen haben.

Und um ehrlich zu sein: Wir kennen die Antwort nicht. Aber was wir wissen, ist: Wir müssen alles tun, um den Afghaninnen und Afghanen in der aktuellen Situation zu helfen.

Dazu sind wir fest entschlossen: Alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Männern, Frauen, Kindern und besonders Mädchen in Afghanistan ein besseres Leben zu ermöglichen.

Deshalb sind wir heute hier – und ich danke Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind.

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