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Interview mit Außenminister Johann Wadephul im Focus

04.09.2025 - Interview

Erschienen am 28.08.2025

Frage:

Die alte Weltordnung, die für Deutschland lange Zeit so vorteilhaft war und die uns Wohlstand und Sicherheit verschaffte, gibt es nicht mehr – und eine neue ist noch nicht erkennbar. Von welcher Illusion müssen wir Deutsche uns verabschieden?

Johann Wadephul:

Dass alle nur darauf warten, unsere besten Freunde zu sein. Wir müssen viel entschiedener um Partner werben. Wir müssen Schlüsselländer definieren, mit denen wir Sicherheitsinteressen und auch Wirtschaftsinteressen teilen. Auf diese Länder müssen wir zugehen, mit einem Angebot zum beiderseitigen Nutzen. Selbst wenn wir nicht in allen Belangen hundertprozentig übereinstimmen. Und wir sollten auch nicht mit erhobenem Zeigefinger unterwegs sein, wenn wir einen Interessenausgleich suchen.

Frage:

Was meinen Sie konkret?

Johann Wadephul:

Nehmen Sie große Schwellenländer wie Brasilien oder Indonesien, das ich gerade besucht habe. Sie definieren ihre eigenen Interessen, etwa im Staatenverbund BRICS, in dem auch China und Russland vertreten sind. Weder können wir es uns leisten, noch ist es klug zu sagen: Wer mit diesen Staaten kooperiert, kann für uns kein Partner sein. Ganz im Gegenteil haben wir ein vitales Interesse, unsere globalen Partnerschaften auszubauen. Nicht zuletzt als Exportnation kann unsere Antwort auf Abschottung und Zollschranken doch nur noch mehr Offenheit sein. Deswegen ist jetzt der Moment, auf aufstrebende Länder weltweit zuzugehen, sei es in Südamerika, in Afrika oder etwa im Indopazifik. Wir teilen nicht alle, aber viele wichtige Ziele – etwa, dass man sich im Welthandel auf Regeln verlassen können muss. Wenn es uns hier also gelingt, unsere Kooperation auszubauen und neue Freihandelsabkommen abzuschließen, dann hätten wir schon viel erreicht.

Frage:

Sie klingen sehr zuversichtlich, aber erleben wir nicht gerade eine Welt, in der Zwang und das Recht des Stärkeren die entscheidenden Machthebel sind? Das gilt für die USA unter Donald Trump, das gilt für Russland unter Wladimir Putin, und es gilt für die chinesische Dominanzstrategie unter Xi Jinping. Da haben wir Deutsche mit unserem auf Abkommen und die Einhaltung von Regeln aufbauenden Politikstil doch gar keine Chance.

Johann Wadephul:

Ich erlebe es bei meinen Reisen und Gesprächen anders. Es gibt weltweit sehr viele Staaten, die bestimmte Interessen und Grundsätze mit uns teilen und die sich auch wünschen, dass wir diese gemeinsam verteidigen.

Frage:

Aber wie sollten uns Partnerschaften mit Indonesien, Brasilien und anderen Staaten weiterhelfen, wenn zum Beispiel China diese Staaten mit seiner wirtschaftlichen und zum Teil auch militärischen Dominanz in immer stärkere Abhängigkeiten zwingt?

Johann Wadephul:

Ich bestreite nicht, dass China nach diesem Muster handelt. Aber es sind notgedrungene Deals, keine positiven Angebote. Wir können hingegen positive Angebote formulieren, diese Chance müssen wir nutzen. Wir müssen die deutsche Wirtschaft, unsere Unternehmen, dazu bringen, in diese Länder zu gehen. Bei Investitionsentscheidungen und der Finanzierung von Investitionen geht es darum, dass wir flexibler und vor allem schneller werden.

Frage:

In einem Essay für die FAZ hat der Historiker Martin Schulze Wessel die Präsidentschaft Donalds Trumps eine „Schicksalsverschiebung von Ost nach West“ genannt. Die außenpolitische Souveränität der EU schrumpfe dramatisch, und über Europas Sicherheit – und damit auch Deutschlands Zukunft – werde jetzt in Washington entschieden. Wie können wir in so einer Welt die eigenen Ziele überhaupt noch erreichen?

Johann Wadephul:

Immer im Bündnis mit anderen Partnern. Schauen Sie nur, was allein beim Thema Ukraine in den letzten Monaten stattgefunden hat: Der Bundeskanzler hat mit seinen Kollegen aus Frankreich, Großbritannien und Polen die „Koalition der Willigen“ an der Seite der Ukraine ins Leben gerufen. Sie umfasst bereits etwa 30 Staaten, zu denen auch außereuropäische Nationen wie Japan gehören. Im Ergebnis wird die Zukunft der Ukraine – und damit auch die Zukunft Europas – nicht über unsere Köpfe hinweg verhandelt, das hat auch unsere Präsenz in Washington vergangenen Montag belegt. Wir sehen also: Wir haben Gewicht und Einfluss. Und wir haben gerade jetzt die Möglichkeit, neue Bündnisse zu schmieden, die uns stärker machen.

Frage:

Zeichnen Sie da nicht ein zu rosiges Bild? Um international stark zu sein, braucht Deutschland eine starke EU – aber in zentralen Politikfeldern erweist sich Europa als mehr und mehr kraftlos: Unsere Bedeutung im Welthandel schwindet angesichts des chinesischen Aufstiegs; in Nahost und in der Ukraine sind die USA der entscheidende Akteur; die Migrationsfrage an unseren Außengrenzen ist ungelöst, die Erweiterungspolitik de facto tot. Und alle europäischen Hauptakteure haben, bis auf Deutschland, große finanzielle Probleme oder sind – zugespitzt formuliert – pleite.

Johann Wadephul:

Ich teile keine einzige dieser Thesen. Die Europäische Union hat den USA im Zollstreit klar aufgezeigt, dass wir den Kompromiss wollten – aber zur Reaktion bereit wären. Russland zeigen wir in großer Deutlichkeit, dass wir militärisch abwehrbereit sind und bei unseren Interessen nicht zurückstecken. In der Ukraine entscheiden die USA nicht allein, das sehen wir gerade. In Nahost sind die Amerikaner zweifellos ein wichtiger Faktor, aber auch wir Europäer sind wichtig, gerade auch wir Deutsche. Ich selbst führe intensive Gespräche und nutze unser gutes Verhältnis zu Israel, um Einfluss zu nehmen. Die EU-Erweiterungspolitik steht vielleicht vor einem ganz neuen Kapitel, weil in den kommenden Jahren mehrere Staaten beitreten könnten – übrigens nicht nur die Länder des westlichen Balkans, sondern etwa auch Island, wo es deutliche Überlegungen in Richtung EU gibt. Also: Ich sehe große Aufgaben für Europa und die EU, wir müssen an uns arbeiten und auch harte Reformen durchführen, um unsere globale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Entscheidend ist aber, dass wir es selbst in der Hand haben, das Erfolgsmodell Europa wieder auf Kurs zu bringen. Deutschland wird dabei eine zentrale Rolle spielen.

Frage:

Bleibt die Bedrohung Europas durch einen wankelmütigen US-Präsidenten.

Johann Wadephul:

Das Dilemma mit der Politik von Donald Trump ist, dass sie viele Nationen und deren Bürgerinnen und Bürger immer mehr mit Amerika fremdeln lässt. Diese Entwicklung macht die USA mittelfristig nicht stärker und wenn Teile der Welt sich von den USA abwenden, ist das auch nicht in unserem Interesse.

Frage:

Wie wird die Präsidentschaft von Donald Trump das transatlantische Verhältnis dauerhaft verändern?

Johann Wadephul:

Das ist nicht abschließend absehbar. Mir ist aber wichtig, dass es auch positive Auswirkungen gibt – dazu zählt die klare Bereitschaft der Europäer, mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen. Unsere Ankündigung, die Verteidigungsausgaben auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, hat Trump mit einem klaren amerikanischen Bekenntnis zur Nato beantwortet - auch mit einem Bekenntnis zum Beistand nach Artikel 5 im Fall eines Überfalls auf einen Nato-Staat. Und wir haben im Fall der Ukraine-Verhandlungen gesehen, dass Trump durchaus europäische Positionen übernimmt. Das zeigt: Wir tauschen uns aus und wir haben Einfluss. Wenn wir darauf aufbauen können, mache ich mir um das transatlantische Bündnis keine Sorgen.

Frage:

Aber ein Bündnis lebt nun mal auch davon, dass man sich aufeinander verlassen kann. Können die Europäer, können wir Deutsche uns wirklich noch auf die USA verlassen?

Johann Wadephul:

Es gibt die klare Aussage des amerikanischen Präsidenten, des Außenministers und des Verteidigungsministers, dass die Vereinigten Staaten zu Europa stehen und auch bereit sind, Europa zu verteidigen. Wir sollten das nicht stärker in Frage stellen, als es die Amerikaner selbst tun.

Frage:

Sie verlassen sich auf Donald Trump?

Johann Wadephul:

Ja. Noch einmal: Wir Europäer sollten das Schutzversprechen der Amerikaner nicht in Frage stellen, wenn die Amerikaner es uns geben. Gleichzeitig müssen wir Europäer weiter an unserer sicherheitspolitischen Eigenständigkeit arbeiten. Das ist eine Erwartung, die die USA zurecht haben und sie ist auch ganz entschieden in unserem eigenen Interesse.

Frage:

Wie gehen wir mit einem Russland um, dass uns dauerhaft feindlich gesinnt ist, womöglich auch nach der Regierungszeit Wladimir Putins?

Johann Wadephul:

Schlicht und ergreifend in der Art und Weise, dass wir jederzeit in der Lage sein müssen, uns gegen eine Aggression zu verteidigen.

Frage:

Wir müssen dauerhaft zur Abschreckung bereit sein?

Johann Wadephul:

Eindeutig ja. Deutschland hat sich viel zu lange darauf verlassen, dass Russland kein anderes Land angreifen werde, wenn wir nur genug in unser gegenseitiges Verhältnis investierten. Denken Sie an die Nord Stream Gaspipelines. Das waren im Nachhinein folgenschwere politische Fehlentscheidungen, die bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet worden sind. Unsere Aufgabe ist nun, alles dafür zu tun, dass uns so etwas nicht noch einmal passiert. Zum jetzigen Zeitpunkt kann es bedauerlicherweise kein Vertrauen in die russische Außenpolitik geben. Und deswegen muss man auf Nummer sicher gehen.

Frage:

Über welche Szenarien russischer Aggression gegen die Nato und oder die EU wird bei ihnen im Außenministerium nachgedacht?

Johann Wadephul:

Wir nehmen sehr ernst, was von russischer Seite mehr oder minder klar artikuliert wird. Das sind vor allem Äußerungen, die Staaten der früheren Sowjetunion betreffen…

Frage:

… Sie meinen die baltischen Länder: Estland, Lettland und Litauen…

Johann Wadephul:

… und auch die Republik Moldau. Überall dort müssen wir Europäer uns auf russische Provokationen oder sogar Militäraktionen einstellen. Ich halte es für keinen Zufall, dass der russische Außenminister beim Treffen in Alaska, bei dem ja über Frieden gesprochen werden sollte, einen Pullover getragen hat, auf dem vorne auf der Brust das Kürzel für die frühere Sowjetunion zu lesen war. Das war die Verdeutlichung des russischen Macht- und Beherrschungsanspruchs. Um es mit Torquato Tasso zu sagen: Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt.

Frage:

Wenn Sie Goethe zitieren, zitiere ich den Militärhistoriker Sönke Neitzel: Der sagt, wir erlebten womöglich „unseren letzten Sommer in Frieden“. Was spricht dafür, dass er recht hat?

Johann Wadephul:

Wenn Neitzels Zitat ein vehementer Aufruf zur Abschreckungsfähigkeit ist, dann unterstütze ich das. Wenn es um den konkreten Zeitpunkt geht, halte ich das für übertrieben. Aber richtig ist, dass wir es ernst meinen müssen mit unserer Verteidigungsbereitschaft. Ich habe einen erheblichen Teil meines Lebens im Kalten Krieg verbracht hat und ich bin bewusst nach dem Abitur vier Jahre zur Bundeswehr gegangen. Die schlichte, Sicherheit verschaffende Logik im Westen war, dass wir abschreckungsfähig sein müssen – und abschreckungsfähig hieß, jederzeit in der Lage zu sein, dieses Land so zu verteidigen, dass jeder Angriff ein erhebliches Risiko darstellt.

Frage:

Welche Sicherheitsgarantien kann und wird Europa der Ukraine geben?

Johann Wadephul:

Die notwendigen.

Frage:

Und die wären?

Johann Wadephul:

Es muss sichergestellt sein, dass Russland die Ukraine nicht weiter angreifen wird. Daher werden diese Sicherheitsgarantien mit einem erheblichen Anteil der Vereinigten Staaten versehen sein müssen. Um das klug miteinander zu formulieren, ist noch ein großes Stück Arbeit nötig. Denn erstens wird die Ukraine zu Verhandlungen, womöglich auch um territoriale Fragen, nur bereit sein, wenn es belastbare Sicherheitsgarantien gibt. Auf der anderen Seite wird man einen Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland nur bekommen, wenn diese Sicherheitsgarantien auch von Russland akzeptiert werden. Also, das wird eine der schwierigsten Verhandlungsoperationen werden, die man vor sich haben kann. Ich hoffe trotzdem, dass sie zum Erfolg führen wird.

Frage:

Die bisherige Haltung aller westlichen Staaten war, dass es keinen direkten militärischen Kontakt zwischen russischen und westlichen Soldaten geben sollte. Das würden wir mit Bodentruppen in der Ukraine doch aufgeben. Was sagen Sie all jenen in Deutschland, die damit eine weitere Eskalation dieses Krieges befürchten?

Johann Wadephul:

Wenn dem so wäre, hätten wir auch keine Bundeswehr-Brigade in Litauen stationieren dürfen.

Frage:

Aber Litauen ist Nato-Gebiet, die Ukraine nicht.

Johann Wadephul:

Zweites Beispiel: Im Rahmen der Luftraumüberwachung des Baltikums, an der sich auch die Bundeswehr beteiligt, haben Nato-Flugzeuge bereits jetzt immer wieder Kontakt mit russischen Maschinen, die in unseren Luftraum eindringen und zurückgedrängt werden. Ich halte die Eskalationsfurcht für übertrieben, nicht umsonst nutzt gerade russische Desinformation sie immer wieder aus.

Frage:

In der Logik von Wladimir Putin wird er Nato-Truppen in der Ukraine niemals zustimmen können, denn genau dagegen führt er ja Krieg, hat er die sogenannte „militärische Spezialoperation“ erst angefangen. Was folgt daraus?

Johann Wadephul:

Ich verstehe Ihren Fokus auf konkreten Sicherheitsgarantien für die Ukraine, aber ich will es an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Ich habe allergrößte Zweifel, dass es in absehbarer Zeit überhaupt zu Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine kommt. Trotz intensiver Bemühungen des Westens und trotz eines weiten Entgegenkommens der Ukraine, die sogar über den aktuellen Frontverlauf als Basis einer Waffenstillstandslinie spräche, bewegt sich Putin zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht. Wer verhandeln will, bombardiert nicht erbarmungslos weiter. Ich rate dringend, den Druck auf Russland aufrechtzuerhalten. Es ist doch wahrscheinlicher, dass es in der nächsten Zeit neue Sanktionen gegen Russland gibt, als dass Putin in Verhandlungen in eine Waffenruhe einlenkt.

Frage:

Das gilt auch für die USA?

Johann Wadephul:

Trumps Reaktion könnte sehr deutlich ausfallen. Diese Verhandlungen sind jetzt in gewisser Weise „sein“ Projekt. Wenn Putin das alles torpediert, hat die „Koalition der Willigen“ schon die Erwartung, dass die Amerikaner reagieren, mit Sanktionen und auch mit weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine.

Frage:

Da Sie davon sprechen, den Druck auf Russland aufrechtzuerhalten: Wann beliefert die Bundesregierung – wie von Friedrich Merz im Wahlkampf angekündigt – die Ukraine mit Taurus-Raketen?

Johann Wadephul:

Wir werden in den kommenden Wochen sehr genau beobachten, wie sich die Dinge entwickeln und danach in Berlin Entscheidungen treffen.

Frage:

Vorhin sagten Sie, Deutschland müsse dauerhaft zur Abschreckung bereit – aber einen generellen Wehrdienst schließt diese Koalition aktuell aus. Wie passt das zusammen? Und könnte nicht doch eine Situation eintreten, in der dieses Land eine Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht braucht?

Johann Wadephul:

Ich gehöre bekanntlich zu den Befürwortern einer Wehrpflicht und die Notwendigkeit zu einer glaubwürdigen Abschreckung nimmt zurzeit eher zu als ab. Der Koalitionsvertrag als unsere maßgebliche Arbeitsgrundlage sieht die Einführung weder automatisch vor, noch schließt er sie aus. Wir werden darüber also zu sprechen haben. In diesen Prozess bringe ich mich natürlich ein.

Frage:

Wir haben ganz zu Beginn über die Neuordnung der Welt gesprochen und das beinhaltet auch die Geschehnisse in Nahost. Deutschland hält offiziell an der Zweistaatenlösung für Israel und Palästina fest, obwohl längst klar ist, dass es sie auf absehbare Zeit nicht geben wird, vielleicht sogar nie. Es gibt dafür keine Mehrheit im israelischen Parlament, es gibt auch keine palästinensische Kraft, die das tragen könnte. Warum diese diplomatische Scharade?

Johann Wadephul:

Eine Zweistaatenlösung ist das Ziel der übergroßen Mehrheit der Staaten auf der Welt, und sie entspricht der völkerrechtlichen Grundkonstellation dieses Konflikts und den Vereinbarungen von Oslo. Mir ist kein besseres Szenario bekannt, in dem Israelis und Palästinenser friedlich nebeneinander leben können. Und deswegen ist es sinnvoll, die Zweistaatenlösung weiter zu verfolgen, auch mit Zwischenstufen. Daran arbeiten wir, gemeinsam mit den arabischen Nachbarstaaten Israels.

Frage:

Wie genau?

Johann Wadephul:

Zunächst mal liegt unser Fokus auf dem Gazastreifen: Wir tun wir alles dafür, dass es dort zu einem Waffenstillstand kommt und auch zur Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln. Ich kann Ihnen versichern, dass wir in intensiven Gesprächen mit den arabischen Nachbarstaaten und unter Einbeziehung unserer europäischen Partner daran arbeiten, wie der Gazastreifen nach einem Waffenstillstand und nach der Freilassung aller Geiseln verwaltet und gesichert werden kann.

Frage:

Aber während wir hier sprechen, schafft Israel im Gaza-Streifen und im Westjordanland weiter Fakten. Sie sind im engen Austausch mit Ihrem israelischen Amtskollegen und die israelische Regierung kennt die deutsche Position, sie kennt auch die deutsche Kritik am Militäreinsatz in Gaza. Bloß: Das alles beeindruckt Ministerpräsident Netanjahu nicht. Er macht einfach weiter. Wie ohnmächtig fühlen Sie sich eigentlich?

Johann Wadephul:

Bei aller Kritik an Israel möchte ich daran erinnern, dass die Hamas seit dem 7. Oktober völlig unschuldige Menschen in schrecklichster Geiselhaft hält, misshandelt und sterben lässt. Und deswegen ist die allererste Aufforderung an Hamas, endlich diese Geiseln freizulassen und der allererste und deutlichste Vorwurf geht an die Führung der Hamas, dass sie diesen Schritt nicht geht. Und erst danach kritisiere ich die israelische Regierung für das aktuelle Vorgehen in Gaza, das wir entschieden ablehnen.

Frage:

Dennoch stellt sich eine für Deutschland sehr schmerzhafte Frage. Gerade die Bundesrepublik hat eine besondere, historische Verantwortung für die Sicherheit jüdischen Lebens und für die Existenz des israelischen Staates. Israel gilt auch als einzige Demokratie im Nahen Osten. Aber Hand aufs Herz: Haben wir es angesichts der Politik Netanjahus und den Äußerungen seiner rechtsextremen Minister wirklich noch mit dem Israel früherer Tage zu tun?

Johann Wadephul:

Wir halten die israelische Regierungspolitik im Gazastreifen und im Westjordanland für falsch. Wir sehen jedoch auch, dass es dafür einen erheblichen Rückhalt in der israelischen Bevölkerung gibt. Deshalb ist die Arbeit an einer Friedensperspektive so wichtig, die in den beiden Gesellschaften wieder ankommen muss, um echte Fortschritte zu erzielen.

Frage:

Am Beispiel der deutschen Israel-Politik sieht man im Augenblick ja sehr deutlich, wie wenig sich Außen- und Innenpolitik noch voneinander trennen lassen. Die Entscheidung des Kanzlers, Israel nicht mehr mit Waffen zu beliefern, die in Gaza eingesetzt werden könnten, hat hohe Wellen geschlagen. Was haben Sie als Außenminister dabei über die Diskussionskultur unseres Landes gelernt?

Johann Wadephul:

Ich habe mich gewundert, dass die Aspekte, die der Bundeskanzler in seine Entscheidung miteinbezogen hat, bei manchen so gänzlich unter den Tisch gefallen sind. Die Bundesregierung steht voll und ganz zu ihrer besonderen Verantwortung für die Sicherheit und die Existenz Israels und ist zugleich bei der Unterstützung an völkerrechtliche Maßstäbe gebunden. Dass die Vereinten Nationen mittlerweile weit mehr als 50.000 tote Palästinenserinnen und Palästinenser zählen, wovon die deutliche Mehrzahl keine Hamas-Kämpfer waren, und dass über eine halbe Million Menschen im Gazastreifen akut vom Hungertod bedroht sind, all das mussten wir bewerten – politisch, juristisch, auch als Christen.

Frage:

Was war, mit dem Wissen von heute, an der ganzen Aufregung womöglich sogar gut?

Johann Wadephul:

Das Ganze hat außenpolitisch Wirkung gezeigt. Ich selbst war in der Woche davor nach Israel gereist und hatte die israelische Regierung gewarnt. Deren Reaktion war, eine neue Stufe des Kampfes gegen die Hamas auszurufen. Wir wären als Bundesregierung international unglaubwürdig geworden, wenn wir daraufhin nicht gehandelt hätten. Das ist sowohl in Israel registriert worden wie auch in der übrigen Welt. Wir wollen ein glaubwürdiger Partner sein, für Israel und auch für Frieden in der Welt. Dazu gehört es manchmal auch, Freunden gegenüber unangenehme Wahrheiten klar auszusprechen.

Frage:

Und in Deutschland?

Johann Wadephul:

Hat es zu einem reinigenden Gewitter geführt. Manchmal ist es notwendig, dass man sich klar denkt und dann auch klar formuliert, wofür man steht – und was man nicht mehr verantworten kann.

Interview: Marc Brost

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