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„Unsere Waffen helfen, Menschenleben zu retten“
Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der FAZ
Frage: Frau Ministerin, können Sie den Wunsch der Ukraine nach deutschen Leopard-2 Panzern verstehen?
Außenministerin Annalena Baerbock: Ja.
Frage: Und teilen Sie auch die Vermutung ihres ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba, dass Deutschland und andere westliche Länder sich da hinter einer psychologischen Barriere verschanzen?
Außenministerin Annalena Baerbock: Ein Land im Krieg, das jeden Tag auf brutalste Art und Weise erleben muss, dass Freunde, Eltern, Geschwister sterben, wünscht sich zu Recht jegliche Hilfe und militärische Unterstützung, die es geben kann. Koste es was es wolle. Und das ist mehr als verständlich. Wir wiederum, die das Glück haben, weiterhin in Frieden und Sicherheit zu leben - auch weil die Ukraine unsere europäische Friedensordnung verteidigt -, haben eine doppelte Verantwortung: Diese Hilfe nicht nur zu versprechen, sondern sie auch zu liefern. Und zugleich die Verantwortung, dass sich der Krieg nicht auf andere Länder ausbreitet. Deswegen haben wir uns ganz am Anfang dieses Krieges, obwohl mir selbst das Herz geblutet hat, gegen eine Flugverbotszone ausgesprochen, weil das bedeutet hätte, dass wir selbst zur Kriegspartei gegen Russland geworden wären. Statt selbst in den Krieg reingezogen zu werden, haben wir eine radikale Wende in der deutschen Politik vollzogen und liefern seitdem Waffen - auch schwere Waffen - damit die Ukraine sich verteidigen kann. Und wie wichtig diese internationalen Lieferungen sind, haben die letzten Tage und Wochen gezeigt. Hochmoderne westliche Waffensysteme machen einen massiven Unterschied. Unsere Gepard-Panzer, Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer helfen, dass endlich auch besetzte Orte im Osten befreit und zielgerichtet russische Luftstreitkräfte und wichtige russische Stellungen ausgeschaltet werden können.
Frage: Würden die Erfolge, die die ukrainischen Streitkräfte gerade erzielen, eine Entscheidung beeinflussen?
Außenministerin Annalena Baerbock: Natürlich. Unsere Waffenlieferungen helfen offensichtlich sehr deutlich, Menschenleben zu retten. Also sollte sich eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik ständig fragen, wie wir durch weitere Lieferungen helfen können, noch mehr Dörfer zu befreien und damit Leben zu retten. Denn dieser Krieg ist keine abstrakte Nachricht aus einem fernen Land. Die Geländegewinne im Osten sind nicht ein bloßes Verschieben von Linien auf einer Karte. Sondern für eine 86-jährige Frau heißt das, nach Wochen in Kellern endlich wieder raus zu können, weil sie vorher Angst hatte, auf der Dorfstraße erschossen zu werden. Butscha, Mariupol und jetzt die befreiten Orte Kupyansk, Izyum und Balakliya haben uns auf schreckliche Weise gezeigt, welches Leid den Menschen im Osten und Süden der Ukraine droht, wenn sich nicht befreit werden. Menschen werden willkürlich erschossen, vergewaltigt oder verschleppt – egal ob Männer, Frauen, Hochbetagte oder Kleinkinder. Jede weitere Woche unter russischer Besatzung heißt, eine neue Woche weiterer Kriegsverbrechen. Die kommenden Monate sind daher entscheidend.
Frage: Sie selbst wären für die Lieferung von Panzern?
Außenministerin Annalena Baerbock: Die aktuelle Panzerdebatte greift zu kurz. Es braucht einen Dreiklang: Erstens: Wie können wir noch mehr von dem liefern, das jetzt so effizient hilft, also Luftabwehr, Artillerie, Mehrfachraketenwerfer. Dabei geht es auch um unsere eigenen Bestände. Das müssen wir mit der NATO klären. Zweitens: Was helfen schwere Waffen, wenn die Munition ausgeht oder das Gerät kaputtgeht. Wir schaffen daher einen Instandsetzungshub an der polnisch-ukrainischen Grenze. Zudem habe ich von meinem jüngsten Besuch in Kiew die Idee mitgenommen, mit der Industrie eigene Produktionslinien für das fehlende Material, gerade Munition, auf den Weg zu bringen. Und drittens, zu den Panzern. Wir liefern ja längst Panzer - Flugabwehrpanzer, Brückenlegepanzer, Bergepanzer. Schützenpanzer kommen jetzt über den Ringtausch. Und was moderne Kampfpanzer angeht, kann man das nur gemeinsam entscheiden, in einer Koalition und international. In der entscheidenden Phase, in der sich die Ukraine aber gerade befindet, halte ich das aber auch nicht für eine Entscheidung, die lange hinausgezögert werden sollte.
Frage: Sehen Sie nach dem diplomatischen Erfolg des türkischen Präsidenten bei der Öffnung der ukrainischen Häfen für Getreidefrachter Raum für eine deutsch-französische diplomatische Initiative, um das Kernkraftwerk Saporischschja aus der Schusslinie zu bringen?
Außenministerin Annalena Baerbock: Die Situation ist brandgefährlich, denn Putin hat das Atomkraftwerk Saporischschja zu einem Faustpfand in einem Kriegsgebiet gemacht. In so einem Moment ist es wichtig, effizient im Hintergrund zu handeln. Ein Großteil meiner Gespräche der letzten Tage drehte sich im Zusammenspiel mit Frankreich daher darum, wie wir gemeinsam erreichen können, dass die internationale Atomenergiebehörde IAEO dauerhaft im AKW präsent sein kann. Und zwar in einer Situation, in der russische Soldaten - das muss man sich mal vorstellen - das Atomkraftwerk besetzt haben und zugleich ukrainische Mitarbeiter unter widrigsten Bedingungen dieses Atomkraftwerk am Laufen halten, um täglich mit großer Mühe eine Katastrophe zu verhindern. Das Wichtigste ist derzeit, wie wir erreichen können, dass die russischen Truppen das Kraftwerk nicht weiter beschießen oder von innen lahmlegen.
Frage: Je länger der Krieg dauert, desto stärker spürt man die Auswirkungen auch in Deutschland. Sie haben vor einigen Monaten schon vor sozialen Unruhen gewarnt. War das voreilig? Die ersten Proteste haben ja nicht viel Zulauf gefunden?
Außenministerin Annalena Baerbock: Ich hatte das überspitzt formuliert, um damals deutlich zu machen, weswegen wir ersten Rufen nach einem sofortigen Öl- und Gasembargo im Frühjahr nicht gefolgt sind. Bei 55% russischer Gasabhängigkeit konnten wie nicht von heute auf morgen einfach so auf russische Importe verzichten, Das hätte enorme Folgen gehabt. Genau deswegen hat diese Bundesregierung ja, allen voran Robert Habeck, seit Ausbruch des Krieges unter Hochdruck dafür gesorgt, Alternativen zu finden. Wir beziehen jetzt nur noch sechs bis acht Prozent unseres Gases von Russland und unsere Gasspeicher sind Stand heute zu mehr als 88 Prozent gefüllt. Damit haben wir verhindert, dass das russische Regime Gaslieferungen als Waffe einsetzen kann. Und wir haben auch verhindert, dass Putin uns bei diesem Thema spaltet. Mit dem Entlastungspaket und den Maßnahmen auf europäischer Ebene sorgen wir dafür, dass steigende Energiepreise im Herbst und Winter nicht zur sozialen Spaltung führen. Zugleich lassen wir aber auch nicht zu, dass ausgerechnet die Ärmsten in unserem Land gegen die Menschen in der Ostukraine ausgespielt werden, die im Moment in Nieselregen im Kriegsgebiet ausharren. Denn ja, Politik - gerade in einem so reichen Land wie Deutschland - muss dafür sorgen, dass nicht Menschen mit geringen Einkommen und kleine Handwerksbetriebe den größten Preis für den russischen Krieg zahlen. Aber gerade von Menschen mit einem kleinen Einkommen, von Rentnerinnen und Rentnern, die den Krieg noch selbst erlebt haben, höre ich immer wieder: helft uns bei den Energiepreisen, aber lasst auf keinen Fall die Menschen in der Ukraine im Stich.
Frage: Zur Sicherung der allgemeinen Energieversorgung gibt es ja auch den deutschen Plan ihres Parteikollegen, Wirtschaftsminister Robert Habeck, der nach dem Jahreswechsel nur noch zwei der drei deutschen Kernkraftwerke in Reserve halten will. Haben sich die Grünen damit ohne Not den Vorwurf zugezogen, sie stellten ihr Parteiprogramm über die Interessen der Bevölkerung?
Außenministerin Annalena Baerbock: Ganz und gar nicht. Im Wirtschaftsministerium hat man sich sehr genau angeschaut, welche schlimmsten Szenarien im Winter zu erwarten sein könnten. Das Ergebnis dieses Stresstests war ja aber auch, dass es eine gute Möglichkeit gibt, dass die Stromversorgung eben nicht so massiv unter Druck gerät. Nur für das Restrisiko, dass alle unglücklichen Umstände aufeinandertreffen - also ungünstiges Wetter, Erzeugungsknappheit in anderen europäischen Ländern, niedrige Wasserstände in Flüssen - werden zwei Atomkraftwerke in Reserve gehalten.
Frage: Aber finden Sie, als ehemalige Grünen-Vorsitzende, nicht, dass darin eine große politische Unlogik steckt? Wir können den Atomausstieg im Winter nur vollenden, wenn sichergestellt ist, dass uns französische Atomkraftwerke dann genügend Strom liefern?
Außenministerin Annalena Baerbock: In dieser komplexen Situation ist es wichtig, sich die Energiezusammenhänge in Europa genau anzuschauen. Nicht Frankreich liefert uns gerade Strom, sondern wir Frankreich, weil ein erheblicher Teil der französischen Atomkraftwerke vom Netz ist. Aber ja: Es gibt in diesen Zeiten keine einfachen Antworten, auch wenn es schmerzt. Wir kommen durch diesen Winter als Europäer nur gemeinsam. Daher werden bei uns zwei Atomkraftwerke in der Notreserve bleiben, obwohl der deutsche Atomausstieg zum Jahresende kommt. Und bereits ausgemusterte Kohlekraftwerke reaktivieren wir - trotz des absolut notwendigen Ziels, mit Blick auf unsere Klimaziele schnellstmöglich aus der Kohle auszusteigen.
Frage: Auch international verändert die russische Aggression die Lage. Kann die Bundeswehr noch in ihrem UN-Einsatz in Mali bleiben, wenn dort zunehmend russische Söldner agieren?
Außenministerin Annalena Baerbock: Wir sind in Mali nicht ohne Grund. Auch hier schützen wir Menschen, ermöglichen Entwicklungszusammenarbeit. Dieser Einsatz war immer gefährlich und bleibt gefährlich, sonst wären dort nicht seit zehn Jahren knapp 12.000 Soldaten aus fast 60 Ländern. In diesem schwierigen Umfeld hat die internationale Gemeinschaft, von Staaten wie Bangladesch über Schweden bis hin zu Deutschland, sich mit dem MINUSMA-Einsatz nicht vorgemacht, selbst den Islamismus bekämpfen zu können. Aber wir stehen mindestens in der Verantwortung, so viel Sicherheit zu gewährleisten, dass Kinder sicher zur Schule gehen können, Marktfrauen zum Markt, und Hirten ihr Vieh auf die Weide treiben können. Russland versucht schon seit längerem, und auch vor dem Angriffskrieg, Mali zu destabilisieren. Bedauerlicherweise sehen wir in den letzten Wochen eine verstärkte Zusammenarbeit der malischen Militärregierung mit den Russen. Deswegen prüfen wir gerade mit unseren internationalen Partnern, ob wir an dieser Mission Dinge verändern müssen.
Frage: Welche Veränderungen wären das?
Außenministerin Annalena Baerbock: Zum einen stehen nach dem Abzug der Franzosen - die anders als wir bisher aktive Terrorbekämpfung betrieben haben - deren Kampfhubschrauber nicht mehr für Notlagen zur Verfügung. Und da von rund 50 deutschen Kampfhubschraubern derzeit nur wenige einsatzbereit sind, können wir die leider nicht selbst ersetzen. Unter Hochdruck konnte ich gemeinsam mit den Vereinten Nationen erreichen, dass jetzt andere Länder einspringen und Hubschrauber zur Verfügung stellen. Wir müssen schauen, ob das ausreicht und wie andere europäische Partner sich noch einbringen. Aber der Fall Mali zeigt, dass auch Außenpolitik zwei Seiten einer Medaille hat: Wir erwarten, dass afrikanische Staaten Putins Angriffskrieg klar verurteilen und damit zum Schutz des Friedens in Europa Farbe bekennen. Ebenso erwarten diese Länder aber dann auch von uns, dass wir einen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität in ihrer Region leisten. Davor können wir uns – und davor will ich mich – nicht wegducken.
Frage: Neben der Sorge vor russischer Aggression wächst in der Welt auch Unbehagen gegenüber chinesischen Machtdemonstrationen. Wie wird sich unser Verhältnis zu China verändern?
Außenministerin Annalena Baerbock: China hat sich in den letzten Jahren verändert, daher muss sich auch unser Umgang mit China verändern. China schottet sich zunehmend ab und schränkt Freiheitsrechte immer weiter ein, nicht nur mit Blick auf Hongkong. Ich höre vermehrt Klagen über unfaire Wettbewerbsmethoden und immer mehr Unternehmen überdenken ihr Chinageschäft – insbesondere aus dem Mittelstand. Wir sehen auch, wie China nach außen Grundregeln des friedlichen Zusammenlebens in Frage stellt, zum Beispiel mit Blick auf Taiwan oder im Südchinesischen Meer, oder auch durch Drohgebärden gegenüber kleinen Inselstaaten im Pazifik wie Palau. Davor dürfen wir in einer vernetzten Welt nicht die Augen verschließen.
Frage: Und was lernen wir daraus?
Außenministerin Annalena Baerbock: Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Der russische Angriffskrieg hat uns schmerzhaft deutlich gemacht, dass Handel nicht automatischen demokratischen Wandel mit sich bringt. Die Entwicklung in China in den letzten Jahren bestätigt das. Außerdem haben wir gelernt, dass wir uns von keinem Land mehr existenziell abhängig machen dürfen, das unsere Werte nicht teilt, weil wir sonst selbst erpressbar sind. China versucht sein Wirtschaftsmodell auch mit autokratischen Zügen durchzusetzen und auf das Recht des Stärkeren zu setzen, während wir auf fairen Wettbewerb und auf die Stärke des Rechts bauen. Deswegen arbeiten wir gerade als Bundesregierung an einer China-Strategie und stimmen uns hierbei eng mit unseren europäischen und internationalen Partnern ab. Natürlich können und wollen wir uns - trotz aller Systemrivalität und Wettbewerb - nicht von China entkoppeln und brauchen die Zusammenarbeit mit China beim Klimaschutz und anderen globalen Herausforderungen. Aber wir dürfen eben auch nicht naiv sein.
Interview: Johannes Leithäuser