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Europa muss lernen, weltpolitischer Akteur zu werden

22.02.2018 - Interview

Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit der Braunschweiger Zeitung. Themen: Deutschlands Rolle in der Welt und in Europa, deutsche Inhaftierte in der Türkei und der Einsatz für die Freilassung von Deniz Yücel, europäische Außenpolitik und Brexit, transatlantisches Verhältnis.

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Hat das [die gewachsene Bedeutung Deutschlands] mit dem Machtvakuum zu tun, das die USA hinterlassen?

Das auch. Deutschland steht für viele in der Welt für die Stärke des Rechts in den internationalen Beziehungen und nicht für das Recht des Stärkeren. Deutschland ist aber eben auch die größte Volkswirtschaft Europas. So wichtig und unverzichtbar Frankreich ist: Wenn Deutschland wackelt, bebt der Rest Europas. Deshalb fragen vor allem die europäischen Nachbarn nervös: Wann gibt es bei euch die nächste Regierung?

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Für ein starkes europäisches Tandem müsste Deutschland aber auch einen militärischen Beitrag leisten – zumal die Briten die EU verlassen.

Ja, wir wissen, dass wir die Bundeswehr besser ausstatten müssen. Trotzdem haben wir folgendes durchgesetzt: Jeder Euro mehr für die Bundeswehr bedeutet auch einen Euro mehr für humanitäre Hilfe und die Entwicklungshilfe. Das ist weltweit einmalig. Diese Mechanik ist das Gegenteil dessen, was US-Präsident Trump anstrebt. Endlich wird Sicherheit nicht mehr nur als militärische Sicherheit verstanden. Sondern der Kampf gegen Hunger, Armut und Not gehört auch dazu, damit Krieg, Bürgerkrieg und Terror nicht immer neuen Nährboden erhalten.

[…]

Warum sind Sie das Risiko [eines starken persönlichen Engagements für die Freilassung von Deniz Yücel] eingegangen? Sie hätten ja durchaus in Ihrem Amt beschädigt werden können, wie Sie gerade selbst sagten.

Man ist nicht Minister, um die Risiken für sich klein zu halten, sondern um die Risiken für andere zu beseitigen. Es ging darum, jemanden aus dem Gefängnis zu holen, weil er nach meiner Überzeugung dort unschuldig saß. Es ist übrigens der siebte Deutsche. Yücel war der schwierigste Fall. Aber es sitzen noch fünf Deutsche in türkischen Gefängnissen, um die wir uns genauso bemühen.

Sie haben den türkischen Präsidenten Erdogan in Rom und Istanbul getroffen, mit ihm über Yücel verhandelt. Wie liefen die Treffen ab?

Präsident Erdogan sagte vor einiger Zeit, dass der einzige Deutsche, der die Türkei versteht, Gerhard Schröder sei. Als ich das gelesen habe, habe ich Gerhard Schröder gefragt: Kannst du nicht mal hinfahren und versuchen, mit Erdogan zu reden? Das hat er in Abstimmung mit Kanzlerin Merkel gemacht. Daran schloss sich eine Einladung des türkischen Außenministers Cavusoglu an mich in seinen Wahlkreis an. Da haben wir in großer Offenheit über alles geredet. Ein erster Schritt waren Hafterleichterungen für Deniz Yücel, um die ich gebeten hatte. Ende des vergangenen Jahres kam es zu Verfahrensbeschleunigungen und auch zur Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und anderen.

Dann haben Sie Anfang des Jahres Cavusoglu nach Goslar eingeladen.

Ja, da war relativ schnell klar, dass wir uns weiter treffen müssen. Eines der Treffen war am Vorabend des Erdogan-Besuchs beim Papst in Rom. Wir haben über den Krieg in Syrien und den Militäreinsatz der Türken geredet. Dieser wird zu Recht mit großer Sorge betrachtet. Aber wir haben auch über Deniz Yücel geredet. Beim zweiten Treffen in Istanbul nur eine Woche später haben wir dann sehr genau über die Verfahrensschritte gesprochen, die von der türkischen Seite beschleunigt werden sollten. Das wollte ich schaffen. Es ist ein schönes Gefühl, wenn ein aufregendes Jahr als Außenminister so endet. Alles andere verliert dann an Bedeutung.

Trotzdem fragt unser Leser Hans-Herbert Holletzek aus Salzgitter: Wie kann Herr Gabriel einer Regierung ausdrücklich danken, die die Ursachen für Rechtsbeugung, Verfolgung und Gefangennahmen selber gesetzt hat?

Ich danke ihr dafür, dass sie ihr Versprechen eingehalten hat, erst Yücels Haftbedingungen zu verbessern und dann das Verfahren zu beschleunigen. Am Ende hat das zu der Gerichtsentscheidung geführt, die Deniz Yücel endlich die Freiheit ermöglichte. Ich glaube nicht, dass es den verbleibenden Inhaftierten hilft, wenn ich der türkischen Regierung nicht danke. Und um diese Häftlinge geht es jetzt. Nicht darum, ob wir uns hier auf die Schulter klopfen oder nicht.

Aber die Inhaftierung an sich ist doch nach unserem Verständnis rechtswidrig.

Das haben wir natürlich auch als wichtigstes Argument vorgetragen. Aber die türkische Regierung hat nicht mehr versprochen, als die Verfahren zu beschleunigen. Zum Fall selbst wollte sie sich nicht äußern. Dies sei Angelegenheit des Gerichts.

Und es gibt weiterhin viele politische Gefangene in der Türkei.

Ja. Und natürlich wollen und werden wir mit der türkischen Regierung auch über die Rechtsstaatlichkeit reden, die für uns in Europa einfach Standard sein muss. Die Meinungsverschiedenheiten sind ja nicht weg. Aber der Weg darüber zu reden, ist ein kleines bisschen leichter geworden.

Die Türkei verbindet mit der Yücel-Freilassung ganz konkrete Hoffnungen, was die Hilfe beim Bau von Kampfpanzern betrifft. Das hat Ministerpräsident Yildirim bei der Münchner Sicherheitskonferenz ganz offen zugegeben. Gab es einen Deal?

Nein, wie oft soll ich das noch öffentlich sagen?

Aber das schwingt in den Aussagen Yildirims doch deutlich mit.

Das tut es nicht. Der türkische Ministerpräsident hat erklärt, dass er die Hoffnung auf bessere Beziehungen mit Deutschland habe. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Diese Hoffnung haben wir ja umgekehrt auch. Aber es gab weder eine konkrete Forderung der Türkei im Fall von Deniz Yücel noch hätten wir irgendetwas angeboten oder auch nur anbieten können.

Sie selber haben in einem „Spiegel“-Interview im letzten Jahr noch gesagt, es gebe so lange keine Waffenexporte, wie Yücel in Haft sitzt.

Die Türkei ist ein Nato-Partner. Und daran knüpfen sich im Normalfall auch bestimmte Formen der Rüstungskooperation. Wir haben schließlich kein Interesse daran, dass sich die Türkei Waffen in Russland kauft. Dennoch haben wir gesagt, dass wir in einem Fall solch schwerer Auseinandersetzungen, wie es sie mit der Türkei gab, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Jetzt kommt der militärische Konflikt im Norden Syriens hinzu. Da können und dürfen wir nichts liefern.

Deutsche Waffen spielen im Konflikt aber eine dokumentierte Rolle.

Ja, weil eine Bundesregierung, der ich damals nicht angehörte, vor mehr als zehn Jahren einem Waffenexport zugestimmt hat. Und zwar scheinbar ohne Auflagen. Wenn ich mich richtig erinnere, geschah das mit Zustimmung eines grünen Außenministers.

Sie haben bei der Münchner Sicherheitskonferenz eine viel beachtete Rede gehalten, nun der Erfolg mit Deniz Yücel, Sie haben hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Solche Werte hatten Sie, da Sie zuweilen auch als schwierig gelten, noch nie. Nun haben Sie in München offenbar Ihre Abschiedsrede gehalten. Tut das weh?

Es war eine Rede zur Außenpolitik. Nicht mehr und nicht weniger. Dass alle Kommentatoren sie außerordentlich gelobt haben, ändert daran nichts.

Werden Sie dann einfacher Abgeordneter?

Ich bin Abgeordneter. Ansonsten beteilige ich mich nicht an den Personalspekulationen um künftige Regierungsämter. Wie gesagt: das findet sich schon.

Unser Leser Lars Schirmer bemerkt: Irgendein Unternehmen wird sich schon Gabriels erbarmen. Da kann er im Aufsichtsrat unterkriechen...

Dieser Vorhalt zeigt nur eines: den großen Verdacht, dass Politik immer ein schmutziges Geschäft ist, bei dem man für sein Verhalten hinterher in der Wirtschaft „belohnt“ wird. Weder ist Politik schmutzig noch wird man in der Wirtschaft belohnt. Und warum sollen Menschen aus der Wirtschaft eigentlich nicht in die Politik gehen können und umgekehrt? Aber nicht als Mauschelei, sondern wenn sie gut sind und in ihren Aufgabenfeldern anständig arbeiten.

Sie sind jetzt 58. Da muss doch noch etwas kommen. Horst Seehofer will mit 68 noch einmal Bundesinnenminister werden.

Das kann er gerne machen. Ich werde das in 10 Jahren ganz gewiss nicht mehr tun. Aber das muss jeder selbst wissen.

Da Sie gerade Kaffee für uns eingießen: Was hat das Foto in der Türkei ausgelöst, auf dem zu sehen ist, wie Sie dem türkischen Amtskollegen Cavusoglu vor wenigen Wochen in Ihrem Wintergarten in Goslar Tee eingeschenkt haben?

Das hatte eine riesige, positive Resonanz in der Türkei. Offenbar weil das dort eine Überraschung war, dass ich eine türkische Teekanne besitze und weiß, wie man türkischen Tee kocht.

Ist der Erfolg mit Yücel auch deshalb gelungen, weil Sie die türkischen Befindlichkeiten besser als andere erkannt haben?

Es ist kein Geheimnis, dass ich mal mit einer Türkin verheiratet war, manches dort kennen gelernt und deshalb viel Sympathie für die Menschen in der Türkei habe. Die Diplomatie ist auch im digitalen Zeitalter wichtig. Sie müssen sich in die Schuhe des anderen stellen, müssen verstehen, wie der andere denkt, fühlt, wie er tickt. Das heißt nicht, dass Sie dessen Interessen akzeptieren, aber Sie müssen sie verstehen. Die Diplomatie kennt nur das Mittel des Gesprächs.

In Ihrer Rede in München haben Sie ein Plädoyer für den Kampf um die Freiheit gehalten. Arbeiten die demokratischen Länder dieser Welt nicht gut genug zusammen?

Das ist so. Die große neue Auseinandersetzung ist wieder die zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen. Die Regime empfinden sich selbst als erfolgreicher und sehen sich auf dem Vormarsch. Die USA vertritt die Auffassung, dass die internationale Arena eine Kampfbahn ist, auf der sich der Stärkere durchsetzt. Das ist eine massive Schwächung der Idee des Westens, denn dazu gehört ja gerade die Stärke des Rechts. Wenn die Vereinigten Staaten die westliche Gemeinschaft verlassen würden, sollten sie nicht glauben, dass der Raum leerbleibt. Der Rückzug der Amerikaner in Syrien hat Russland und den Iran auf den Plan gerufen. China ist ein Land mit einer gewaltigen geostrategischen Idee. Wir im Westen haben keine Antwort. Wir ringen um die Amerikaner, aber Europa ist nicht der Gefolgschaftsverband der USA.

Soll Deutschland zukünftig neben seiner Wirtschaftskraft auch militärisch mehr Verantwortung übernehmen?

Europa muss etwas lernen: Es ist historisch nach innen gerichtet, um Frieden zu sichern und Wohlstand zu schaffen. Europa war nie ein weltpolitischer Akteur. Das haben wir den Franzosen, den Briten und vor allem den Amerikanern überlassen. Das wird so aber nicht weitergehen. Wir werden uns einmischen müssen. Das heißt aber nicht, dass wir alles auf das Militärische konzentrieren. Wir müssen uns auch in der Krisenprävention, in der humanitären Hilfe, beim Aufbau von Polizei und Justiz stärker engagieren.

Welche Rolle soll Europa in Syrien spielen? Hier gibt es einen Konflikt zwischen den Amerikanern, die die Kurden unterstützen, und den Türken, die dies missbilligen. Die beiden sind immerhin Nato-Partner.

Wir wollen dazu beitragen, dass die USA und die Türkei einen gemeinsamen Nenner finden. Aber die gesamte Gemengelage ist ausgesprochen vielschichtig. Die Kurdenmiliz YPG, die sich erfolgreich am Kampf gegen den IS beteiligt hat, knüpft jetzt möglicherweise Verbindungen zum syrischen Machthaber Assad. Die Türken wiederum sorgen sich vor einem umfassenden kurdischen Gebiet unter Kontrolle der YPG, die für sie nichts anderes ist als der syrische Arm der PKK, die übrigens in Europa und auch hier in Deutschland verboten ist. Wir sehen einen mörderischen Konflikt um Macht und Einfluss in Syrien, gerade auch nach dem Niedergang des IS, und - das ist das Schlimme: welch unfassbares Leid der Zivilbevölkerung dabei angetan wird.

Zur Wahrheit gehört aber auch: wir Europäer spielen in diesem Ringen praktisch keine Rolle. Wir versuchen zu helfen über das Rote Kreuz, den Roten Halbmond und die Vereinten Nationen. Aber auf die militärische Machtarchitektur haben wir kaum Einfluss.

Was kann Europa denn tun?

Wir müssen alles unterstützen, was den Prozess der Demokratisierung und der Verfassungsgebung in Syrien voranbringt. Nur die Verhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen in Genf können eine Lösung bringen. Das Problem aber ist, dass in der Zwischenzeit weiter Menschen sterben. Die Gespräche zwischen den Amerikanern und den Türken müssen zu einer Beruhigung der Lage führen. Nicht nur, weil zwei Nato-Partner sich womöglich im Feld gegenüber stehen, sondern weil es Menschen gibt, die unfassbar leiden.

Die Briten sehen sich traditionell als Verbindungsstück der Europäer zur USA. Damit das auch nach dem Brexit so bleibt, stellt Premierministerin May robuste Forderungen an die EU. Ist die EU erpressbar?

Ganz im Gegenteil. Die britische Regierung merkt inzwischen, dass es nicht einfach ist, den Bürgern die Nachteile zu erklären, die der Brexit mit sich bringt. Jetzt stellen die Briten Forderungen an die EU, um diese Nachteile auszugleichen. Unsere Antwort ist: Wir haben den Brexit nicht gewollt. Wenn ihr das aber wollt, müsst ihr auch bereit sein, euren Bürgerinnen und Bürgern die Konsequenzen zu erklären. Mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik bin ich trotzdem dafür, die Briten möglichst nahe an der EU zu halten. Denn wir werden auch weiterhin für die gleichen Werte einstehen.

Die Niederländer sagen, eine kleinere EU braucht keinen so großen Etat mehr. Wie sehen Sie das?

Dann muss man auch sagen, welche Aufgaben wir nicht mehr wahrnehmen wollen. Wir können nicht einerseits sagen, dass wir unsere Verteidigungsfähigkeit und die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika stärken wollen, mehr für Forschung und Entwicklung und die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa machen wollen und andererseits den Haushalt deckeln.

Weil es jeder für sich macht.

Vieles können wir nicht alleine als Nationalstaaten. China hat die Absicht, 2025 die zehn weltweit führenden Technologie-Unternehmen zu stellen. Wenn wir jetzt nicht investieren, werden wir uns in die gute alte Zeit zurücksehnen, als wir von vier, fünf kalifornischen Unternehmen abhängig waren. Die EU wird durch Abwarten nicht stärker werden.

US-Präsident Trump hat gefordert, dass die Europäer ihren Verteidigungsetat verdoppeln sollen. Was halten Sie davon?

Das wären 70 Milliarden Euro alleine in Deutschland – eine irre Summe. Als Vergleich: Frankreich ist Atommacht und gibt jährlich „nur“ 40 Milliarden Euro aus. Wenn wir unsere Netto-Ausgaben als Deutsche für die EU verdoppeln würden, lägen wir gerade bei 26 Milliarden Euro. Wir sichern den Frieden aber eher, indem wir Europa stärken, statt den Rüstungsetat explodieren zu lassen.

[…]

Interview: André Dolle und Armin Maus.

www.braunschweiger-zeitung.de

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