Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Rede von Außenminister Sigmar Gabriel zur Ausstellungseröffnung „Eine deutliche Spur“ , VW Forum
Lieber Herr Müller,
lieber Herr Osterloh,
lieber Herr Turski. Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind, schon zum wiederholten Male, und uns Gelegenheit gegeben haben, Bewegendes zu hören.
Vor allem liebe Auszubildende, denn um Sie geht es ja eigentlich. Wenn man die Frage nach der richtigen Reihenfolge der Begrüßung stellt, müsste man eigentlich mit Ihnen anfangen.
Das was Marian Turski erzählt hat, zeigt, wie wichtig Zeitzeugen sind.
Obwohl sie das Schlimme und das Bittere und das Unaussprechliche kaum fassen können, können Menschen ergreifend über Auschwitz sprechen. Ich zitiere mal jemanden:
„In Auschwitz fühlt man sich wie in einer anderen Welt. Fremd, unbeteiligt, bedrückt. Doch hier habe ich so intensiv wie noch nie zuvor gespürt, dass ich ein Mensch bin. Das alles war eine der wertvollsten Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe und ich werde wohl mehr als einmal nach Oswiecim zurückkehren und mich damit beschäftigen, was hier geschehen ist.“
Diese Sätze stammen von Ihnen, von einer Auszubildenden, nämlich von Laura.
Eine von mittlerweile etwa 3.000 Jugendlichen, die an dem Jugendbegegnungsprojekt in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau teilgenommen haben.
Dass es ein solches Projekt gibt, und dass es fester Bestandteil bei Volkswagen geworden ist, finde ich außerordentlich bemerkenswert.
Denn man darf nicht vergessen, das Unternehmen ist mit der NS-Zeit, der Zwangsarbeit in seiner Entstehungsgeschichte verbunden. Volkswagen war eines der ersten großen Unternehmen, das sich seiner eigenen Geschichte gestellt hat. Zu einer Zeit, als das keinesfalls selbstverständlich war und in der es schwierig war, sich konfrontieren zu lassen bis hinein in die persönliche Familiengeschichte von Mitarbeitern, vom damaligen Vorstandsvorsitzenden. Keine einfache Entscheidung.
Als eine der vielen Konsequenzen, die man aus der Unternehmensgeschichte ziehen kann, dieses Projekt zu machen, ist schon bemerkenswert. Ich finde, dafür können wir denen, die den Mut dafür hatten, herzlich danken. Denn es ist etwas, was wirklich beispielgebend ist für den Umgang von Unternehmen mit der NS-Zeit. Für Menschen, die dorthin gefahren sind, ist es einer der wahrscheinlich bewegendsten Momente, sich damit auseinanderzusetzen.
Der 30. Geburtstag des Projekts ist etwas ganz besonderes. Ich kann mich noch an das erste Mal erinnern, lieber Christoph, als ich dort war. Ich glaube, wir waren sogar die erste Gruppe, die die Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz eingeweiht haben.
Wir sind damals, lieber Marian Turski, mit einem Häftling zusammen gefahren. Kurt Scholz war einer der sogenannten reichsdeutschen Häftlinge, die nicht in Birkenau, sondern im Stammlager waren. Es gab ja auch unter den Häftlingen noch verschiedene Kategorien. Jedenfalls hat uns Kurt Scholz dort geführt und ich kann mich noch erinnern - er war mit uns zusammen das erste Mal wieder in Auschwitz - wie erschüttert er war.
Ich weiß nicht, wie ihr das heute macht, aber damals hat man immer einen halben Tag in der Gedenkstätte gearbeitet, etwa Rasen gemäht, und einen halben Tag im Archiv gearbeitet, Spurensuche. Ich erinnere mich noch, als er auf einmal die Karte fand, die bei seiner Einlieferung erstellt wurde. Mit den berühmten Häftlingsfotos, von vorne und von beiden Seiten. Auch vermerkt waren seine damaligen Strafen. Er war dort in Haft gekommen, weil er bei den Sozialdemokraten war. Er hat uns überall hin geführt, nur in ein Gebäude wollte er nicht gehen: in den Block C. Er sagte, wer da reinging, der kam lebend nicht mehr raus. Er sagte, da musste ich damals nicht rein, da will ich auch heute nicht rein.
Eigentlich haben wir erst mit den Auschwitzprozessen Anfang der 60er Jahre mit der Konfrontation mit Auschwitz begonnen. Letztes Jahr sind zwei Filme über Fritz Bauer herausgekommen. Der Generalstaatsanwalt in Hessen, der gegen die Widerstände der alten NS-Juristen, die alle noch in der Staatsanwaltschaft saßen, damals die Prozesse durchgeführt hat. Und der sich übrigens nicht traute, den deutschen Behörden zu sagen, dass er durch einen Kontakt in Argentinien wusste, wo Eichmann ist, weil er Sorge hatte, dass Eichmann gewarnt würde. Das zeigt, wie schwierig es in unserem Land gewesen ist. Es bedurfte der Studentenbewegung und einer neuen Generation von Lehrerinnen und Lehrern, die unbelastet waren, die sich damit auseinandergesetzt haben.
Für die Zeitzeugen, für die Opfer, wird es auch schlimm gewesen sein, zu sehen, wie sehr das Leid verschwiegen und die Schuld weggedrückt wurde. Deshalb ist das, was wir heute machen, so wichtig.
Wir werden uns diesen Fragen erneut stellen müssen, wenn es weniger Zeitzeugen werden, die wir befragen können. Außerdem entwickelt sich unsere Gesellschaft so, dass wir auf einmal Fragen bekommen, die wir früher nicht kannten. Zum Beispiel von jungen muslimischen Einwanderern, was sie eigentlich mit Auschwitz zu tun haben. Und warum sie eigentlich im Schulunterricht etwas darüber lernen müssen, das seien doch schließlich wir gewesen, unsere Eltern, und nicht sie.
Manche von ihnen kommen aus Ländern, in denen man den Antisemitismus mit der Muttermilch beigebracht bekommt. Wie bringen wir ihnen bei, dass Deutschland nicht irgendein Land ist, sondern eines mit einer besonders schwierigen Geschichte. Und dass, wer in diesem Land lebt, sich zu dieser Geschichte bekennen muss und vor allen Dingen etwas dafür tun muss, damit sie sich nicht wiederholt.
Die Beschäftigung mit Auschwitz als Synonym für das, was Menschen Menschen antun können, ist, glaube ich, nach wie vor aktuell.
Eine Bitte habe ich allerdings an Volkswagen. Dazu möchte ich eine Geschichte erzählen. In diesem Zusammenhang herzlich Willkommen an den polnischen Botschafter hier in Deutschland, der heute auch anwesend ist. Mit einem seiner Vorgänger habe ich diese Geschichte erlebt, damals war er noch Journalist, Janusz Reiter, der Deutschland gut kennt, und der damals mit der Solidarnosz gegen das kommunistische Regime gekämpft hat. Er kam zu dieser ersten Reisegruppe nach Auschwitz, beobachtete uns und irgendwann fragte er mich: „Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich, wo Sie hier sind?“ Und wir antworteten „Naja, in Auschwitz“ – „Aber wissen Sie eigentlich, dass das in Polen liegt?“ . Was er damit meinte war, dass wir, wenn wir heute nach Auschwitz fahren, nicht vergessen dürfen, dass es in Polen liegt. Neben der Verantwortung für die Geschichte haben wir auch eine Verantwortung für unser Verhältnis zum heutigen Polen, auch dann, wenn es schwierig ist. Es ist übrigens kein Wunder, dass die großen Vernichtungslager alle in Polen liegen. Der Befehl Hitlers war die Ausrottung der gesamten polnischen Kultur. Wer heute in die Altstadt Warschaus fährt, wird eine mittelalterliche Altstadt dort finden, die aber nur 40-50 Jahre alt ist. Weil Warschau nicht zerstört wurde durch Krieg, sondern durch gezielte Zerstörung der Gebäude, da man die polnische Kultur beseitigen wollte.
Ich habe damals unsere Reisegruppentermine verändert, und wir haben ein Drittel der Zeit in der Gedenkstätte verbracht und die restliche Zeit in irgendeiner polnischen Stadt. Mal in Posen, wo VW ist, aber auch an der Grenze zu Russland, in Ostpolen, natürlich in Breslau. Gerade jetzt, wo das deutsch-polnische Verhältnis schwierig ist, ist es wichtig, auf die Polen zuzugehen, sich auszutauschen, zu versuchen, sich zu erklären, warum der andere so ist, wie er ist.
In der Hoffnung, damit auch erreichen zu können, dass ein gutes Verständnis wächst. Das beginnt damit, dass man versucht, bei dem anderen zu verstehen, warum er so ist, wie er ist, und so denkt wie er denkt. Nicht übrigens, weil man gleich sagen will „Ja, du hast Recht“, sondern einfach nur, um zu verstehen, warum der so ist. Um zu sehen, wie man sich näher kommen kann.
Das ist auch ein Auftrag aus der Geschichte des 2. Weltkrieges. Es ist unsere Verantwortung, zu verhindern, dass das erneut passiert, dadurch dass man mit Menschen redet, in unseren Nachbarländern. Deswegen vielen herzlichen Dank an alle, die aktiv waren, in den letzten 30 Jahren, vielen Dank an das Unternehmen VW, das sich in vorbildlicher Weise eben nicht nur einmal zur Aufarbeitung seiner Geschichte, sondern jedes Jahr engagiert.
Es ist ein Symbol dafür, dass Laura Recht hat, sie hat nämlich gesagt. „es hängt auch von mir ab, ob es gut wird, besser oder schlechter“. Und ich finde, das ist die beste Lehre, die man aus der Entwicklung der deutschen Geschichte und dem, was dort passiert ist, ziehen kann.
Am Ende bleibt, lieber Marian Turski, der Dank. An Dich, an Sie, an alle, die uns ein großes Geschenk gemacht haben. Denn das muss man sich mal vorstellen: da kommt jemand und lässt sich auszeichnen.
Da gibt es einen israelischen Staatspräsidenten, Shimon Peres, der das Land vertritt, dessen Bevölkerung wir um mindestens 6 Millionen Menschen verringert haben durch industriellen Massenmord. Er kommt in den Deutschen Bundestag und spricht nicht von Versöhnung oder Partnerschaft, sondern fordert uns auf zur Liebe. Das ist nun mehr als Verständigung und Partnerschaft. Uns zur gegenseitigen Liebe aufzufordern, als Botschaft von den Vertretern des Volkes, die Opfer waren, an das Volk der Täter. Was für ein Geschenk. Was für ein Geschenk an uns Deutsche, zurückzukehren in die Welt der zivilisierten Völker, durch die Europäische Union, durch die Aussöhnung mit Polen, Israel, Russland.
Ein Beispiel dafür, dass aus erbitterter Feindschaft Partnerschaft, dann Freundschaft, und wir Shimon Peres meinte, sogar Liebe werden kann.
Unsere „mad world“ hat solche Beispiele bitter nötig. Aus den finstersten Stunden, aus tiefem Leid kann etwas Neues entstehen, das in der Zukunft dafür sorgt, dass ein besseres Leben möglich ist. Und Laura hat Recht: es hängt von jedem von uns ab.