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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der 132. Sitzung des Ministerkomitees des Europarats in Turin

20.05.2022 - Rede

Vor einigen Tagen habe ich eine der beeindruckendsten Kirchen besucht, die ich je gesehen habe. Sie hatte kein ausgefallenes Inneres, keinen Glitzer, kein Gold.
Stattdessen stand ich in einem hellen, sonnendurchfluteten, modernen Raum. Es hätte einer der friedlichsten Orte auf der Welt sein können.

Wären da nicht die hinter mir aufgestellten Fotos gewesen – Fotos der schlimmsten Gräueltaten, die man sich vorstellen kann. Fotos, die um die Welt gegangen sind – wie das von einem Mann, der auf offener Straße erschossen wurde. Neben ihm eine Tüte Kartoffeln, die er getragen hatte.

Sie können sich denken, dass es hier nicht um irgendeine Kirche geht. Es geht um die Kirche mitten in Butscha. Butscha ist zu einem Symbol für Russlands brutalen Krieg gegen die Ukraine geworden - ein Krieg, der mit unserer europäischen Friedensordnung bricht.

Die Friedensordnung, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam in Europa geschaffen haben und zu deren zentralen Säulen der Europarat gehört.

Eine Säule zur Wahrung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Eine Säule, die hinfällig wäre, wenn wir tolerieren würden, dass ein Land gegen unsere grundlegenden europäischen Werte Krieg führt.

Deshalb standen wir geeint hinter dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat.

Deshalb müssen wir auch gemeinsam die politischen und finanziellen Konsequenzen dieses Ausschlusses tragen, indem wir die Lücken in unserem Haushalt schließen. Dadurch senden wir eine klare Botschaft der Solidarität und stellen sicher, dass der Europarat seine Aufgaben erfüllen kann. Aber es ist mehr als Geld erforderlich, damit der Europarat während dieser Zeitenwende stark bleibt.

Wir müssen auch die Funktionsfähigkeit unserer Organisation verbessern und uns gleichzeitig auf ihre Kernzuständigkeiten konzentrieren, so wie es der Generalsekretär eben gesagt hat.

Aus diesem Grund unterstützen wir die Einrichtung eines „Weisenrats“, der Vorschläge für eine strategische Neuausrichtung des Europarats erarbeiten soll – ein Rat, der hinsichtlich Geschlecht und regionaler Herkunft, aber auch in seiner Altersstruktur ausgewogen besetzt wird. Aber neben diesen langfristigen Strukturreformen müssen wir schon jetzt unsere gemeinsamen Werte stärken.

In dieser Hinsicht sind vier Aspekte entscheidend:
Erstens sollten wir, auch wenn Russland kein Mitglied des Europarates mehr ist, Wege und Mittel suchen, um mit der Zivilgesellschaft in Russland zusammenzuarbeiten - so wie wir das auch in Belarus getan haben, obwohl es kein Mitglied ist. Wir dürfen die Bevölkerung dieser Länder nicht für die Handlungen ihrer Regierungen bestrafen.

Zweitens ist es von entscheidender Bedeutung, unsere Zusammenarbeit mit jenen Ländern zu verstärken, die Russland zu destabilisieren versucht, wie Moldau, Georgien und auch die westlichen Balkanstaaten. Mein Besuch im westlichen Balkan hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, unsere Zusammenarbeit mit diesen Staaten jetzt zu verstärken. Daher möchte ich an unsere Partner in Kosovo eine klare Botschaft richten: Wir unterstützen euren Wunsch uneingeschränkt, Mitglied der Familie des Europarats zu werden. Natürlich ist auch klar, dass bei einem so bedeutsamen Schritt das übliche Verfahren gelten muss.

Drittens ist es unser gemeinsames Verständnis, dass niemand in Europa aus politischen Gründen ins Gefängnis kommen sollte. Jeder Mensch hat das Recht auf ein faires Verfahren. Daher müssen entschlossen handeln, wenn ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht einhält.
Wenn es nötig ist, kann dies auch in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens geschehen – so wie im Fall von Osman Kavala.

Viertens gibt es einen Maßstab, an dem der Zustand freiheitlicher Demokratien gemessen werden kann: Die Rechte von Frauen. Denn wenn die halbe Gesellschaft nicht vertreten ist oder nicht in gleicher Weise bezahlt wird, läuft etwas falsch. Oft beginnt die Einschränkung von Frauenrechten damit, die Augen vor zunehmender Gewalt gegen Frauen zu verschließen. Daher rufe ich alle Mitgliedstaaten auf, die Istanbul-Konvention zügig zu ratifizieren.

In einer Zeit, in der unsere europäischen Werte angegriffen werden, müssen wir unsere Kräfte bündeln und sie umso entschlossener verteidigen. Der Europarat ist hierfür eine zentrale Säule.

Es ist an uns zu gewährleisten, dass er seine Arbeit tun kann.
Vielen Dank!

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