Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
„Nicht wieder Schlagbäume an Rhein und Oder“
Interview von Außenministerin Annalena Baerbock mit der FUNKE-Mediengruppe
Frage: Gelingt der EU ein Asylkompromiss, der Deutschland spürbar entlastet?
Außenministerin Baerbock: Dass wir in der EU seit Jahren keine funktionierende gemeinsame Asylpolitik haben, ist Europas offene Wunde. Menschen sterben im Mittelmeer, Familien, die vor den Taliban geflohen sind, harren in prekären Lagern aus, Europa macht sich erpressbar gegenüber Ländern wie der Türkei. Zugleich sind die Kommunen in Deutschland wegen des russischen Angriffskriegs und der vielen Geflüchteten aus der Ukraine an der Belastungsgrenze. Jetzt gibt es zum ersten Mal seit 2015 einen Kompromissvorschlag der EU-Kommission, der eine echte Chance hat, die sehr unterschiedlichen Anliegen in der EU zusammenzubringen: die der Mittelmeerstaaten, wo die meisten Flüchtlinge ankommen; die von Staaten wie Deutschland, die jetzt schon viele Menschen aufnehmen, und die der Länder, von denen wir mehr Solidarität fordern. Dazu gehören drei Elemente: Alle Flüchtlinge werden an der Grenze registriert. Alle EU-Staaten verpflichten sich auf einen verbindlichen Solidaritätsmechanismus. Und es werden nur Flüchtlinge verteilt, die auch eine Bleibeperspektive in Europa haben.
Frage: Wie sollen die Flüchtlinge in Europa verteilt werden? Sind Sie für verbindliche Aufnahmequoten?
Außenministerin Baerbock: Entscheidend ist, dass wir zu einer solidarischen Verteilung kommen. Wir haben in den letzten Jahren erleben müssen, dass unzählige Anläufe dafür gescheitert sind. Der neue Vorschlag der EU-Kommission ist kompliziert, hat aber auch viele an den Tisch geholt, die bisher blockiert haben. Danach legt die Kommission jährlich fest, wie viele Menschen umverteilt werden müssen, und alle Mitgliedstaaten sagen fest zu, wie viele sie bereit sind aufzunehmen. Wer weniger Geflüchtete aufnimmt, muss sich anders beteiligen, etwa mit Ausgleichszahlungen an die besonders belasteten Staaten.
Frage: Wie denken Sie über Asylverfahren schon an den europäischen Außengrenzen?
Außenministerin Baerbock: Fluch und Chance zugleich. Grenzverfahren sind hochproblematisch, weil sie in Freiheitsrechte eingreifen. Aber der Kommissionsvorschlag ist die einzige realistischer Chance in einer EU von 27 sehr unterschiedlichen Mitgliedsstaaten auf absehbare Zeit überhaupt zu einem geordneten und humanen Verteilungsverfahren zu kommen. Das heißt, dass wir den Großteil der Menschen, die vor Krieg und Folter geflohen sind, nicht mehr über Jahre an der Außengrenze alleine lassen, sondern ihnen eine Perspektive geben. Deshalb verhandeln wir in Brüssel hart, um sicherzustellen, dass niemand länger als einige Wochen im Grenzverfahren stecken bleibt, dass Familien mit Kindern nicht ins Grenzverfahren kommen, dass das Recht auf Asyl im Kern nicht ausgehöhlt wird.
Frage: Zieht die grüne Partei da mit?
Außenministerin Baerbock: Das hängt davon ab, ob unsere europäischen Menschenrechtsstandards gewahrt werden. Der Grat ist sehr schmal. Daher sind kritische Fragen aus den Parteien, von Nichtregierungsorganisationen oder Kirchen wichtig. Aber auch ein Nichthandeln hätte bittere Konsequenzen. Meine Richtschnur ist immer: trage ich mit meinem Handeln dazu bei, dass die Situation der Menschen besser wird, wenn auch nur einen Millimeter? Und zwar in der Realität und nicht auf dem Papier. Heute haben wir nämlich in der Theorie schöne Regeln, an die sich nur leider keiner hält. Ohne eine gemeinsame europäische Antwort geht der Trend schon jetzt überall zu mehr Abschottung, mehr Pushbacks, mehr Zäunen. Und ohne Ordnung an den Außengrenzen ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein EU-Land nach dem anderen wieder über Binnengrenzkontrollen redet. Als Herzenseuropäerin will ich nicht, dass an Rhein und Oder wieder Schlagbäume hochgezogen werden.
Frage: Schiebt Deutschland abgelehnte Asylbewerber konsequent genug ab?
Außenministerin Baerbock: Zunächst einmal gilt: Jeder Mensch hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Staaten sind verpflichtet, diesen sorgfältig zu prüfen. Und zugleich: Wer dann und nach Ausschöpfung aller Rechtsschutzmöglichkeiten kein Aufenthaltsrecht bekommt und bei dem keine Abschiebehindernisse entgegenstehen, kann auch nicht bleiben. Genau dafür sind schnelle, geordnete und humane Verfahren wichtig. Denn eine monatelange Nichtbearbeitung von Anträgen überfordert die Kommunen, und zugleich ist es eine große Belastung für die Betroffenen, monate- oder jahrelang in Ungewissheit zu leben.
Frage: Bleiben Abschiebungen nach Afghanistan oder Syrien ausgeschlossen?
Außenministerin Baerbock: Mit der Schreckensherrschaft der Taliban ist Afghanistan in die Steinzeit zurückgefallen. Frauen sind zu Hause eingesperrt, Folter und Verfolgung an der Tagesordnung. Aus gutem Grund schieben wir daher nach Afghanistan nicht ab. In Syrien herrscht weiter der brutale Diktator Assad.
Frage: Wie stehen Sie zu Forderungen aus Ihrer Partei, die Asylgründe auszuweiten - und auch Klimaflüchtlinge aufzunehmen?
Außenministerin Baerbock: Wir setzen uns schon jetzt überall auf der Welt für Klimaflüchtlinge ein. Denn mehr Menschen fliehen vor Stürmen, Dürren, Verwüstung als vor Kriegen und Konflikten, insbesondere innerhalb des eigenen Landes oder in ein Nachbarland. Mit unserer Klimaaußenpolitik unterstützen wir gerade auch in solchen Situationen finanziell. Das hilft mehr als die Öffnung der Genfer Flüchtlingskonvention, was in Zeiten eines massiven Rechtsrucks nämlich ihr Ende bedeuten würde. Genauso diskutieren wir das auch innerhalb meiner Partei.
Frage: Die Grünen sind in den Umfragen abgestürzt. Woran liegt‘s?
Außenministerin Baerbock: Für die Koalition als Ganzes ging es in den Umfragen in den letzten Monaten rauf und runter. Wenn der Eindruck entsteht, die Regierung beschäftigt sich vor allem mit sich selbst, schadet das allen. Da wo wir auf die massiven Krisen unserer Zeit gemeinsame Antworten geben, wie bei der Lösung der Gaskrise oder der Unterstützung der Ukraine, schaffen wir Vertrauen. Und genau darum geht es in der Politik.
Frage: Können Sie die Verärgerung vieler Menschen über das Heizungsgesetz von Robert Habeck verstehen?
Außenministerin Baerbock: Mir – und Robert Habeck noch viel mehr – ist mehr als klar, wie viele Fragen und Verunsicherung es beim Heizungsgesetz gibt, weil Menschen in Deutschland ganz unterschiedlich wohnen und damit auch heizen. Was ich jedoch überhaupt nicht verstehen kann, ist, dass ausgerechnet diejenigen, die noch vor kurzem gar nicht genug von russischem Gas bekommen konnten und die Energiewende verschlafen haben, sich heute für die größten Heizungsexperten halten. Erst recht, weil einige Nachbarländer uns ja gezeigt haben, dass das Ziel des Gesetzes - nämlich klimaneutral zu heizen – längst machbar ist. In Österreich und Frankreich ist das bereits Gesetz, in Schweden und Dänemark seit vielen Jahren Realität.
Frage: In der Politik könne man nicht mit dem Kopf durch die Wand, mahnt der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. „Bei einem komplexen Gefüge wie den Heizungen mit Verboten vorzugehen, ist ein Ritt auf der Rasierklinge.“ Stimmen Sie zu?
Außenministerin Baerbock: Absolut. Daher haben Robert Habeck und Klara Geywitz von Anfang klargemacht, dass so ein komplexes Projekt - wie seinerzeit auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz - immer wieder nachjustiert werden muss.
Frage: Sie kennen schwierige politische Situationen. Welchen Rat haben Sie für Habeck?
Außenministerin Baerbock: Robert braucht meinen Rat nicht, und erst recht hat er hat keinerlei Grund, in Sack und Asche zu gehen. Als Putin uns den Gashahn zugedreht hat, hat er uns als Vizekanzler und Wirtschaftsminister gegen alle Widrigkeiten durch einen extrem schwierigen Winter gebracht. Aber ich weiß mehr als genau: Bei Gegenwind, erst recht bei fiesem, ist es wichtig, dass man zusammensteht. Und das tun Robert und ich.
Frage: Fühlen Sie sich beim Klimaschutz von Kanzler Scholz ausreichend unterstützt?
Außenministerin Baerbock: Als Grüne werden wir beim Klimaschutz immer etwas ungeduldiger sein als unsere Koalitionspartner. Das ist OK. Entscheidend ist, dass alle zu ihrem Wort stehen.