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Auftaktrede von Außenministerin Baerbock für die Podiumsdiskussion „Europa leben, Europa stärken“ beim Forum Europäischer Städte „Ambivalenzen der Transformation –Wie wachsen Menschen und Gesellschaften an Veränderungen und Brüchen?“

09.05.2022 - Rede
BMin Baerbock in Frankfurt Oder
Annalena Baerbock (Buendnis 90/Die Gruenen), Bundesaussenministerin, mit den Oberbuergermeistern von Frankfurt/Oder und Slubice sowie der Praesidentin der Viadrina Universitaet in Frankfurt/Oder.© Thomas Koehler/photothek.de

Es gibt am Europatag keinen besseren Ort, als in einer Doppelstadt zu sein, als an einer europäischen Universität zu sein – und das mitten im Herzen Europas.

Vor 18 Jahren habe ich nur ein paar Schritte von hier – genau wie sehr viele Menschen in diesen beiden Städten, in dieser wunderbaren Doppelstadt – einen ganz besonderen Moment erlebt. Am Vorabend des 1. Mai 2004 standen wir gemeinsam mit hunderten Menschen auf der Oderbrücke und lauschten gemeinsam unserer europäischen Hymne, der Europahymne. Es war ein ähnlich schöner Tag wie heute – oder vielmehr eine Nacht, mit Sternenhimmel, oben Feuerwerk und gemeinsam Europäerinnen und Europäer auf der Brücke – als sich in diesem Moment Europa im Herzen wiedervereinte. Der damalige deutsche Außenminister und der polnische Außenminister reichten sich über die Grenze hinweg die Hände. Wir feierten in dieser Nacht den Beitritt von acht mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union.

Für uns alle war das kein Moment eines abstrakten Vertragswerkes von Paragrafen, sondern ein Moment der tiefen Freundschaft. Er besiegelte das Ende der Teilung unseres Kontinents. Und vor allen Dingen schuf er wieder etwas Gemeinsames und auch etwas Neues, ein gemeinsames Europa des Friedens, der Freiheit und der Demokratie.

Damals, mitten in diesem Feuerwerk, wo viele Menschen feierten, spürte man so ein bisschen, aber noch nicht ganz richtig, was es für ein Privileg ist, in einem solchen Europa leben zu können. Ich musste damals an meinen Großvater denken und an das, was er genau an diesem Ort, damals über 60 Jahre zuvor, erlebt hatte. Im Januar 1945 kam er von Osten her in das heutige Słubice und dann nach Frankfurt (Oder). Auf dem Rückzug als geschlagener Soldat eines Landes, das in einem grausamen Vernichtungskrieg unfassbares Leid über Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa gebracht hatte. Mein Großvater hat mir und seinen vielen Enkelinnen, vor allem Enkelinnen, kurz vor seinem Tod ein kurzes Buch, das er über sein Leben geschrieben hatte, hinterlassen. Darin stand: „Ihr könnt nicht erahnen, was ich damals gefühlt und was mich damals zerrissen hat. Aber ich kann euch eins mitgeben: Was ihr für ein unglaubliches Glück habt, keinen Krieg erleben zu müssen.“

Und ja, das stimmt. Es ist ein unglaubliches Glück, dass unsere Generation in Frieden aufwachsen konnte. Aber es ist eben nicht nur ein Glück, sondern es ist eine Pflicht und eine Verantwortung meiner Generation, dieses Privileg eines friedlichen, freien und demokratischen Europa zu bewahren und vor allen Dingen zu verteidigen – für unsere Kinder und unsere Enkelkinder.

Gleichzeitig sage ich offen: Damals auf der Oderbrücke – und selbst bei meinem Amtsantritt vor einigen Monaten als Außenministerin – hätte ich niemals gedacht, wie ernst diese Pflicht einmal werden könnte.

Am 24. Februar hat der russische Präsident mit Europas Frieden auf brutale Art und Weise gebrochen. Die Konferenz heute beschäftigt sich mit gesellschaftlichen und politischen Brüchen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine markiert einen solchen furchtbaren Bruch. Russlands Aggression zerstört die europäische Friedensordnung, die wir seit Ende des Kalten Krieges in Europa gemeinsam gebaut haben, und zwar gemeinsam mit Russland. Jetzt versucht ein mächtiger Staat mit absoluter Gewalt seinen kleinen Nachbarn zu unterwerfen. Er bombardiert Häuser, Krankenhäuser und Schulen. Seine Soldaten vergewaltigen und erschießen auf brutalste Art und Weise Zivilisten.

Russlands Krieg verneint all das, wofür unser nach 1945 und nach 1989 geschaffenes Europa steht: Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. In seiner berühmten Erklärung vom 9. Mai 1950 – heute vor genau 72 Jahren – hat der damalige französische Außenminister Robert Schuman den Wesenskern der europäischen Integration benannt, wie er bis heute gilt: Krieg „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ zu machen. Und für uns Deutsche ist und bleibt die Erinnerung an das Kriegsende am 8. Mai 1945 und an die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg Mahnung und Verpflichtung: Dafür, das europäische Friedensprojekt und die Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarinnen und Nachbarn voranzutreiben. Präsident Putin dagegen missbraucht die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges in Mittel und Osteuropa, um Aggression und Verbrechen zu rechtfertigen.

Dem treten wir entschlossen entgegen, und zwar gemeinsam in der EU, in der NATO und den G7. Wir unterstützen die Ukraine massiv in ihrem Freiheitskampf, finanziell, humanitär, auch mit schweren Waffen. Weil wir in diesem Moment an der Seite der Opfer stehen müssen und nicht an der Seite des Aggressors. Und – ich betone das, weil hier heute viele Zuhörerinnen und Zuhörer aus östlichen Nachbarländern stammen – wir stehen fest an der Seite unserer mittel- und osteuropäischen Verbündeten. Als ich vor kurzem im Baltikum war, habe ich erlebt, was es für einen Unterschied macht, wenn die Bedrohung nicht so abstrakt ist wie vielleicht in einem Hörsaal in Frankfurt (Oder) oder in Berlin-Mitte. Wenn acht Kilometer weiter die Grenze nach Russland liegt, dann ist die Bedrohung ganz konkret und real, und zwar für alle Generationen und Gesellschaften. Und deshalb nimmt mein Land, nimmt Deutschland hier seine Verantwortung wahr, auch indem wir mehr Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an die NATO-Ostflanke schicken.

Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass Militär allein keinen Frieden bringt. Die Stärke unseres Europas geht weit über militärische, wirtschaftliche oder politische Mittel hinaus. Wenn wir Robert Schumans Worte ernst nehmen, Krieg undenkbar und materiell unmöglich zu machen, dann brauchen wir dafür wirtschaftliche, aber vor allem gesellschaftliche Vernetzung – und zwar gegenseitig und dauerhaft. Dann heißt das eben, dass Europa nicht nur eine Wirtschafts-, sondern vor allen Dingen eine Werteunion ist – und diese Werte uns gemeinsam tragen. Das heißt auch, dass das, was in den letzten Jahren fälschlicherweise geglaubt worden ist, die Illusion, dass wirtschaftliche Vernetzung allein schon Demokratisierung und Werte mit sich bringen, fatal war. Das haben wir jetzt mit diesem Angriffskrieg gesehen.

Wirtschaftliche Interessen und Werte gehören aufs Engste zusammen. Daher ist es mir wichtig, dass wir in diesen Tagen als Europäische Union enger zusammenrücken. Und zwar nicht nur im Verteidigungssinne, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, sondern vor allen Dingen gesellschaftlich. Es ist zentral, genau in diesem Moment zu sagen: Jetzt müssen wir Europa weiter vertiefen. Jetzt ist der Moment, in dem wir noch enger zusammenrücken müssen. Das heißt: Ein klares Wertefundament weiter zu bauen und uns nicht nur zu erweitern – auch das ist unsere Verpflichtung gegenüber dem westlichen Balkan –, sondern gemeinsam weiter zu vertiefen, so wie es seit Jahren an dieser Universität vorausgedacht wird. Dafür steht auch die Konferenz zur Zukunft Europas, die eben nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern vor allen Dingen Bürgerinnen und Bürger zusammenbringt und die in diesen Tagen zu Ende geht. Ziel ist es, das Friedensprojekt Europa für unsere Kinder und Enkelkinder weiter mit Leben zu füllen.

Denn unser gemeinsames Europa liegt nicht nur in den Händen von Regierungschefinnen, Ministerinnen, der Diplomatie oder Hauptstädten. Sondern sie liegt im Herzen der Menschen, im Herzen von Doppelstädten, wo engagierte Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen, Studierende und Lokalpolitiker Europa jeden Tag leben. Und zwar nicht nur in Schönwetter–Zeiten, sondern auch, wenn es mal regnet, wenn es mal schwieriger wird. Das sind die entscheidenden Momente, in denen Europa seine Bürgerinnen und Bürger braucht. Das sind die entscheidenden Momente, in denen die Bürgerinnen und Bürger Europas Haus tragen.

Sie haben das hier vor Ort in Frankfurt (Oder) und Słubice gerade wieder gezeigt, als viele Geflüchtete aus der Ukraine gekommen sind und beide Städte deutlich gemacht haben: Natürlich nehmen wir Geflüchtete auf. Es ist eine große Stärke, aus dem zu lernen, was ein paar Jahre davor noch nicht so gut funktioniert hat und dann zu sagen: Jetzt wissen wir, wie es klappt – und zwar gemeinsam, indem wir gemeinsam Geflüchtete versorgen, an Bahnhöfen registrieren. Ich kenne einige hier in diesem Raum und weiß genau, wie viele von Ihnen an den Bahnhöfen gestanden haben. In den allerersten Tagen, als noch nicht so ganz klar war, welcher Zug eigentlich von wo aus ankam – da haben hier die Menschen einfach angepackt. Dafür möchte ich „Danke“ sagen. Das ist unser Europa, das auf Menschlichkeit setzt, das nicht fragt: „Sind denn schon alle Formulare bereitgestellt?“ Sondern das einfach macht. Danke! Dziękuję! Дякую! Das ist unser gemeinsames Europa!

Deswegen hat es mich so gefreut, heute hier her zu kommen. Es gab diese Momente, gerade mit Blick auf die Pandemie, wo deutlich geworden ist: Ja, wir haben eine Menge gelernt. Ich erinnere mich noch, als in der Pandemie auf einmal die Grenze wieder geschlossen worden ist. Da gab es einen Beitrag im RBB, in dem man sehen konnte, wie sich die Menschen in den Armen lagen, als die Grenze dann wieder auf war.

Weil man in dem Moment, in dem man das Selbstverständliche nicht mehr hat, erst spürt, wie wichtig das eigentlich ist.

Das Leben hier vor Ort, wie in vielen anderen Doppelstädten, passiert auf beiden Seiten des Flusses oder der Grenze. Sie bringen Menschen tagtäglich zusammen. Mit dem „Salute-Zdravstvo“-Projekt in der Doppelstadt Nova Gorica-Gorizia, das autistische Kinder und ihre Eltern aus Italien und Slowenien betreut. Mit den deutsch-polnischen Sport-Meisterschaften der Grundschulen hier vor Ort in Brandenburg und auf der polnischen Seite, in der Doppelstadt Guben-Gubin. Oder eben auch, wenn Schülerinnen und Schüler über die Grenze hinweg wie in Frankfurt (Oder) und Słubice gemeinsam ihr Abitur machen können. Es sind vor allem die jungen Menschen, die Europa jeden Tag leben.

Ja, ich weiß, diese Arbeit ist nicht immer einfach. Es braucht dafür Polnisch-Unterricht auf der einen Seite der Grenze. Es braucht dafür weniger Bürokratie. Und es braucht vor allen Dingen eine Haltung. Aber, und das darf man nicht vergessen, wenn wir auf einer Konferenz sind, die auch über Brüche spricht: Natürlich gibt es auch immer Angst und Sorge. Und gerade in diesem Moment des Krieges halte ich es für wichtig, das auszusprechen und nicht zu negieren. Denn wir haben auch in dieser Doppelstadt, an unserer langen gemeinsamen Grenze, erlebt, was es bedeutet, wenn die Angst Oberhand gewinnt. Dass es nach der Osterweiterung 2004 erst einmal nicht normal war, dass man auf der anderen Seite arbeiten konnte, sondern ganz im Gegenteil. Wir erinnern uns noch an die Angst vorm vielbeschworenen „polnischen Klempner“. Die Situation führte damals erst einmal viele Leute in die Schwarzarbeit. Es dauerte, bis man erkannte, dass Arbeiten über die Grenze hinweg doch eigentlich eine absolute wirtschaftliche Stärke ist, die wir gemeinsam nutzen können.

Natürlich sind die letzten Jahre und Jahrzehnte auch mit gebrochenen Biografien einhergegangen. Und es ist wichtig, dass das hier angesprochen wird auf dieser Konferenz: Wie man von dem lernen kann, das nicht gut gelaufen ist. Und wie man davon lernen kann, wie Zivilgesellschaft geholfen hat, viele dieser Brüche zu überwinden. Daher ist es so wichtig, dass Sie bei dieser Konferenz die Menschen mit im Blick haben und das Augenmerk gerade auch auf die Schwächeren legen, so wie es der europäische Aufbauplan auch bei der Pandemie getan hat. Diese Konferenz der Bürgerinnen und Bürger bedient ein großes Bedürfnis danach, zuzuhören, ins Gespräch zu kommen und nicht zu sagen: „Ich habe hier schon die perfekte Antwort.“ Sondern bereit zu sein, auf die Idee des anderen zu hören und sich in dessen Sichtweise hineinzuversetzen. Das ist wichtig in einem Moment, in dem wir gemeinsam unser Friedensprojekt Europa weiterbauen werden und müssen.

Es geht dabei nicht nur um die Sicherheit vor Gewalt und Krieg, sondern die Sicherheit für die Freiheit unseres Lebens. Ich glaube, das ist ein wirklich wichtiger Punkt in diesen Tagen. Dass die Freiheit der Sicherheit unseres Lebens eben nicht nur Gewaltfreiheit bedeutet, dass keine Bomben mehr fallen. Sondern die große Errungenschaft – die viele Menschen gerade in Ostdeutschland und in Osteuropa erkämpft haben –, dass Freiheit bedeutet, nicht nur frei zu sein von Gewalt, sondern frei, seine Meinung sagen zu können, frei auf die Straße gehen zu können, frei demonstrieren zu können. Genau dafür steht Frankfurt (Oder)- Słubice.

Und wie damals, 2004 auf der Oderbrücke, bin ich mir sicher: Unser Europa des Friedens, der Freiheit und der Demokratie ist stark. Es wird aus den aktuellen Umbrüchen noch stärker hervorgehen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern wir müssen Europa gemeinsam weiterbauen, so wie wir es in den letzten Jahrzehnten gemeinsam getan haben. Und vor allen Dingen: Wir müssen es leben. Unser Europa. Jeden Tag.

Herzlichen Dank.

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