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Rede von Staatsminister Niels Annen zum 30. Jahrestag der Malteser-Hilfe für DDR-Flüchtlinge in Budapest: „Das Tor steht offen, mehr noch das Herz“

11.09.2019 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Auch ich heiße Sie ganz herzlich hier im Collegium Hungaricum willkommen. Vielen Dank Herr Botschafter Györkös, dass Sie für die Feierlichkeiten die Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Vielen Dank an den Malteser Orden für die Einladung.

1989 war ich 16 Jahre alt. Ich kann mich noch an den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher erinnern, wie er am 30. September 1989 vom Balkon der Deutschen Botschaft in Prag den Flüchtlingen aus der DDR zurief: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ Der Rest seiner Erklärung ging im Jubel von tausenden DDR-Flüchtlingen unter.

Für meine Generation war der Kalte Krieg allgegenwärtig. Die Angst vor der Zerstörung der Welt durch die Atombombe war greifbar und der „Eiserne Vorhang“ teilte Europa. Die Teilung Deutschlands mit der Berliner Mauer, die Sperranlagen an der inner-deutschen Grenze sowie der Schießbefehl waren für uns Alltag.

Während in Westdeutschland seit Anfang der 1980iger Jahre durch den Strukturwandel vielerorts hohe Arbeitslosigkeit herrschte, sperrte der realexistierende Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik seine Bürgerinnen und Bürger ein und bespitzelte sie in einem kaum vorstellbaren Ausmaß.

Reisen waren für die DDR-Bürger nur in die sozialistischen Bruderländer möglich. Und diese Länder errichteten ihrerseits wiederum Sperranlagen an den Grenzen zu Deutschland, Österreich, Griechenland, Türkei und Jugoslawien.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im März 1985 als Generalsekretär der KPdSU änderte sich in den Ländern des Ostblocks vieles. Die von Gorbatschow geprägten Begriffe von „Glasnost“ – Offenheit und „Perestroika“ – Umgestaltung sind uns allen noch heute ein Begriff.

Polen, Ungarn und die Sowjetunion setzten erste Reformen um. Die DDR sah sich selbst eher als „Insel der Orthodoxie“. Sie wollte vor allem ihre wirtschaftlichen Westkontakte ausbauen und versuchte gleichzeitig das Eindringen demokratischer Ideen und Werte in die DDR zu verhindern.

Ausbleibende Reformen, wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten, ein im Vergleich zum Westen niedriger Lebensstandard, fehlende Reisefreiheit und politische Repression führten zu einer zunehmenden Frustration der ostdeutschen Bevölkerung.

Deshalb stieg der Wunsch vieler Bürgerinnen und Bürger die DDR zu verlassen stetig an. Im Jahr 1983 verließen knapp 8.000 Menschen die DDR. In den Jahren 1987 und 1988 dann lag die Anzahl der Ausreiseanträge bereits bei jeweils über 100.000 pro Jahr.

Im Sommer 1989 flüchteten mehr und mehr DDR-Bürger in die westdeutschen Botschaften in Sofia, Warschau, Prag und Budapest. Dort wollten sie ihre Ausreise nach Westdeutschland als sogenannter „Zufluchtsfall“ erzwingen.

Wer nicht selbst vor Ort war, kann sich die Lage in den überfüllten Botschaften vermutlich kaum vorstellen. Am 30. September 1989 schrieb der Botschaftsmitarbeiter Thomas Strieder in sein Tagebuch über die Zustände in der Botschaft in Prag:

„Wir schaffen es nicht mehr, die Neuankömmlinge zu zählen. Es werden immer mehr, wir müssen die Erfassung aufgeben. Stand mittags 14Uhr: ca. 2.700 mit stark steigenden Tendenz.“

In dieser unübersichtlichen Lage kündigt sich dann auch noch kurzfristig Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Prager Botschaft an:

„BM (Bundesminister) kommt auf Vorplatz an mit PKW-Kolonne. […] BM sehr erstaunt, wohl nicht so dramatisch vorgestellt. Anflug von Entsetzen im Blick. […] BM sehr beeindruckt, angespannt, ergriffen, wir wissen nicht, was er sagen will. […] Überall liegen Leute auf dem Boden, besonders kleine Kinder, starker Gestank. BM geht auf Balkon. […]“

Wie stellte sich aber die Lage in Budapest und in Ungarn dar?

Bereits im Mai begannen ungarische Soldaten Teile der Grenzanlagen an der ungarisch-österreichischen Grenze zu demontieren. Sie taten das nicht zuletzt unter dem Eindruck Gorbatschows „Glasnost“ und „Perestroika“.

Am 27. Juni 1989 schnitten schließlich der ungarische Außenminister Horn und sein österreichischer Amtskollege Mock öffentlichkeitswirksam gemeinsam ein Loch in den „Eisernen Vorhang“.

Die Bilder dieses symbolischen Aktes gingen um die Welt und erreichten über das West-Fernsehen natürlich auch die DDR. Weitere Ausreisewillige machten sich auf den Weg nach Ungarn, um – so jedenfalls die Hoffnung – relativ gefahrlos in den Westen fliehen zu können.

Soweit die Theorie. In der Praxis war der Grenzzaun zwar demontiert, aber die Grenzpatrouillen waren verstärkt worden. Aufgegriffene DDR-Bürger wurden von den ungarischen Grenzern aber nicht in die DDR abgeschoben, sondern lediglich ins Landesinnere Ungarns zurückgeschickt.

In ihrer Not suchten diese oftmals Zuflucht in der westdeutschen Botschaft in Budapest. Am 13. August musste die Botschaft wegen Überfüllung mit 181 „Zufluchtsuchenden“ für den Publikumsverkehr geschlossen werden.

An dieser Stelle kam dann der Malteser Hilfsdienst in Spiel. Noch am 13. August entstand ein erstes Notaufnahmelager für weitere Ausreisewillige auf dem Grundstück der Zugliget-Pfarrei. Csilla von Boeselager war dabei die treibende Kraft. Ihre Tochter, Ilona von Boeselager, ist heute hier. Liebe Frau von Boeselager, seien Sie uns ganz herzlich willkommen!

Die deutsch-ungarische Malteserin hatte kurz zuvor mit dem hier ebenfalls anwesenden ehemaligen Pfarrer der Zugliget Gemeinde, Imre Kozma, den ersten Hilfsdienst der Malteser in einem Ostblock-Land gegründet. Seien auch Sie uns, lieber Herr Kozma, ganz herzlich willkommen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Malteserorden ist eine der ältesten Institutionen der westlichen Zivilisation. Seit seiner Gründung vor mehr als 900 Jahren hilft der Malteserorden Bedürftigen. Sein Leitbild lautet damals wie heute: „Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“.

Malteser helfen auf Grundlage des christlichen Gottes- und Menschenbildes. Sie helfen aus Nächstenliebe und vorurteilsfrei. Dabei ist es für die Malteser unerheblich, welche Hautfarbe oder welches Aussehen der Bedürftige hat, welche Sprache er spricht und auch, aus welchem Grund er in Not geraten ist.

So auch in diesem Sommer vor 30 Jahren in Budapest: Ab den 16. August kamen weitere Zelte und Ausrüstung der Malteser sowie Verpflegung nach Ungarn. Viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer des Malteser Hilfsdienstes nahmen ihren Jahresurlaub und betreuten die Flüchtlinge in Budapest und in weiteren Lagern und Unterkünften in Ungarn. Erst später erhielten die Malteser den offiziellen Auftrag der Bundesregierung die Flüchtlinge aus der DDR zu betreuen und zu versorgen.

Mit dem Paneuropäische Frühstück an der österreichisch-ungarischen Grenze erreichte die Fluchtbewegung einen neuen Höhepunkt. 600 DDR-Bürgerinnen und Bürger - darunter viele Familien mit kleinen Kindern - überrumpelten die anwesenden ungarischen Grenzer, stürmten an ihnen vorbei in Richtung Österreich.

In Folge dessen wuchs der Zustrom von Flüchtlingen in die westdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau weiter an.

Zählten am 5. September die Botschaften in Prag und Warschau bisher nur 347 bzw. 29 Ausreisewillige, sah die Lage in Ungarn ganz anders aus:

Über die verschiedenen Lager in Ungarn verteilt waren es bereits 5.300 Personen, die von den Maltesern betreut wurden. Und die Notunterkünfte füllten immer sich weiter.

Am 11. September schließlich kabelte die Botschaft Budapest an das Auswärtige Amt in Bonn, dass in den „mit ca. 7.500 bis über die Kapazitätsgrenze“ gefüllten Notunterkünften, die vom ungarischen Außenminister Horn angekündigte Ausreisemöglichkeit „mit großer Freude und Freude aufgenommen“ wurde. Ungarn öffnete selbstlos seine Grenze zu Österreich. Der „Eiserne Vorhang“ war gefallen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in den ereignisreichen Wochen im August und September 1989 fanden mehr als 55.000 DDR-Bürger bei den Maltesern Schutz, Trost und ein vorübergehendes Zuhause. Dafür gebührt dem Malteser Hilfsdienst und allen Beteiligten in Ungarn und Deutschland unser aller Dank.

Unser Dank gilt natürlich auch der damaligen ungarischen Regierung, die mit ihren Reformen und ihrem besonnen Handeln maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die deutsch-deutsche Fluchtgeschichte einen guten und unblutigen Ausgang genommen hat. Sie hat die friedliche Revolution in der DDR erst möglich gemacht.

Mit seiner Grenzöffnung hat Ungarn eine Vorreiterrolle gegenüber den Regierungen von Polen und der Tschechoslowakei eingenommen. Beide Länder stimmten der Ausreise von DDR-Flüchtlingen erst im Oktober 1989 zu.

Während die Mauer in Berlin noch stand und an der innerdeutschen Grenze weiterhin kein Durchkommen war, gelang, über den Umweg Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei, mehreren zehntausend DDR-Bürgern die Flucht in den Westen. Am 9. November 1989 fiel schließlich auch die Berliner Mauer.

Sehr geehrte Damen und Herren,

anlässlich des 20. Jahrestages des paneuropäischen Picknicks im Jahr 2009 dankte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede für die Hilfsbereitschaft der Ungarn, die nicht zuletzt von der damaligen Oppositions-bewegung und jetzigen Regierungspartei mitgetragen wurde.

Unzählige Ungarn haben sich 1989 in Solidarität mit den Flüchtlingen aus der DDR geübt. Ganz im Sinne der christlichen Nächstenliebe haben sie den DDR-Bürgern den Weg zur Grenze gewiesen oder Unterstützung und Unterkunft angeboten.

Kurzum: ohne Ungarn und die ungarische Bevölkerung stünden wir vermutlich jetzt nicht an dieser Stelle.

In seiner gestrigen Rede vor dem Deutsch-Ungarischen Jugendforum hat Minister Maas die Bedeutung von Europa betont:

Ein Europa der Solidarität. Ein friedliches Europa. Und ein freies Europa. Die Europäische Union steht für Demokratie, Freiheit, Toleranz und Menschenrechte.

Diese Errungenschaften sind weder selbstverständlich noch Gott gegeben. Sie geraten weltweit, aber auch zunehmend in Europa unter Druck.

Jetzt ist der Zeitpunkt für diese europäischen Werte und Errungenschaften einzustehen und sie – wo immer nötig – vehement zu verteidigen. Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind nicht verhandelbar.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Abschottung, Nationalismus und Populismus sind ein Irrweg. Stattdessen schaffen sie neue Mauern und Schranken in den Köpfen und im echten Leben. So werden Probleme nur verlagert und nicht gelöst.

An die dramatischen Tage vor 30 Jahren in Ungarn hat unlängst die Hamburger Band „Kettcar“ mit einem emotionalen und vielbeachteten Song und Videoclip erinnert. Der Geist des „Sommer 89“, so der Titel des Songs, in dem mutige Menschen „Löcher in den Zaun“ schnitten, sollte uns auch heute in unseren Entscheidungen leiten.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in dieser kritischen Phase nicht weniger, sondern mehr Europa brauchen. „Europe United“ - lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen.

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