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Rede von Außenminister Wadephul zur Eröffnung der Claude Lanzmann-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin

27.11.2025 - Rede

„Alles wird tot sein: die Augen, die Richter, die Zeit.“

Dieser Satz, geschrieben hat ihn Jean-Paul Sartre, beschreibt in aller Härte das Vergessenwerden. Durch das Verstummen aller Zeugen. Aller Instanzen, die uns erinnern oder richten können.

Gegen dieses Verstummen anzuarbeiten, das war das Werk von Claude Lanzmann.

Mit seinem Werk, mit seinem – und das formuliere ich ganz bewusst – mit seinem Lebenswerk, hat er gegen das Vergessen angearbeitet.

Er hat alles getan, um den Blick, das Urteil, die Zeit wachzuhalten.

Lanzmann hat, wenn man so will, die Augen der Menschen geöffnet, er hat sie erinnert. Und damit den Opfern eine Stimme gegeben.

Claude Lanzmann ist vor sieben Jahren gestorben. In diesem Jahr wäre er einhundert Jahre alt geworden.Heute feiern wir dieses Leben, sein Leben. Wir erinnern uns seiner – und seiner einzigartigen Arbeit.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wer den Anfang von „Shoah“ gesehen hat, der wird ihn nicht vergessen können.

Shimon Srebrnik, der als Teenager den Holocaust überlebte, gleitet dort auf einem Kahn einen Fluss entlang und singt. Am Ufer stehen Weiden. Sanfter Regen geht auf dem Wasser nieder. Es scheint als Idylle, die aber keine ist.

Denn der Ort, durch den der Fluss fließt, heißt Chelmno. Hier errichteten die Nationalsozialisten eines ihrer ersten Vernichtungslager. Hier ermordeten sie abertausende jüdische Männer, Frauen und Kinder.

Shimon Srebrnik sollte einer von ihnen sein. Er entkam nur knapp und schwer verwundet. Dass er überlebt hat, ist ein Wunder.

Wobei Claude Lanzmann wohl nicht von einem „Wunder“ gesprochen hätte. Für ihn war das Überleben im Holocaust allzu oft ein Ergebnis von Zufällen, Willkür oder unbegreiflichen Umständen.

Claude Lanzmanns weltberühmter Dokumentarfilm stellt sich der Herausforderung, das Unbegreifliche zu erzählen.

Und gleichzeitig das Unbegreifliche nicht zu erklären, nicht zu rationalisieren, sondern es in seinem unendlichen Grauen zu belassen:

Denn man kann keinen Sinn in die Vernichtung bringen.

Weil es keinen gibt.

An einer Stelle in seiner Autobiografie beschreibt Lanzmann, wie es zu dem Auftrag zum Film kam. Ein Freund aus dem israelischen Außenministerium rief ihn zu sich.

In seinem Büro erklärte er: „Es geht nicht darum, einen Film über die Shoah zu drehen, sondern einen Film, der die Shoah ist.“

Und so hat Claude Lanzmann einen Film geschaffen, der gar nicht erst versucht, das Morden in den Lagern darzustellen.

Er zeigt keine Archivaufnahmen.

Keine Bilder der Toten.

Keine Leichenberge.

Sondern die Gesichter der Lebenden, die Zeugnis ablegen.

Lanzmann lässt ihre Worte, ihre Pausen, ihr Schweigen – oder ihren Gesang, wie den von Shimon Srebrnik –, zum Bild der Shoah werden.

Allein das gesprochene Wort der Überlebenden wahrt die Würde der Toten.

„Shoah“ ist kein Film über Geschichte. Sondern eine Erfahrung der Erinnerung selbst.

Und damit ist dies der Film ein einzigartiges Werk, ein einzigartiges Dokument in sich selbst.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Und über Erinnerung möchte ich heute sprechen.

Weil ich glaube: Sie ist in Gefahr.

Lassen Sie mich ein Beispiel geben.

Eine Umfrage der Jewish Claims Conference, sie wurde zum Beginn dieses Jahres veröffentlicht, hat folgendes ergeben:

Zwölf Prozent der 18-29-Jährigen in Deutschland haben noch nie etwas vom Holocaust gehört.

In anderen Ländern ist es kaum besser. Ganz im Gegenteil.

In Österreich sind es 14, im Rumänien 15 und in Frankreich sogar 46 Prozent, die nichts mit den Begriffen Shoah oder Holocaust anfangen können.

Mich erschüttert das.

Diese Zahlen zeigen, dass Erinnern keine Selbstverständlichkeit ist.

Erinnerung darf keine Pflichtübung sein. Kein bloßes Ritual.

Claude Lanzmann schreibt ganz am Ende seiner Biografie: „Die Vergegenwärtigung wird die wichtigste Aufgabe meines Lebens gewesen sein.“

Die Vergegenwärtigung, das ist für mich eine Aufgabe für uns alle. Wir müssen sie besser für die Gesellschaft zugänglich machen. Im Moment funktioniert das nicht so, wie es sollte.

Denn wir erleben eine neue Qualität der Respektlosigkeit, ja Verachtung gegenüber den Orten des Terrors und der Entrechtung. Brandanschläge. Absägen von Gedenkbäumen. Schmierereien. Diebstahl von KZ-Toren.

Der Vandalismus in den Einrichtungen hat insbesondere in den Gedenkstätten zur Erinnerung an NS-Verbrechen in erschreckendem Ausmaß zugenommen.

Ich bin deswegen sehr froh, dass wir im Kabinett gerade das neue Gedenkstättenkonzept verabschieden konnten.

Dieses Konzept ist mehr als eine bürokratische Maßnahme. Es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wir wollen Erinnerungsarbeit systematisch fördern und Räume schaffen, in denen Geschichte nicht nur vermittelt wird. Sondern erlebt und reflektiert werden kann.

Damit wird das, was Lanzmann als zentrale Lebensaufgabe beschrieben hat, für uns alle zugänglich und erfahrbar – von der schulischen Bildung bis zur öffentlichen Erinnerungskultur.

Und das wiederum, ist unverrückbarer Pfeiler unseres demokratischen Selbstverständnisses.

Dieses Selbstverständnis hat Risse bekommen. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 sehen wir das überdeutlich.

Seitdem erleben wir in unserem Land und in anderen Ländern der Welt eine beschämende, eine inakzeptable Welle des Antisemitismus.

Und wir erleben, dass in den zwei Jahren seit diesem für Jüdinnen und Juden weltweit so einschneidenden Tag, Empathie und Solidarität mit Jüdinnen und Juden teilweise verdrängt wurde

von Unverständnis.

Von Unterstellungen.

Vom zunehmenden „Ja, aber…“.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Kritik, Unverständnis, vielleicht sogar Entsetzen über Regierungspolitik – egal welchen Landes – das will ich hier klar sagen, sind legitim.

Aber: Kritik an der jeweiligen israelischen Regierung darf nicht automatisch Kritik am Staat Israel sein.

Und erst recht nicht Kritik an allen Jüdinnen und Juden!

Gerade in Deutschland sind und bleiben wir in der Verantwortung, in der historischen Verantwortung, dazwischen zu trennen.

In der Pflicht, Verantwortung für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in unserem Land, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel unabhängig von der jeweiligen israelischen Regierungspolitik wahrzunehmen.

Immer wieder deutlich zu machen: Wir stehen fest und unerschütterlich an der Seite Israels und seiner Menschen.

Meine Damen und Herren,

Ich habe diese Rede mit einem Zitat von Sartre begonnen. Ein Zitat darüber, was passiert, wenn die Zeugen verstummen.

„Alles wird tot sein: die Augen, die Richter, die Zeit.“

Es ist an uns, das Erbe von Claude Lanzmann fortzuschreiben. Und das bedeutet für uns heute: Die Augen offen zu halten. Instanzen sprechen zu lassen. Und die Erinnerung lebendig zu halten. Denn jedes „Nie wieder“ verhallt, wenn der Adressat nicht weiß, was denn eigentlich „nie wieder“-kehren soll.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns heute hier treffen. Hier, im Jüdischen Museum, vereint in der Erinnerung, für unsere Zukunft, auch als Deutsche und Franzosen. Es freut mich ganz besonders, dass wir dies 80 Jahre nach Kriegsende gemeinsam begehen.

Darum bin ich auch dankbar, dass für dieses wichtige Projekt die Landecker-Stiftung und mein Haus, das Auswärtige Amt, gemeinsam zum materiellen Fundament beitragen durften.

Denn wir verspüren es in diesen Zeiten wachsenden Antisemitismus in unseren Ländern, in unserem Europa:

Erinnerung ist mehr als eine hohle Formel.

Sie ist eine Erfahrung, sie ist eine Verpflichtung.

Das schulden wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, gerade in dieser Zeit.

Das schulden wir unserem bewährten demokratischen Rechtstaat.

Damit die Augen sich nicht schließen, damit die Urteilsfähigkeit wach bleibt – und die Zeit lebendig.

Ich danke Ihnen ganz herzlich.

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