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Rede von Außenminister Wadephul anlässlich der Vereinbarten Debatte im Bundestag zu „80 Jahre Vereinte Nationen“
Im September kam die Welt in New York zusammen: 193 Delegationen an einem Ort - Staatschefs, Regierungschefinnen, Außenminister. Darunter Friedensuchende, Hoffnungsträger, Kritiker der Vereinten Nationen, Zweifler und auch Staaten, die das Völkerrecht mit Füßen treten. Sie alle sind zur Eröffnung der Generalversammlung der Vereinten Nationen gekommen, weil jeder von ihnen weiß: Das ist der Ort, an dem die Menschheit miteinander ins Gespräch kommt - zu den großen Fragen des Zusammenlebens auf unserem Planeten: Frieden, Menschenrechte, Entwicklung.
In New York wurde wieder sichtbar, was diese Organisation ausmacht.
Sie ist Spiegel und Bühne, aber auch Mahner, Treiber und Ermöglicher, Gradmesser, Grundnorm und Gestalter der Welt. Das ist der Sinn und das war das Ziel, als vor 80 Jahren, im Frühsommer 1945, die „United Nations Conference on International Organization“, wie es damals offiziell hieß, zusammentrat.
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust, die Katastrophen, die von deutschem Boden ausgingen, hatten nie dagewesene Verheerungen in der Welt hinterlassen. Es waren die Siegermächte, die Befreier, die den entscheidenden historischen Moment nutzten. Im Angesicht des Abgrundes hatte sich unter 50 anwesenden Staaten eine gemeinsame Überzeugung Bahn gebrochen: Wenn wir künftig den Frieden wahren wollen, brauchen wir verbindliche, gemeinsame, durchsetzbare Regeln. Frieden braucht eine Institution, die stärker ist als Hass, Misstrauen und Machtpolitik. Es war ein einmaliger Moment des kollektiven Lernens nach der gemeinsamen Erfahrung des Zivilisationsbruchs.
In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen klingt das an. Dort sprechen „wir, die Völker der Vereinten Nationen“. Sie verpflichten sich, Krieg zu verhindern, Frieden zu sichern und die Rechte und Würde aller Menschen zu achten.
Heute, 80 Jahre später, fühlt es sich nicht immer so an, als sei unsere Welt überall eine wirklich bessere geworden. Ich denke an den brutalen völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine - ein Krieg, durch den ganz direkt auch die europäische Sicherheitsordnung attackiert und die Zukunft unseres ganzen Kontinents infrage gestellt wird. Ich denke an den Nahen Osten, an Israel und Gaza, wo wir zum Glück jetzt Fortschritte erleben. Es braucht aber weiter einen gesicherten Waffenstillstand. Wichtige Aufgaben aus dem 20-Punkte-Plan müssen umgesetzt und der humanitäre Zugang zu Gaza weiter verbessert werden - auch ein Grund, warum ich letzte Woche erneut in Israel war. Und ich denke an Sudan, ein Land, in dem eine der größten menschengemachten humanitären Krisen herrscht und die Kämpfe zwischen Armee und RSF-Miliz eskalieren. Gut, dass der UN-Sicherheitsrat letzte Woche einstimmig die Gräueltaten der RSF verurteilt und ein sofortiges Ende der Gewalt gefordert hat. Das sind nur einige der Kriege und Krisen dieser Welt.
Man sieht: Die Vereinten Nationen werden gebraucht. Sie werden im Übrigen auch zur weiteren Bewältigung und zur Umsetzung des 20-Punkte-Plans benötigt. Ich plädiere ausdrücklich dafür, dass es ein starkes Mandat des UN-Sicherheitsrates für die Stabilisierungskräfte, die im Gazastreifen eingesetzt werden sollen, gibt. Das ist für die Vereinten Nationen eine neue Chance, zu zeigen, dass der UN-Sicherheitsrat handlungsfähig ist. Dieser Aufruf geht an alle Mitglieder des Sicherheitsrates, sich hier zu bewegen und zu zeigen, dass die Weltgemeinschaft handlungsfähig ist und in der Lage ist, diesen Konflikt zu bewältigen.
Heute, 80 Jahre später, sehen wir aber auch: Die Vereinten Nationen sind nicht frei von Schwächen. Manchmal sind sie schwerfällig, manchmal sogar handlungsunfähig. Zu häufig blockieren nationale Interessen das, was als Weltgemeinschaft gedacht war. Im Sicherheitsrat sehen wir immer wieder Vetos statt Verantwortung, Stillstand statt Schutz. Diese Kritik müssen wir offen benennen; denn sie entspringt der Enttäuschung über eine Institution, an die viele Länder der Welt, auch unseres, die höchsten Erwartungen richten.
Auch die Vereinten Nationen selbst sprechen über diese Kritik ganz klar. Generalsekretär Guterres hat die „UN80“ - 80 Jahre Vereinte Nationen - nicht vorwiegend als Anlass zum Feiern gesehen, sondern eine große Reforminitiative danach benannt, die wir mit allen Kräften unterstützen. Die Vereinten Nationen zeigen in der Form, in der sie sich jetzt präsentieren, immer noch das 20. Jahrhundert. Wir müssen diese Institution ins 21. Jahrhundert bringen; sie muss die Weltgemeinschaft des 21. Jahrhunderts abbilden. Das bedeutet insbesondere, dass der Globale Süden, insbesondere Afrika, mehr Gewicht in den Vereinten Nationen bekommen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Vereinten Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in den Himmel zu bringen, sondern um sie vor der Hölle zu bewahren. Dieser Satz des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld ist oft zitiert worden, und er erinnert uns bei allen enttäuschten Erwartungen daran, dass die Vereinten Nationen eine Erwartung bis heute erfüllt haben, nämlich diejenige, die den Gründerinnen und Gründern 1945 am klarsten vor Augen stand: die Verhinderung eines weiteren, atomar geführten Weltkriegs.
Trotz aller Mängel bleiben die Vereinten Nationen das einzige Forum, in dem alle Staaten dieser Welt miteinander reden. Die Charta der Vereinten Nationen bleibt das zentrale Regelwerk, auf das sich alle Staaten der Welt verpflichtet haben. Ohne die Vereinten Nationen gäbe es keine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, keine Agenda 2030, keine gemeinsamen Mandate für Blauhelmeinsätze, keine internationale, unparteiische humanitäre Hilfe für hunderte Millionen Menschen, kein Forum, das internationale Verantwortung für alle institutionalisiert - ein Vermächtnis, dem sich unser Land verpflichtet fühlt, auch aus einem ureigensten Interesse heraus. Denn Konflikte in dieser Welt, wie weit sie uns auch entfernt scheinen - davon bin ich überzeugt -, kommen in irgendeiner Form auch immer wieder bei uns an.
Deswegen ist es richtig, dass Deutschland bereit ist, in den Vereinten Nationen eine Führungsrolle zu übernehmen, die jetzt immer mehr von uns verlangt wird, dass wir uns nicht zurückziehen, wie manch anderer es tut, auch finanziell nicht, sondern dass wir engagiert bleiben bei den Vereinten Nationen. Das verbinden wir mit unserem Angebot zur Mitwirkung im UN-Sicherheitsrat. Wir kandidieren für einen nichtständigen Sitz 2027/2028, weil wir überzeugt sind: Wir gehören an diesen Tisch.
Wir wollen beitragen, dass aus den Worten „wir, die Völker der Vereinten Nationen“ wieder ein Versprechen wird, auf das weltweit vertraut wird.
Vielen Dank.