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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock vor dem VN-Sicherheitsrat zur Lage in der Ukraine
Vor 943 Tagen begann Russland seinen umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine.
943 Tage Leid. 943 Tage, an denen in Butscha Frauen vergewaltigt, an denen in der Ostukraine Menschen gefoltert wurden. 943 Tage, an denen Kinder verschleppt wurden. Das ist, wie wir heute hier gehört haben, unbestritten.
Nicht einmal der Botschafter Russlands bei den VN sagte, es sei nicht wahr. Er sagte, es geschehe zum Wohle der Kinder.
Schätzungen zufolge wurden mehr als 20 000 Kinder verschleppt.
Stellen Sie sich vor, das wären Ihre Kinder. Und man sagt Ihnen hier im Sicherheitsrat, es sei im Interesse Ihrer Kinder, Ihnen, den Müttern und Vätern, entrissen zu werden.
Ich hatte die Gelegenheit, mit einer der wenigen Heranwachsenden zu sprechen, die in die Ukraine zurückgeführt werden konnten. Mit Tränen in den Augen bat sie mich: „Bitte versprechen Sie mir, dass Sie nicht aufgeben. Dass Sie nicht schweigen, bis all die anderen Mädchen, die anderen Jungen, die kleinen Kinder zurück sind.“
Dieses Versprechen haben wir gegeben. Wir als europäische Nachbarn. Wir als Deutsche.
Mein Land war verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen auf dem europäischen Kontinent. Heute haben wir das Glück, wieder in Frieden leben zu können. Meine Generation konnte in einem wiedervereinten Deutschland, im Herzen Europas, leben, weil andere für uns da waren. Andere europäische Freunde und Partner.
Heute werden wir gelegentlich gefragt, ob der Krieg vielleicht schneller beendet wäre, wenn wir der Ukraine nicht helfen würden, sich zu verteidigen. Wenn wir einfach ignorierten, was vor sich geht.
Das können wir nicht tun, denn das Versprechen meines Landes lautet, dass wir immer für die Grundsätze der Vereinten Nationen einstehen werden.
Und wir werden keine Ruhe geben, bis diese Kinder wieder bei ihren Familien sind.
Dem russischen Botschafter, der nach seiner Redezeit hier stets den Saal verlässt, sage ich: Sie können sich gern selbst in die Tasche lügen.
Der stärkste Mann in Ihrem Land kann sich hinter entführten jungen Mädchen verstecken.
Die Welt aber täuschen Sie nicht!
Wir müssen nicht durch jeden dieser 943 Tage voller Grausamkeiten gehen, damit das klar wird.
Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, was am Sonntag hier in New York passiert ist. Russland wollte uns daran hindern, in den VN einen echten Durchbruch zu erzielen. Doch es ist gescheitert, weil eine große Mehrheit der Staaten sich um die Werte der Charta versammelt hat.
Dann lasen wir, was der stellvertretende russische Botschafter auf Twitter schrieb. Die Wahrheit ist, dass die Mehrheit aus dem, ich zitiere, „Dschungel“ nicht in der Lage war, die richtige Entscheidung zu treffen.
So spricht Putins Russland heutzutage über andere Länder: „der Dschungel“.
Und so spricht es über die Ukraine: „eine Schönheit“, die man sich mit Gewalt nehmen muss.
So verhalten sich Putins Soldaten, so verhält sich seine Armee.
Jeden Tag, seit 943 Tagen.
In jüngster Zeit erleben wir schwere Drohnenangriffe und Raketen, die direkt auf Kraftwerke gerichtet sind.
Die Erzeugung von Strom und Wärme ist in der Ukraine zu zwei Dritteln zerstört. Und das, obwohl wir uns bemühen, das Land bei der Luftabwehr zu unterstützen. Russland agiert damit durchaus nicht wahllos, sondern weil ein weiterer Winter bevorsteht.
Bei minus 15 Grad, wenn es keinen Strom gibt, wenn die Heizung nicht funktioniert, wenn die Wasserleitung gefroren ist: Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dann gehen Menschen an der Kälte zugrunde.
Und darum wende ich mich einmal mehr an all unsere Freunde auf der ganzen Welt: Wir verstehen durchaus, dass einige von Ihnen glauben, dass die Dinge sich verbessern, wenn wir die Ukraine nicht länger mit Waffen unterstützen, wenn wir uns vielleicht schlicht neutral an beide Seiten richten.
Aber die Wahrheit ist doch, dass es ohne Luftabwehr in der Nähe der verbleibenden Stromdrehkreuze in der Ukraine keinen Strom mehr gäbe. Dann wäre alles zerstört.
Präsident Selensky hat den russischen Präsidenten im Sommer an den Verhandlungstisch eingeladen. Er bot einen Dialog an, und Wladimir Putin antwortete nur mit noch mehr Aggression. Im Juni lud die Ukraine Russland zur zweiten internationalen Friedenskonferenz ein. Putin antwortete mit der Bombardierung eines Kinderkrankenhauses in Kyjiw.
Und aus eben diesen Gründen sind wir der Überzeugung, dass wir der Ukraine weitere Luftabwehr bereitstellen müssen. Zum Schutz von Kinderkrankenhäusern.
Und aus eben diesen Gründen sind wir dankbar, dass immer mehr unserer Partner überall auf der Welt darüber nachdenken, wie dieser Krieg beendet werden kann. Wir brauchen das. Wir brauchen ein Ende dieses Krieges.
Das kann jedoch nicht bedeuten, dass wir tatenlos zuschauen, solange der Krieg noch nicht beendet ist. Solange Putin sich nicht an den Verhandlungstisch setzt. Dass wir tatenlos zuschauen, wie Russland auch noch die andere Hälfte der Ukraine zerstört.
Wenn wir über Frieden sprechen, dann muss es aus unserer Sicht um einen gerechten und dauerhaften Frieden gehen.
Über Frieden zu sprechen bedeutet, dass die Ukraine die Gewissheit haben muss, dass ein Ende der Kampfhandlungen nicht eine weitere Runde von Vorbereitungen in Russland bedeutet. Auch nicht in der Ukraine oder in Moldau. Und auch nicht in Polen, wie wir von unserem EU-Kollegen gehört haben.
Über Frieden, gerechten und dauerhaften Frieden, zu sprechen, bedeutet, dass der Fortbestand der Ukraine als freies und unabhängiges Land gewährleistet sein muss. Es bedeutet Sicherheitsgarantien.
Das ist schwer. Jeden Tag sterben Menschen.
Aber, Exzellenzen, am Sonntag haben wir gezeigt, was wir erreichen können, wenn wir unsere Kräfte bündeln. Wir haben gezeigt, dass jene, die unsere Charta zerstören wollen, damit nicht durchkommen, wenn wir geschlossen für sie einstehen.
Lassen Sie uns auch hier für die Charta einstehen, auch für die Ukraine.
In demselben Geist, für einen gerechten und dauerhaften Frieden, für die Ukraine, für Europa, für die ganze Welt.