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„Europa ist der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik, und Italien ist einer der Gründungspfeiler der Europäischen Union.“
Aus Anlass ihrer heutigen Reise nach Rom sprach Außenministerin Annalena Baerbock mit der italienischen Tageszeitung La Stampa.
Frage: Europa ist mit steigenden Energiepreisen konfrontiert und braucht Gas. Können Sie sich vorstellen, dass die deutsche Bundesnetzagentur grünes Licht für Nord Stream 2 gibt? Was werden Sie tun, um zu verhindern, dass Energie und Gas von Russland als „Waffe“, wie Sie es genannt haben, eingesetzt werden?
Außenministerin Annalena Baerbock: Wir haben als neue Bundesregierung in unserem Koalitionsvertrag klar festgehalten, dass für energiepolitische Projekte in Deutschland – das bedeutet also auch für Nord Stream 2 – europäische Vorgaben eingehalten werden müssen. Das ist gegenwärtig nicht der Fall, der Zertifizierungsprozess ist daher derzeit ausgesetzt. Und natürlich hat Nord Stream 2 auch geopolitische Implikationen. Dies ist der Grund, warum wir uns in der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ mit der US-Regierung darauf verständigt haben: Sollte Russland Energie als Waffe benutzen oder weitere aggressive Handlungen gegen die Ukraine begehen, werden wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern effektive Maßnahmen zu ergreifen. Zu dieser Erklärung stehen wir. Und zugleich ist es unsere politische Verantwortung, dass sich jeder Mensch in Europa, gleich welchen Einkommens, Strom und eine warme Wohnung leisten kann – auch deshalb ist es so wichtig, die Unabhängigkeit unserer europäischen Energieversorgung zu stärken.
Frage: Sollte Europa sofort gemeinsam mit Moskau und Washington an den Verhandlungstisch über die Ukraine treten oder zu einem späteren Zeitpunkt nach einer grundsätzlichen Einigung zwischen Russland und den USA?
Baerbock: Klar ist, dass es keine Entscheidung über die Sicherheit in Europa ohne Europa gibt. Der einzige Weg aus der Krise führt über Dialog. Daher setzen der französische Außenminister und ich uns dafür ein, zu Gesprächen im Normandie-Format zurückzukehren. Gerade weil die Lage an der ukrainischen Grenze besorgniserregend ist, darf es zu keiner weiteren militärischen Eskalation kommen. Der wichtigste Garant für die Sicherheit der Ukraine sind Erfolge am Verhandlungstisch.
Frage: Sie haben gesagt: „Wir sind kein Einwanderungsland, wir sind eine Einwanderungsgesellschaft“ und haben daran erinnert, dass Deutschlands wirtschaftliche Erfolgsgeschichte auch auf dem Beitrag der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter beruht. Die Regierung Merkel wurde dafür kritisiert, dass sie Migranten in Deutschland aufnimmt, an den europäischen Außengrenzen jedoch zulässt, dass internationales Recht durch die wahllose Zurückweisung (“push-back”) in Griechenland und Weißrussland verletzt wird. Was wird die neue Regierung anders machen?
Baerbock: Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands und Europas beruht darauf, dass Menschen mit all ihren Ideen, Biographien und ihrer Tatkraft zu uns gekommen sind. Zugleich können Volkswirtschaften in einer vernetzten Welt nur erfolgreich sein, wenn sie Vielfalt als Stärke begreifen. Was Flucht angeht, kann und will ich mich nicht damit abfinden, dass an Europas Außengrenzen immer wieder Menschen sterben. Es ist von Berlin aus leicht, mit dem Finger auf diejenigen Staaten zu zeigen, die die Last der Verantwortung an den Außengrenzen tragen, sei es an der Landgrenze zwischen Polen und Belarus oder für die Mittelmeergrenzen Italiens und Griechenlands. Aber wenn wir als Europäer wollen, dass unsere Regeln und Werte Geltung haben, müssen wir alle bereit sein, Solidarität und Verantwortung zu zeigen. Als neue Bundesregierung möchten wir unseren Teil dazu beitragen und daran arbeiten, dass es einen fairen Verteilungsmechanismus in Europa gibt und damit Länder wie Italien und Griechenland nicht alleingelassen werden. Zugleich wollen wir legale Wege nach Europa und Deutschland ausweiten, wie zum Beispiel durch humanitäre Visa aber auch über ein modernes Einwanderungsgesetz. Und wir werden die Arbeit an einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik unterstützen, in der jedes Land seine Verantwortung übernimmt. Es ist klar, dass das kein einfacher Weg wird. Aber wir müssen und wollen ihn als Bundesregierung gehen.
Frage: Wie kann die neue Regierung die anderen Länder überzeugen, die Aufnahme einer Migrantenquote zu akzeptieren?
Baerbock: Wenn wir an den EU-Außengrenzen Humanität und Ordnung gewährleisten wollen, dann muss spiegelbildlich innerhalb der EU auch Solidarität und Fairness gelten. Ich mache mir keine Illusionen: Das betrachtet jeder Mitgliedstaat immer noch zu sehr durch seine eigene nationale Brille. Aber eines hat die Pandemie doch überdeutlich gezeigt: Unser gemeinsamer europäischer Raum ohne Binnengrenzen ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Einigung - niemand in Europa will darauf wieder verzichten. Und das notwendige Gegenstück zur Personenfreizügigkeit ist eben eine gemeinsame Migrationspolitik. Und solange wir keine gemeinsame Position aller 27 zu einem Verteilmechanismus haben, dürfen wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Stattdessen sollten wir, wie in vielen Fällen zum Glück geschehen, mit denen vorangehen, die nicht nur dazu bereit sind, sondern auch Europas Verständnis als Wertegemeinschaft leben. Ich bin froh, dass wir hier mit Italien an einem Strang ziehen.
Frage: Erst kam der Quirinale-Vertrag mit Paris. Jetzt ist Bundeskanzler Scholz nach Rom gereist. Gibt es ein neues europäisches Gleichgewicht mit einem Dreieck Berlin-Paris-Rom?
Baerbock: Europa ist der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik, und Italien ist einer der Gründungspfeiler der Europäischen Union. Und um unser Europa noch stärker und zukunftsfester zu machen, wollen wir starke Impulse für mehr Soziales, für mehr Klimaschutz, für eine stärkere Rolle Europas in der Welt. Mir ist wichtig, dass Deutschland, Italien und Frankreich sehr eng zusammenarbeiten. Am Ende kommt es aber nicht nur auf die Beziehungen zwischen den Hauptstädten an, sondern darauf, dass die Menschen in unseren Ländern spüren, dass Europa ihnen etwas bringt: Frieden, wirtschaftliche Chancen, Freiheit und Sicherheit auch für zukünftige Generationen.
Frage: Was sieht der Aktionsplan zwischen Italien und Deutschland vor, über den Sie und der italienische Außenminister Di Maio am Rande des G7-Treffens in Liverpool im Dezember gesprochen haben? In welchen Bereichen wollen die beiden Länder ihre Zusammenarbeit vertiefen?
Baerbock: Deutschland unterhält in keinem anderen Land so viele kulturelle Institutionen wie in Italien, mit keinem anderen Land ist unsere Volkswirtschaft über Lieferketten so eng verwoben. Luigi di Maio und ich gehören zu einer Generation, für die Frieden in Europa, Reisen und Studieren im Ausland immer selbstverständlich war. Die Corona-Pandemie hat uns sehr deutlich vor Augen geführt, welche Auswirkungen es hat, wenn Grenzen geschlossen werden- wenn ein Handwerker aus Südtirol nicht mehr zu seinen Kunden in Bayern kommt oder eine Studentin aus Hamburg ihren Erasmus-Aufenthalt in Florenz abbrechen muss. Wir haben aber auch erleben dürfen, was grenzüberschreitende Solidarität bedeutet, als Intensivpatienten aus Bergamo in Leipzig behandelt wurden und Patienten aus Freising in Bozen. Mit dem deutsch-italienischen Aktionsplan wollen wir unser gemeinsames Potenzial sichtbarer machen, nicht nur auf Ebene der Politik, sondern überall dort, wo Menschen sich engagieren - etwa im Bereich „Young Leaders“ oder bei Städtepartnerschaften.
Frage: Deutschland hat gerade den G7-Vorsitz übernommen, und Bundeskanzler Scholz hat bekräftigt, dass Deutschland Klimavorreiter sein will. Wie kann die von Deutschland geführte G7-Runde die laufenden Klimaverhandlungen beeinflussen?
Baerbock: Als starke Wirtschaftsnationen und Wertegemeinschaft muss der Anspruch der G7 sein, die Welt positiv zu gestalten - zu handeln, bevor es zu spät ist. Das ist nirgends so offensichtlich wie in der Klimakrise, die zum größten Treiber von Konflikten in der Welt geworden ist. Jedes Zehntelgrad weniger an Erderwärmung ist ein Beitrag zur Lebensqualität zukünftiger Generationen und damit zum Frieden. Die G7 können eine echte Vorreiterrolle einnehmen, gerade auch mit Blick auf COP 27 im November. Ein Beispiel sind Energie- und Klimapartnerschaften mit Entwicklungsländern, für Investitionen in Klimaschutz, die gleichzeitig wirtschaftliche Entwicklungschancen bringen.
Frage: Und worauf wollen Sie als Frau sich als G7-Präsidentin konzentrieren?
Baerbock: Es macht einen Unterschied, ob an einem Verhandlungstisch keine, eine oder wie beim letzten G7-Außenministertreffen drei von sieben Frauen sitzen. Schließlich sind Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung. Daher wird bei zentralen Themen unseres G7-Vorsitzes wie dem Klimaschutz, dem weltweiten Impfen gegen Covid, aber auch bei der Stärkung von Demokratien immer mitgedacht werden, welche Auswirkungen Maßnahmen auf Mädchen und Frauen haben, und ob sie gleichberechtigt teilhaben. Frauenrechte sind nicht nur Menschenrechte, sondern oftmals auch Gradmesser für den Zustand von Demokratien.
Frage: Wie bringt die „werteorientierte Außenpolitik“ Deutschlands nationale Interessen und den Schutz der Menschenrechte gegenüber China in Einklang?
Baerbock: Für uns sind Werte und Interessen kein Gegensatz, vielmehr hängt beides unmittelbar zusammen. Mit unserem europäischen Wirtschafts- und Wohlstandsmodell werden wir langfristig wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir auch die Werte eines menschenwürdigen Umgangs mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von fairen Handelsbeziehungen verteidigen. Wenn nur europäische Unternehmen Arbeitnehmerrechte und faire Wettbewerbsstandards einhalten müssen, Firmen aus Drittstaaten wie China aber nicht, haben unsere Unternehmen einen absoluten Wettbewerbsnachteil. Das können wir auch aus ökonomischen Interessen nicht akzeptieren. Ich bin überzeugt, dass wir als Europäerinnen und Europäer die Stärke unseres Binnenmarkts viel bewusster nutzen müssen, sonst diktieren uns andere ihre Bedingungen.
Fragen: Uski Audino, La Stampa