Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
„Wir brauchen ein Eurogruppen-Budget“
Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit der Welt am Sonntag (18.06.2017). Themen: Lage des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel, Start der Brexit-Verhandlungen, Europäische Union, G20-Gipfel in Hamburg, transatlantisches Verhältnis, Lage in Nahost, NATO, Tod von Helmut Kohl.
Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit der Welt am Sonntag (18.06.2017). Themen: Lage des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel, Start der Brexit-Verhandlungen, Europäische Union, G20-Gipfel in Hamburg, transatlantisches Verhältnis, Lage in Nahost, NATO, Tod von Helmut Kohl.
***
Herr Minister, der Korrespondent der Welt, Deniz Yücel, sitzt seit mehr als drei Monaten in der Türkei unschuldig in Einzelhaft. Die Türken werfen ihm „Aufwiegelung der Bevölkerung“ und „Unterstützung von Terrorismus“ vor. Wie beurteilen Sie die Lage?
Wir sind froh, dass wir inzwischen regelmäßigen konsularischen Zugang haben und dass es ihm ganz gut geht. Aber man darf sich keine Illusionen machen. Zwischen Deutschland und der Türkei hat es sich so verhärtet, dass mit einer raschen Freilassung nicht zu rechnen ist. Unsere Hoffnung ist, dass die angekündigte Entscheidung des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes schnell kommt – und dann auch für die Türkei eine gesichtswahrende Lösung ist. In der Vergangenheit hat die Türkei gut mit dem Gerichtshof kooperiert.
Wären in dieser Lage Sanktionen ein Mittel? Die Türkei wünscht den Zutritt zur Zollunion..
Ich habe den Vertretern der türkischen Regierung gesagt: Wir sind bereit, mit Euch die Zollunion zu modernisieren. Aber das setzt voraus, dass wir weg kommen von dieser Megaphon-Diplomatie. Die Türkei muss zu rechtsstaatlichen Verfahren zurückkehren. Das bedeutet, dass sie die inhaftierten Journalisten freilassen muss. Am Ende des Tages werden wir die Situation nur lösen, wenn sich die Türkei bewegt. Wir wollen wieder auf die Türkei zugehen können. Aber wir können das nicht, ohne dass die Türkei bereit ist, Veränderungen ihrer Politik vorzunehmen.
Am kommenden Montag sollten eigentlich die Brexit-Verhandlungen beginnen. Wäre Ihnen eine gestärkte Theresa May als Verhandlungspartnerin lieber gewesen als eine geschwächte?
Klar ist, dass sich die Konservativen in Großbritannien regelrecht verzockt haben. Sie haben erst mit den Emotionen der Bürger in Großbritannien gespielt, ‚Fake News‘ über Europa erzählt und die Menschen im Unklaren darüber gelassen, welche Konsequenzen das alles haben wird. Dann haben sie mit vorgezogenen Neuwahlen gezockt, weil sie dachten, sich durch taktische Tricks eine größere Mehrheit verschaffen zu können. Herausgekommen ist die jetzige schwierige, ja unmögliche Situation, ohne klare Mehrheiten und klare Verhandlungsstrategie. Bei uns wären die längst gegangen, die ein solches Chaos anrichten. Wir werden fair verhandeln. Und fair heißt, wir möchten die Briten so nah wie möglich an der EU halten, nur niemals um den Preis, dass wir damit die EU 27 spalten.
Und welchen Brexit bekommen wir jetzt? Hart oder weich?
Vielleicht gibt es jetzt eine Chance, einen sogenannten „weichen Brexit“ hinzubekommen. Das hieße, dass Großbritannien im Binnenmarkt bliebe. Aber das heißt dann natürlich auch Arbeitnehmerfreizügigkeit. Und Akzeptanz des Europäischen Gerichtshofes oder zumindest ein gemeinsames Gericht, das aus Europäern und Briten besetzt ist und den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Prinzip folgt. Mal ganz abgesehen davon, dass es natürlich das Beste wäre, wenn Großbritannien gar nicht austreten würde. Aber danach sieht es derzeit nicht aus. Wir aber wollen die Tür für die Briten offen halten.
Auch Emmanuel Macron hat gesagt, die Tür zum Exit vom Brexit stehe offen. Halten Sie es für möglich, dass die Briten sich das noch einmal anders überlegen?
Ich bin Sozialdemokrat. Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Ich denke, dass alles möglich ist. Die jungen Leute in Großbritannien haben gezeigt, dass sie die Nase voll haben davon, dass mit ihrer Zukunft gespielt wird. Sie wissen, dass ihre Zukunft in Europa liegt.
Sie haben schon vor Jahren mit Emmanuel Macron gemeinsame Papiere geschrieben. Kommt jetzt die europäische Wirtschaftsregierung?
Ich glaube, dass es in Europa mit Sicherheit Veränderungen geben wird. Wir merken, dass der gerade verstorbene Helmut Kohl Recht hatte: Er hat immer gesagt, eine gemeinsame Währungsunion ohne politische Union und gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik – das geht schief. Er hatte allerdings gehofft, dass das von alleine kommt, weil alle einsehen, dass es anders nicht geht. Das ist leider nicht geschehen. Jetzt werden wir es machen müssen, denn die makroökonomischen Unterschiede innerhalb der Euro-Länder sind immer noch zu groß. Es bedarf der politischen Steuerung. Solange letztlich jeder machen kann, was er will, bleibt die Währungsunion ein Risiko.
Und Sie glauben, die Deutschen sind bereit, einen Teil der Budgethoheit abzugeben?
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt nimmt seit vielen Jahren den Euro-Staaten einen Teil der Budgethoheit. Das ist auch gut und richtig so. In einem gemeinsamen Währungsraum kann nicht jeder machen, was er will. Stellen Sie sich mal vor, Deutschland hätte nach dem Zweiten Weltkrieg die D-Mark eingeführt aber alle Bundesländer hätten ihre eigene Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik gemacht. Das wäre auch schief gegangen. Wir brauchen ein Eurogruppen-Budget, damit wir auch in Wachstum investieren können und nicht nur der Rotstift regiert..
Neue Frage: Verlieren wir also weiter an Souveränität?
Im Gegenteil: Wir werden wieder an Souveränität gewinnen, wenn wir stärker zusammen arbeiten. Das ist ja gerade keine Aufgabe von Souveränität, sondern im Gegenteil ihre Rückgewinnung, jener Souveränität, die wir alleine als Nationalstaaten in der Welt nicht mehr haben, wenn Asien, Afrika, Lateinamerika immer größer werden. Wir werden kleiner. Wir verlieren Einfluss und Souveränität, wenn wir alleine sind. Wir gewinnen das zurück, wenn wir europäisch unterwegs sind.
Wie wollen Sie euroskeptische Wähler mitnehmen in ihr neues Europa?
Indem man aufräumt mit dem Unsinn, der seit Jahrzehnten erzählt wird: Dass wir als Deutsche die Lastesel der Europäischen Union seien. Wir sind nicht Netto-Zahler, wir sind Netto-Gewinner. Bei uns sind Millionen Jobs davon abhängig, dass es unseren Nachbarn in Europa gut geht und sie unsere Produkte kaufen können. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, 10 Prozent nach China, 10 Prozent in die USA. Deshalb glaube ich: Man kann die Menschen überzeugen, dass jede Investition in Europa eine Investition in unsere eigene Zukunft ist. Und bei allen Schwächen, die Europa hat: Schauen Sie sich um in der Welt. Europa ist ein unglaublicher Schatz. Es gibt keine andere Region auf der Welt, in der man so friedlich und demokratisch zusammenleben kann. Die Menschen spüren das, gerade weil es anderswo so turbulent zugeht.
Also kommt in Kürze ein Schuldenschnitt für Griechenland?
Wir alle in Europa - auch CDU und CSU - haben 2015 nach schwierigen Verhandlungen versprochen, dass 2018 Schuldenerleichterungen kommen. Seither haben die Griechen ein Reformprogramm hinter sich, das wir uns in Deutschland nie im Leben trauen würden. Und trotzdem sind die Griechen immer noch Freunde Europas und Verfechter der europäischen Idee. Ich finde, jetzt haben die Griechen auch ein Recht darauf, dass wir sagen: Ok, Ihr habt Wort gehalten und Euer Land reformiert. Jetzt halten wir auch Wort und erleichtern Euch auch ein Stück weit die Schuldenlast.
Am 7./8. Juli tagt der G-20-Gipfel in Hamburg. Erwarten Sie mehr als nur eine laue Abschlusserklärung?
Selten war das Treffen der Staats- und Regierungschefs der großen Wirtschaftsnationen so wichtig wie jetzt. Ich hoffe auf Fortschritte bei Handelsfragen, Signale im Klimaschatz und mehr Hilfen für Afrika.
Finden Sie es in Ordnung, wenn Bürger in Hamburg friedlich gegen Trump auf die Straße gehen?
Ja, natürlich. Jeder Bürger kann in diesem Land gegen alles und jeden demonstrieren, solange es friedlich geschieht. Auch gegen den neuen US-Präsidenten Donald Trump. Aber zum G-20-Treffen kommen auch Regierungschefs, in deren Ländern es um die rechtsstaatliche Ordnung ungleich schlechter bestellt ist als in den USA. Man kann sich gelegentlich schon fragen, warum es eigentlich immer nur die USA sind, die derartigen Widerstand erregen. Bei allem Ärger und allen Differenzen, die wir heute mit der aktuellen Regierung der USA haben, gilt doch eines: Mit den USA verbindet uns Deutsche und Europäer mehr als mit jeder anderen Region der Welt.
Erkennen Sie bei Trumps Regierung einen Paradigmenwechsel mit Blick auf Russland: Erst Sympathien, nun Sanktionen?
Es wäre gut gewesen, hätte die neue US-Administration mit Russland einen Neustart, neue Kontakte, neue Verhandlungen gesucht. Ohne Russland können wir die Konflikte in Syrien, Libyen, in der Ukraine und anderswo nicht überwinden. Barack Obamas Versuch, Russland zu demütigen, war ein großer Fehler. Ich hoffe nach wie vor, dass Washington diesen Fehler korrigiert. Derzeit sieht es aber eher danach aus, dass Washington und Moskau sich eher voneinander abwenden.
Wie beurteilen Sie die Krise am Golf? Fördert Katar den Terrorismus wirklich stärker als Saudi-Arabien?
Aus der gesamten Region sind finstere Organisationen und Terror gefördert worden, nicht nur von einem Staat. Oft nicht unbedingt durch die Regierungen, sondern durch Privatpersonen und Stiftungen, aber geduldet durch die Staaten. Teilweise geschieht das heute noch. Wenn die Krise am Ende etwas Gutes bewirken kann, dann hoffentlich, dass alle diese Terrorfinanzierung wirksam unterbinden. Ansonsten haben wir in den letzten Tagen eine gewisse Beruhigung der Lage erlebt. Ich hoffe, das bleibt so.
Die Lage am Golf ist labil, Deutschland aber liefert Waffen dahin. Müssen wir das nicht komplett einstellen?
Welche Waffen liefern wir denn?
Maschinengewehre nach Oman.
Schauen Sie sich mal die Anzahl an. Da geht es in der Regel um sehr geringe Mengen zum Schutz auch der Regierung. Oman gehört zu den stabilsten und friedlichsten Ländern der Region.
Maschinenpistolen an die Vereinigten Arabischen Emirate.
Auch in sehr überschaubarem Umfang und zum Schutz der Königsfamilie.
Hubschrauber nach Saudi-Arabien.
Unbewaffnete Hubschrauber! In Wahrheit liefern wir fast gar nichts mehr. Was wir noch tun, entstammt aus europäischen Verträgen, an die wir uns halten müssen. Leider dürfen wir nicht veröffentlichen, was für Anträge wir bekommen. Die Öffentlichkeit sieht nur, was genehmigt wird. Ich versichere Ihnen: Es ist ein Bruchteil der Anträge. Patrouillenboote an die Saudis zu liefern, ist übrigens auch nichts Verwerfliches. Auch Saudi-Arabien hat das Recht, seine Küste zu schützen. Panzer und Kleinwaffen liefern wir nicht. Ich sperre mich z.B. seit 2013 erfolgreich gegen Bau und Lieferung von 250.000 deutschen Sturmgewehren an Saudi-Arabien, wie sie CDU und FDP mal genehmigt haben.
[...]
Sie müssen doch, wie in der Nato beschlossen, den Verteidigungsetat erhöhen, mittelfristig auf 2 Prozent des BIP.
Das will Herr Trump. Aber die NATO hat nur beschlossen, dass wir nicht weiter kürzen und uns in Richtung der zwei Prozent bewegen sollen. Niemand hat etwas gegen eine verbesserte Ausrüstung der Bundeswehr, das trägt die SPD mit. Denn zwölf Jahren lang ist die Bundeswehr zum Sparschwein der Nation gemacht worden, verantwortet von Ministern der CDU/CSU. Aber eine nahezu Verdoppelung des Wehretats ist doch völliger Unsinn. Vor allem dann, wenn das Geld im Sozialetat gespart werden soll, wie das prominente CDU-Politiker fordern. Was wir eigentlich brauchen, sind Abrüstungsinitiativen. Helmut Schmidt hat den NATO-Doppelbeschluss herbeigeführt, der lautete: Wir sind verteidigungsbereit, aber bieten auch Abrüstungsverhandlungen an. Am Ende hat das zum Verbot landgestützter Atomraketen in Europa geführt. Genau das ist gerade wieder in Gefahr. Heute rüstet die ganze Welt auf. Martin Schulz und die SPD werden sich deshalb engagiert für Abrüstung einsetzen. Deutschland soll Friedensmacht sein und nicht Rüstungsweltmeister. CDU und CSU sehen das leider völlig anders.
[...]
Ihre Partei, Ihre Generation hat gehadert mit dem „ewigen Kanzler“ Helmut Kohl. Was war seine größte Leistung? Was bleibt für Sie von Kohl, was ist sein Vermächtnis?
Helmut Kohl war ein großer deutscher Staatsmann, ein deutscher und zugleich ein europäischer Patriot. . Deutsche Einheit und europäische Wiedervereinigung sind untrennbar miteinander verbunden. Helmut Kohl hat das gleich nach dem 9. November, dem Fall der Mauer verstanden und in die Tat umgesetzt, mit vollem Einsatz, mit großer Weitsicht und mit Fortune. Und man wünschte sich heute seine europäische Weitsicht statt der oftmals vorherrschenden Kleinmütigkeit.
Der Sommerferien nahen. Hat ein Außenminister eine Chance auf Sommerurlaub?
Wenn Sie meine Frau fragten, würde sie sagen: Der Kerl ist noch nie ununterbrochen an unserem Ferienort gewesen. Immer war irgendetwas. Als Umweltminister gingen Atomkraftwerke kaputt, als Wirtschaftsminister gab’s Ärger mit Tengelmann...
Schöne Aussichten für den Sommer!
Meine Frau sagt: Diesmal baust Du 14 Tage Sandburgen für Deine Töchter statt Luftschlösser in Berlin.
Interview: Sascha Lehnartz und Daniel Friedrich Sturm.