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Rede von Außenminister Steinmeier in der Debatte im Deutschen Bundestag zum Thema „Zehn Jahre EU-Osterweiterung“ am 09.05.2014

09.05.2014 - Rede

--es gilt das gesprochene Wort--

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall: Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine wegweisende Rede über das Zusammenwachsen der europäischen Interessen, eine Rede über die Vision eines vereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Menschen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steckte die Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kalten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konnten viele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch dieses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst ein Jahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter dem Zustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebieten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Industrielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jahren, den Worten Schumans von der Vereinigung der europäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt haben?

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oder wenig Hoffnung die Menschen damals hatten: Schumans Hoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wir heute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schumans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch die Hoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheit und Frieden - für die, die damals nicht daran glauben konnten oder nicht daran glauben durften.

Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede haben wir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen der friedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatz oder den Danziger Werften. Wieder waren es mutige Menschen, die möglich machten, wovon niemand zu träumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Rostock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhang niederrissen und damit die Wiedervereinigung unseres Kontinents erst möglich machten.

Diese historische Chance hat Europa, haben die Europäer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am 1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nicht nur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Familiengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätte man nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten von Spaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnen dürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung behielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Oberhand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen, gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Gedanke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistung derjenigen, die die europäische Wiedervereinigung möglich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfen mit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignieren in der aktuellen Situation.

Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nur größer geworden, sondern sie hat durch die Osterweiterung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Geschichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem ist Europa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher an Kultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspektiven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vielerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte man eine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen. Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraft seit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals ‑ Sie erinnern sich ‑ bei weniger als der Hälfte des EU-Durchschnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, das am Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführt hat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spitzenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser eigenes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Horrorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass laut Deutscher Industrie- und Handelskammertag Hunderttausende von neuen Jobs - manche sprechen sogar von bis zu einer Million - in Deutschland durch die Osterweiterung entstanden sind.

Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einem Tag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschlichen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie viel Kraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neuausrichtung ‑ politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsleben der Familien.

Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in den neuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Veränderungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das ist für Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz, gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukraine zu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzuführen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieser osteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach 2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen.

Das sage ich, obwohl ich weiß ‑ wir haben erst kürzlich hier im Hohen Hause darüber debattiert ‑, dass dieser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierige Zeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt der europäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben, aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Krise im Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine. Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wir mit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges konfrontiert.

Das Vertrauen ‑ ebenso wie die Zustimmung ‑ in Robert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel einen Dämpfer erlitten ‑ jedenfalls in der Wahrnehmung ganz vieler.

In diesem Wahljahr 2014 ‑ gerade im Augenblick ‑ werden die großen Problemstellungen der Europäischen Union wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kann Europas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfen wir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wie wird dieses Europa demokratischer und transparenter? Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase der außenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusammensteht?

Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf die letzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlich viele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen: Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, als viele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Unwettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäische Haus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben.

Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Europa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischen Krise nicht zusammengehalten hätten?

Wie stünden wir eigentlich da ‑ das müssen wir uns in Deutschland selbstkritisch fragen ‑, wenn wir dem Rat derjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstand vorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oder anderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wir heute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlich mit derselben Geschlossenheit auftreten können, wenn wir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelt hätten?

Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wiederauferstehen, muss Europa im Innersten zusammenstehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer, die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zu ihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer Solidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunion beigetreten.

Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfach über Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn es sie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Ländern die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit gefährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrnehmung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wir eben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangen dürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht erledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbst wenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wir können aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die solche dringenden Reformen anpacken, können sich unserer Unterstützung sicher sein.

28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Millionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüssel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeit und auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen.

Nur ‑ um auf Schuman zurückzukommen ‑: Er hat vor 64 Jahren gesagt: Der Friede der Welt ‑ und der in Europa ‑ kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.

Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen Anstrengungen stehen, um den Frieden zu bewahren und die erneute Spaltung Europas zu verhindern.

Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchen Phase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auch an einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheit ergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzudenken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf diesen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wissen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen, die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühe wert.

Vielen Dank.

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