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„Die Welt so sehen, wie sie ist“
In einem Beitrag für die Welt am Sonntag nimmt Außenminister Westerwelle Stellung zu aktuellen internationalen Entwicklungen. Die Zukunft Europas sei dabei die „Gretchenfrage der deutschen Politik“.
Beitrag von Außenminister Guido Westerwelle in der „Welt am Sonntag“, erschienen am 28.08.2011
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I. Welt im Umbruch
„Wir leben in der Globalisierung.“ Das wird schon so lange und so oft gesagt, dass wir meist nicht weiter darüber nachdenken. Dabei krempelt die Globalisierung nicht nur unser tägliches Leben in rasender Geschwindigkeit um – über Smartphones, Internet, soziale Netzwerke. Die Globalisierung verändert auch die Welt jenseits unserer Grenzen so sehr, dass alte Gewissheiten nicht länger tragen.
Wir gedenken dieser Tage des Mauerbaus vor fünfzig Jahren. Die schwarz-weißen Fotos jener dramatischen Tage sind Bilder aus einer Welt, die es so nicht mehr gibt. Niemand wird sagen, dass Politik damals einfach war. Die Sorge um den Frieden, die Sorge um die Freiheit der Menschen im Osten, die schwierigen Entscheidungen in Bonn, in Berlin und in den Hauptstädten der Verbündeten haben es im August 1961 den Verantwortlichen wahrlich nicht leicht gemacht. Aber die Welt von damals hatte ein organisatorisches Grundmuster. Der Ost-West-Konflikt wirkte wie ein Magnetfeld, in dem sich die Späne an den beiden Polen ausrichteten. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden enorme Kräfte freigesetzt: Im Osten unseres Kontinents die Kräfte der Freiheit, des Aufbruchs, der demokratischen Selbstbestimmung. In Afghanistan und anderswo die Kräfte einer gewalttätigen Ideologie, die sich vor zehn Jahren in den furchtbaren Terroranschlägen des 11. September Bahn brach und unsere Welt seitdem in Atem gehalten hat. In China und vielen anderen Gesellschaften außerhalb der westlichen Welt eine wirtschaftliche Dynamik, die die Statik des internationalen Systems inzwischen grundlegend verändert.
Die Welt von heute begegnet uns mit einer ungekannten Unübersichtlichkeit. Globale Krisenentwicklungen wie die Veränderungen des Klimas oder die Volatilität der vernetzten Finanzmärkte verlangen nach neuen, globalen Antworten. Vermeintliche Jahrhundertkatastrophen fordern uns inzwischen mehrmals jährlich heraus: die Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan, die gewaltigen Überflutungen in Pakistan, das verheerende Beben auf Haiti, in diesen Wochen die Dürre- und Hungerkatastrophe am Horn von Afrika. Aber nicht bei allen neuen Entwicklungen überwiegt die Sorge. So ist der „Arabische Frühling“, der in Tunesien und Ägypten Anfang dieses Jahres autoritäre Regime durch den Freiheits- und Selbstbehauptungswillen der eigenen Bevölkerung überwunden hat, eine der hoffnungsvollsten Überraschungen, seit die Menschen im Osten unseres Landes und unseres Kontinents die Mauer eindrückten.
Der Fluss der Ereignisse scheint sich immer weiter zu beschleunigen. Medienberichterstattung in Echtzeit rund um den Globus fordert der Politik ständiges Multitasking ab. Das ist aufreibend und schwierig genug. Allzu häufig verlangt sie aber auch nach schnellen und einfachen Lösungen. Diese sind rar. Mehr denn je zuvor braucht es Abstimmung und Kompromisssuche mit immer mehr nationalen und internationalen Akteuren, das heißt eine Geduld beim Bohren dicker Bretter, die unsere atemlose Zeit nur ungern aufbringt. Wer in dieser Zeit großer Umbrüche politische Verantwortung trägt, der muss mit der wachsenden Komplexität der Herausforderungen und mit dieser Unübersichtlichkeit umgehen und in ihr dennoch einen Kurs weisen, der die grundlegende Werteorientierung unserer Gesellschaft wahrt und zugleich unseren Interessen unter den sich ständig verändernden Bedingungen Rechnung trägt.
II. Europa als Fundament deutscher Außenpolitik
In diesen Monaten ist es eine besonders interessante Erfahrung, von den Rändern Europas einen Blick auf das Projekt der europäischen Integration zu werfen. Ob in den Ländern des Balkans, bei den unterdrückten Menschen in Weißrussland oder den gerade um Demokratie ringenden Menschen Nordafrikas und der arabischen Welt: „Europa“ ist Beispiel, Modell, Ziel, Maßstab, Hoffnung. Bisweilen naiv, bisweilen mit falschen Erwartungen, manchmal allzu verklärend. Aber dieser Blick von außen auf unsere Europäische Union hat etwas Heilsames inmitten unseres täglichen Krisenmanagements.
Dieses Europa ruht auf zwei Säulen. Es ist die Friedensunion, die nach der „Katastrophe des Nationalismus“ (François Mitterrand) und seinen zerstörerischen Kriegen die „deutsche Frage“ nach der Einbindung des größten Landes in der Mitte Europas endlich überzeugend beantwortete. Und es ist die Wohlstandsversicherung für uns Europäer in einer Welt, in der unser relatives Gewicht durch den Aufstieg neuer Mächte abnimmt. Nur gemeinsam, im Kooperationsmodell, haben wir zum Frieden gefunden auf unserem Kontinent. Aber Europa ist weit mehr als eine Lehre aus der Vergangenheit. Wir müssen es aus den Herausforderungen der Zukunft neu begründen. Wenn wir die EU nicht hätten, müssten wir sie heute erfinden als Antwort unseres Kontinents auf die Globalisierung. Nur gemeinsam werden wir globale Ordnungspolitik in unserem Sinne künftig mit gestalten können, von Handelsregeln über die Achtung der Menschenrechte bis zu Fragen von Frieden und Sicherheit. Europa ist nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern Zukunftsgewinnung.
Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ist mit Verzögerung zu einer Verschuldungskrise der Staaten geworden, nicht nur in Europa. Ohne ein starkes wirtschaftliches Fundament, ohne wettbewerbsfähige, innovative Volkswirtschaften kann Europa nicht glaubwürdig international auftreten. Deshalb ist es so wichtig, unser eigenes Haus in der Euro-Zone in Ordnung zu bringen. Hier sind in der Vergangenheit viele Fehler gemacht worden. Aber nicht die Einführung des Euro war falsch, sondern die Aufweichung der vereinbarten Stabilitätskriterien für die gemeinsame Währung. Nicht der Euro ist unser Problem, sondern die wenig verantwortungsvolle staatliche (und auch private!) Ausgabenpolitik in vielen Ländern. Deshalb gibt es heute auch keine einfache, schnelle, am besten „radikale“ Lösung, und wenn sie noch so oft gefordert wird. Deshalb gehen die Vorwürfe ins Leere, Deutschland hätte Europa und dem Euro durch mehr „Großzügigkeit“ zu Beginn der Griechenlandkrise die Krise der letzten achtzehn Monate ersparen können. Deutschland hat es an Solidarität nicht fehlen lassen. Aber entscheidend für die Gesundung der europäischen Volkswirtschaften ist, dass das Ruder herumgeworfen wird in Richtung Haushaltsdisziplin, Konsolidierung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Für diese schmerzhafte Kurskorrektur verdienen Griechenland, Portugal, Irland und andere unsere Solidarität und unseren Respekt. Als wüssten wir in Deutschland nicht darum, wie süß das Gift der Staatsverschuldung ist. Wir haben uns durch eine Schuldenbremse im Grundgesetz selbst eine bittere, aber notwendige Medizin verabreicht – gerade noch rechtzeitig, möchte man hinzufügen. Europa gibt sich in dieser Krise die Instrumente, die notwendig sind, um unsere gemeinsame Währung zu schützen. Denn es geht gleichzeitig um mehr als um den Euro. Es geht um das politische Projekt Europa. Die Krise rüttelt damit auch am Fundament der deutschen Außenpolitik.
Die Zukunft Europas ist die Gretchenfrage der deutschen Politik. Sie rührt an den Kern deutscher Staatsräson. Die richtige Antwort besteht nicht in Teilungsfantasien zwischen hartem „Nord-Euro“ und weichem „Süd-Euro“, wie sie gelegentlich entworfen werden, und auch nicht in einem Rückzug Deutschlands, der nicht nur unseren Wohlstand gefährden würde, sondern auch die auf gegenseitigem Vertrauen aufgebaute europäische Friedensordnung. Renationalisierung ist ein gefährlicher Irrweg. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir müssen jetzt den Schritt gehen, den wir in Maastricht noch nicht gehen konnten, hin zur stärkeren Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik, mit klaren Regeln, die einer neuen Verschuldungskrise einen „politikfesten“ Riegel vorschieben.
Wir stehen an einer doppelten Weggabelung. Wählen wir mehr oder weniger Europa als Antwort auf die Krise? Ich bin fest davon überzeugt, dass unser vitales eigenes Interesse uns den Weg zu einem „mehr“ an Integration weist. Dann aber stellt sich zweitens die Frage „Wer geht mit?“ Alle EU-Mitgliedstaaten sind eingeladen. Aber wer nicht mitgehen will, der soll die anderen nicht aufhalten dürfen. Nicht bei der gemeinsamen Währung, nicht bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese Vertiefung – und Differenzierung – ist die europapolitische Gestaltungsaufgabe der kommenden Jahre. Frankreich und Polen sollten bei dieser Gestaltung unsere unverzichtbaren Partner sein, nicht exklusive, aber unbedingte Partner.
Der „European way of life“ ist nicht nur an der Peripherie der EU attraktiv, dort, wo sie sich wünschen, bald als Mitglied dazugehören zu können. Wirtschafts- und Karrierechancen gibt es heute in vielen Ländern der Welt. Aber in Europa lebt man auch sicher, in sauberer Luft, mit Rechten als Verbraucher, mit der Freiheit zur Entfaltung der ganzen Persönlichkeit. Wahrlich genug, um attraktiv zu sein für die vielen, die es nach Europa zieht. Haben wir keine Angst davor, sondern seien wir stolz auf diese Anziehungskraft unserer europäischen Kultur und Gesellschaften. Attraktiv ist Europa nur als offene, liberale Gesellschaft, die auf die Kraft ihrer eigenen Ideen vertraut und sich auch jenseits ihrer Grenzen im Osten wie im Süden für Frieden, Sicherheit und Wohlstand stark macht. Deshalb ist es so wichtig, den dumpfen und den defensiven, den abschottenden und abwehrenden Tönen entschieden entgegenzutreten, die im Innern Europas damit werben, dass durch ein Zurückdrehen der Uhren, ein Wiedererrichten alter Hürden und Schlagbäume die Dinge irgendwie heimeliger, überschaubarer, einfacher werden würden. Wir dürfen die Reisefreiheit von Schengen nicht infrage stellen, und wir müssen uns selbstkritisch fragen, ob der behauptete Zugewinn an Sicherheit wirklich überall den Preis wert ist, den wir für unsere oft abschreckend wirkende Visumspolitik zahlen.
III. Friedenspolitik und globale Sicherheit
Die Präambel des Grundgesetzes gibt uns auf, „in einem geeinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik, weil sie sich im umfassenden Sinne für mehr Sicherheit einsetzt.
In besonderer Weise tun wir das seit Beginn dieses Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dem Gremium, dem diese Aufgabe in der UN-Charta ausdrücklich zugewiesen ist.
Deutschland scheut sich nicht davor, internationale Verantwortung zu übernehmen. Dazu kann auch – als Ultima Ratio – der Einsatz militärischer Gewalt gehören. Es war diese Bundesregierung, die das deutsche Engagement in Afghanistan auf eine neue Grundlage gestellt und dafür auch zusätzliche Soldaten an den Hindukusch geschickt hat. Das war Anfang 2010 alles andere als eine einfache Entscheidung angesichts der Gefahren für Leib und Leben unserer Soldatinnen und Soldaten dort. Selten spürt man die Last der Verantwortung so drückend wie bei den Trauerfeiern anlässlich der Überführung gefallener Bundeswehrangehöriger.
Deutschland hat sich seit der Wiedervereinigung an zahlreichen Auslandseinsätzen beteiligt, und keine Bundesregierung kann klaren Kopfes weitere Einsätze in der Zukunft ausschließen. Aber Deutschland bleibt in seiner Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich einer Kultur der militärischen Zurückhaltung verpflichtet. Wir werden diese schwerste Entscheidung, die man als Politiker treffen kann, auch künftig in jedem Fall sorgfältig und im Bewusstsein der Verantwortung für die uns anvertrauten Soldaten und unserer internationalen Verpflichtungen abwägen. Der „responsibility to protect“, der Schutzverpflichtung gegenüber bedrohten Zivilbevölkerungen, muss eine realistische „capability to protect“ gegenüberstehen. Andernfalls führt uns das, was als Friedenspolitik gedacht ist, in eine Sackgasse. Wir sind froh, dass es den Libyern auch mithilfe des internationalen Militäreinsatzes gelungen ist, das Gaddafi-Regime zu stürzen. Wir haben Respekt für das, was unsere Partner zur Erfüllung von Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates geleistet haben. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern alles tun, was in unserer Macht steht, um das libysche Volk bei der anstehenden schwierigen Transformation zu unterstützen.
Der Frieden in Deutschland und unsere Sicherheit werden heute kaum noch in Europa selbst bedroht. „Klassische“ Konflikte wie an der Grenze zwischen Kosovo und Serbien sind heute eher die Ausnahme. Globale Terrornetzwerke, die sich Zerfallsprozesse staatlicher Autorität wie im Jemen oder in Somalia zunutze machen, die um sich greifende Piraterie oder lokale und regionale Konflikte mit globalen Auswirkungen haben weitgehend ihren Platz als Hauptbedrohungen eingenommen. Zugleich entstehen neue Gefahren: Ausbreitung der Wüsten, steigende Meeresspiegel, extreme Wetterveränderungen – sie alle können konfliktträchtige Flüchtlingsströme auslösen. Das hohe Bevölkerungswachstum in den am wenigsten entwickelten Staaten und die oft chaotische Urbanisierung verschärfen bestehende Konflikte, die Konkurrenz um knapper werdende Nahrungsmittel und Ressourcen nimmt an Schärfe zu. Mit der entgrenzenden Wirkung der Globalisierung wachsen die Gesundheitsrisiken durch Pandemien, haben Finanz- und Wirtschaftskrisen das Potenzial, ganze Staaten zu destabilisieren und bedrohen uns neue Risiken im Internet. Das 21. Jahrhundert beginnt als Zeitalter asymmetrischer Bedrohungen.
Vor dem Hintergrund solcher komplexer Herausforderungen muss Sicherheitspolitik heute global agieren und zugleich in erster Linie eine zivil ausgerichtete Präventionspolitik sein. Hier setzen wir mit dem Konzept vernetzter Sicherheit an, mit einem Mix aus Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftlichen Partnerschaften. Friedliche Streitschlichtung und Interessenausgleich, die Förderung grenzüberschreitender Zusammenarbeit, von ländlicher Entwicklung, von Bildungs- und Wissenschaftskooperation, von Verwaltungs-, Polizei- und Staatsaufbau sind wichtige Instrumente einer solchen vorausschauenden Politik. Wo immer möglich und sinnvoll, stellen wir diese Politik in den Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen. Sicherheitspolitik für das 21. Jahrhundert ist eine Sicherheitspolitik mit zivilem Primat.
Das transatlantische Bündnis mit den USA und Kanada bleibt der bewährte Anker deutscher Sicherheitspolitik. Wir haben in der Nato ein neues strategisches Konzept vereinbart, das uns auf die neuen Herausforderungen ausrichtet. Anknüpfend an die Initiativen von Präsident Obama, haben wir darin auch Abrüstung und Rüstungskontrolle als Ziele der Nato verankern können. Die nuklearen Gefahren sind seit dem Ende des Kalten Krieges trotz mancher Erfolge bei der Eindämmung durch die Verbreitung von Waffen- und Raketentechnologien deutlich gestiegen. Die unkontrollierte Weiterverbreitung von atomaren Waffen und Material ist heute eine der größten Bedrohungen unserer Sicherheit. Nichtverbreitung und Abrüstung ist unter den Bedingungen der Globalisierung eine Überlebensfrage. Deshalb haben wir gemeinsam mit neun anderen Staaten eine „Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative“ gegründet, um gemeinsam dafür zu arbeiten, dass Massenvernichtungswaffen nicht zum Fluch der Globalisierung werden. Deshalb arbeiten wir im „E3+3“-Format gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien, den USA, China und Russland für eine transparente Lösung des Nuklearstreits mit dem Iran, dessen Verhalten nicht nur die Region, sondern das gesamte Nichtverbreitungsregime destabilisiert.
IV. Alte Partnerschaften festigen, neue Partnerschaften begründen
Europa ist unser Fundament, die Nato und die transatlantische Partnerschaft unser fester Sicherheitsanker, das Existenzrecht Israels Teil deutscher Staatsräson. Diese Bindungen zu pflegen, zu bewahren und zu vertiefen ist nicht nur bewährte Tradition, sondern Verpflichtung deutscher Außenpolitik aus ureigenstem Interesse. Mit diesen engen Partnern gibt es ein dichtes Geflecht von Besuchen, Austauschprogrammen, Gesprächskreisen und Konsultationsforen. Wir haben mit ihnen über Jahrzehnte eingeübt, wie wir aus unterschiedlichen Ausgangspositionen Kompromisse schmieden und gemeinsame Lösungen entwickeln.
Zugleich hat sich die Welt seit 1989 dramatisch verändert. Damals war Deutschlands Bruttoinlandsprodukt noch eineinhalb Mal so groß wie das Chinas. Heute ist Chinas Anteil am Welt-BIP doppelt so hoch wie der Deutschlands. Vor hundert Jahren lebten etwa 1,7 Milliarden Menschen auf der Erde, darunter 65 Millionen Deutsche. 1990 waren es etwa 5,3 Milliarden Menschen weltweit. Heute stellt Deutschland mit seinen gut achtzig Millionen Einwohnern kaum mehr als ein Prozent der inzwischen über sieben Milliarden Erdenbürger. Tendenz weiter abnehmend. Die EU der 27 kommt mit ihren 500 Millionen Einwohnern immerhin noch auf gut sieben Prozent der Weltbevölkerung. Die demografische Entwicklung der Welt wird uns mehr fordern, als wir heute wahrhaben wollen, von der Bildungs- bis zur Außenpolitik.
Den lebendigsten Eindruck der dramatischen Verschiebungen im internationalen Gefüge bekommt man in den boomenden, pulsierenden Großstädten der aufstrebenden Gesellschaften. In China, Indien, Brasilien ist der Wille, die Zukunft für sich zu gewinnen, fast mit Händen greifbar. Aber auch in Vietnam, in Mexiko, in Kolumbien, in der Türkei ist eine Dynamik spürbar, aus der nicht nur Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten erwächst, sondern auch der Wunsch und Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache auf der internationalen Bühne.
Die „BRICS-Staaten“ – Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika – waren vor wenigen Jahren noch ein kaum bekanntes Kürzel der Investmentbanker, die in ihnen allein aufstrebende Märkte identifizierten. Unsere Exporte dorthin haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht, die Exporte unserer französischen, britischen und italienischen Nachbarn ebenso. Über ihren wirtschaftlichen Aufstieg sind diese Staaten zu einer politischen Kraft herangewachsen, ohne die wir keine globalen Lösungen mehr aushandeln und vereinbaren können. Nicht einmal Europa und die USA gemeinsam können das noch. Hinter dieser Gruppe entstehen weitere demografische und wirtschaftliche Schwergewichte, die immer stärker auch politische Mitsprache einfordern. Ihr Aufstieg verändert die Weltpolitik fundamental. Die alte Ordnung wankt, eine neue ist noch nicht entstanden und nur in Umrissen erkennbar.
„Global governance“, das heißt die Fähigkeit, den zunehmend komplexeren, globaleren Problemen auch eine globale Problemlösungskapazität entgegenzusetzen, wird nicht auf einen Schlag mit einer goldenen Formel – etwa der Gründung der G 20 – gelingen. Die Vereinten Nationen verfügen über eine enorm wertvolle weltumspannende Legitimität, aber sie sind nur so stark, wie die Mitgliedstaaten es ihnen gestatten, und sie spiegeln im Sicherheitsrat nicht die Welt von heute wider. Mit Geduld, Respekt und Offenheit aufzubauende strategische Partnerschaften mit den neuen Kraftzentren der Welt sind deshalb zwingend notwendige Bausteine für eine effektive „global governance“.
In vielen dieser Länder verfügen wir über erhebliches Vertrauenskapital, bei manchen können wir an historische Verbindungen anknüpfen, bei anderen enge Handels- und Investitionsbeziehungen aufbauen. Diese Beziehungen wollen wir verbreitern und auf politische Themen ausweiten – Frieden, Sicherheit, Rechtstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Internetfreiheit – und zu einem Netzwerk im Dienste unserer Werte und Interessen verknüpfen. Manches wird davon gelingen. Denn die Globalisierung ist nicht nur ein immer schnellerer ökonomischer Wettbewerb, sondern auch eine Globalisierung von Werten und Lebensstilen. Bei anderen werden diese Versuche scheitern. Nicht alle werden in gleichem Maße Wertepartner werden wie etwa Japan oder Südkorea. Wir verstecken unsere Werte nicht. Wir können aber auch nicht nur mit jenen zusammenarbeiten, die sie voll und ganz teilen. Wir sind es uns selbst schuldig, uns für Menschenrechtsverteidiger überall auf der Welt einzusetzen. Seien wir zugleich realistisch genug, um zu erkennen, dass wir unsere Werte nicht aufzwingen können, und selbstbewusst genug, um auf ihre Attraktivität und Anziehungskraft zu vertrauen. Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte sind Ideen mit enormer Kraft.
Es liegt in unserem elementaren Interesse, dass die neuen Kraftzentren zu echten „Gestaltungsmächten“ werden, dass sie globale Ordnungspolitik nicht als westliches Konstrukt verstehen, sondern zu ihrem eigenen Ziel machen. Diese neuen Partnerschaften sind die Konsequenz daraus, dass sich die Welt verändert hat. Wenn wir sie mit gestalten wollen, dann müssen wir die Welt so sehen, wie sie heute ist, nicht länger so, wie sie war, als wir aufwuchsen. In den kommenden zehn Jahren wird sie sich noch einmal so sehr verändern wie seit der Wiedervereinigung. Darauf müssen wir uns einstellen: in unserem Denken, in unserer Präsenz, in unserer Außenpolitik. Aber nicht allein national, sondern auch europäisch, wo wir uns vorgenommen haben, gerade diese strategischen Partnerschaften besonders in den Blick zu nehmen. Europa muss sein eigenes Haus in Ordnung bringen. Dann hat es genug Ausstrahlungskraft und Attraktivität, um seiner Stimme auch im vielstimmigeren Chor der Welt von morgen Gehör zu verschaffen. Als echte politische Union kann Europa selbst globale Gestaltungsmacht sein.
V. Deutsche und europäische Verantwortung
Wir leben in einer Schwellenzeit. Die technologische Innovation verändert die Art und Weise, wie wir untereinander kommunizieren. Sie verändert auch die Welt um uns herum in rasantem Tempo. Und sie verändert das Bild, das wir uns von der Welt machen und wie wir nach Lösungen suchen. In dieser Welt von heute haben mehr Menschen die Chance auf Freiheit, Menschenrechte, Bildung, Frieden und Wohlstand als je zuvor. Dafür, dass es in der Welt von morgen noch mehr sind, lohnt es sich zu streiten und zu arbeiten. Diesem Ziel ist deutsche und europäische Außenpolitik verpflichtet.